Special zum dreijährigen Jubiläum | Drei Jahre – Eine kurze Weltgeschichte

Hanna schlenderte eine bekannte Melodie summend die letzten Meter der Einfahrt zum Eingang hoch. Der Sandsteinbau war etwas in die Jahre gekommen und hatte eine Reinigung dringend nötig, doch die Gegend war trotzdem schön, besonders wegen dem nahegelegenen Park. Drei Steinstufen und eine aufgescheuchte Taube später stand sie unter dem Vordach, suchte die Klingelschilder ab und drückte schließlich auf den Knopf. Der Summer erklang nur wenige Sekunden später und Hanna stieß die schwere Tür auf, bevor sie im Inneren des angenehm kühlen Treppenhauses verschwand.
Das Holz der Treppe knarrte unter ihren Füssen, als sie diese mit lässigen Schritten erklomm und Hanna hoffte, dass John nicht im obersten Stockwerk wohnen würde – sie war bislang nie hier gewesen. Erleichtert stellte sie fest, dass er schon im ersten Stock aus seiner Wohnung trat und ihr zuwinkte. Kaum war sie auf seiner Höhe angelangt, schloss sie ihren lange verlorenen Freund in die Arme und die beiden begrüßten sich freudig.
„Ah, tut das gut dich zu sehen“, flüsterte er ihr ins Ohr und meinte dann: „Komm herein, hier draußen ist es kalt.“ Er war noch der Alte, fröstelte selbst im Hochsommer.
Als Hanna eintrat, fiel ihr sofort ins Auge, wie spärlich das Apartment eingerichtet war und wurde dadurch an seinen erzwungenen Neuanfang erinnert. Das war heute nicht das erste Mal, dass sie daran denken musste, wie könnte sie nicht?
„Sag mal …“, begann sie leise und unterbrach sich dann. Nein, sie wollte dieses Thema nicht mit einer Frage beginnen. John war neben der Garderobe stehengeblieben, blickte sie neugierig an und sie setzte nochmal neu an: „Es tut mir leid, dass du so lange weg warst. Das war sicher nicht einfach, drei Jahre auf einer verlassenen Insel gestrandet zu sein.“
„Danke“, murmelte John, zuckte dann fatalistisch mit den Schultern und fuhr lauter und entschlossener fort: „Na ja, jetzt bin ich wieder zurück und eigentlich ist das alles, was zählt.“
Hanna nickte. „Wie war es denn so?“ Sie machte eine Pause, wusste nicht so recht, ob sie die Grenze ins Taktlose überschritt. Schlussendlich siegte die Neugier und sie fügte kleinlaut hinzu: „Du weißt schon, schiffbrüchig auf einer Insel gestrandet zu sein.“
John seufzte, hängte ihren leichten Mantel auf und strich ihn am Haken glatt. „Ehrlich gesagt wäre ich froh, ausnahmsweise mal nicht darüber zu sprechen, wenn das für dich okay ist. Ich habe das Gefühl, die letzten beiden Monate über nichts anderes mehr sprechen zu dürfen.“
Auch wenn Hanna etwas enttäuscht war, so ließ sie sich nichts anmerken, schließlich konnte sie den Wunsch ihres alten Freundes verstehen. „Klar, das sehe ich.“
„Möchtest du was zu trinken? Eine Cola vielleicht?“, schlug John vor und deutete in Richtung der Küche. Hanna bejahte und folgte ihm in den hellen Raum, wo sie sich auf die Eckbank setzte. Als John ihr das Glas mit der dunklen, sprudelnden Flüssigkeit hinstellte, erklärte er: „Ich habe Hunger, wie wäre es, wenn ich was zu Abend koche?“
„Klar, gerne – kann ich dir helfen?“ Hanna freute sich richtig, immerhin hatte sie seine Kochkünste schon zu lange vermissen müssen.
„Nein, danke. Das geht schon.“ John kramte eine Pfanne aus einem Schränkchen und stellte sie auf den Herd. „Wenn du willst, kannst du mir ja erzählen, was in den letzten drei Jahren so alles passiert ist. Das eine oder andere habe ich zwar schon mitbekommen, aber es ist schwer, den Überblick zu behalten.“
Hanna grölte herzhaft. „Drei Jahre? Das wird ja ewig dauern! Und ich bräuchte mein Smartphone als Spickzettel, so genau weiß ich jetzt nicht mehr, was in welchem Jahr war.“
„Ach kommt schon, das ist doch eine super Herausforderung für dich“, stichelte John grinsend. „Ich koche etwas extra Kompliziertes, so hast du länger Zeit, bis das Essen fertig ist.“ Als wollte er seine Absicht deutlich machen, öffnete er seinen Kühlschank und fing an, ein Gemüse nach dem anderen auf die Arbeitsplatte zu stellen. Als Hanna nach einer Weile noch nicht reagiert hatte, hakte er nach: „Und, nimmst du die Herausforderung an?“
„Okay, okay.“ Hanna atmete tief ein …

„Also, du bist am dritten August verschwunden“, nuschelte Hanna, mehr zu sich selbst als zu ihrem Freund. John legte eben eine Paprikaschote aufs Schneidebrett und störte ihren Gedankengang: „Magst du Knoblauch? Nicht, dass ich dich unfreiwillig zum Stinker mache.“
„Ja“, entgegnete Hanna abwesend und dann hellten sich ihre Züge auf. Irgendwie erinnerte sie die ganze Szene an längst vergangene Tage – John kochte und sie erzählte ohne Punkt und Komma.
„Okay“, holte Hanna Anlauf, „ich fange jetzt einfach mal mit den wissenschaftlichen Errungenschaften an, die fallen ja quasi in mein Gebiet. Im Jahr 2012 ist da so einiges passiert. Dass Curiosity auf dem Mars gelandet ist, hast du wahrscheinlich gar nicht mehr mitgekriegt, das war eine ziemlich große Sache. In etwa zur selben Zeit feierten wir das vierzigjährige Jubiläum des der Apollo 17 Mission und den Eintritt der Voyager 1 Raumsonde in den interstellaren Raum. Ich weiß noch, wie sehr ich mich über die ersten Bilder vom Mars gefreut habe.“ Sie sah rasch auf und beobachtete John, der ihr gespannt zuhörte. „Ach ja, und für die Entdeckung, dass reife Zellen in Stammzellen umgewandelt werden können, wurde der Nobelpreis verliehen.“ Hanna krauste die Nase. „Das ist gar nicht so einfach, weißt du? Ach ja! Windows 8 kam auf den Markt und die Welt sollte untergehen!“
„Wie? Was?!“ John war augenscheinlich verwirrt und hätte sich beinahe geschnitten. „Wieso sollte die Welt wegen Windows untergehen?“
„Nein“, lachte Hanna. „Das hat nichts miteinander zu tun. Das Ende des 13-Baktun-Zyklus des Maya-Kalenders im Dezember verleitete einige Vollidioten dazu, zu glauben, dass der Weltuntergang auf uns wartet. Selbstverständlich ist nichts passiert.“
„Ach so“, stieß John gleichgültig aus. Er fand esoterische Idioten offenbar weniger lustig als seine Kollegin. „Und was ist in der Welt sonst so passiert?“
Hanna dachte kurz nach. „Da war Sandy – und bevor du fragst, ich meine den Hurrikan, der von den Bahamas bis in die USA gezogen ist und viel Verwüstung angerichtet hat. Er war etwas weniger medienwirksam als damals Katrina.“ Sie konnte sich den Kommentar nicht verkneifen. „Und wenn wir schon in Amerika sind, dort gab es eine große Dürreperiode und Obama wurde wiedergewählt.“ Sie strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn und konnte sehen, dass John mittlerweile mit dem Knoblauch herumhantierte. „Irgendwann im Herbst oder Winter rollte eine schlimme Kältewelle über Europa, wenn ich mich recht erinnere, sind da viele Obdachlose gestorben. Ah, genau! In London waren die olympischen Sommerspiele, aber darüber weiß ich kaum etwas – Sport interessiert mich noch immer nicht.“
„Schon komisch, was so hängen bleibt“, sinnierte John halblaut und warf den gehackten Knoblauch in die Pfanne. „Hast du denn nichts vergessen?“
„Na ja, das Schulmassaker in Connecticut. Wie der Ort hieß, kann ich beim besten Willen nicht mehr sagen, irgendwas mit ‚New …‘“ Hanna probierte einige Varianten durch, dann klatschte sie sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Newton! Und wir haben Gauck als neuen Bundespräsidenten bekommen, weil der alte in eine Affäre verwickelt war. Hm, etwas war doch noch“, grummelte sie und warf einen verstohlenen Seitenblick auf ihr Smartphone. „Genau: Der Bürgerkrieg in Syrien nach dem Arabischen Frühling kam so richtig in Fahrt. War es das?“ Nach einem Moment fügte sie hinzu: „Keine Ahnung, ist ja schon ziemlich lange her, du weißt ja, wie das ist – das Gedächtnis wird zu einem Löchersieb.“
John wirkte heiter. „Du musst ja nicht jedes Detail wissen, ist schon gut.“ Er nahm eine Tomate in die Finger und roch ausgiebig an dem roten Gewächs. „Die Sache mit Syrien überrascht mich kaum, die Situation dort war ja auch vorher nicht besonders stabil. Ab 2011 wurde es wirklich ungemütlich.“

„Und weiter geht’s zum nächsten Jahr“, verkündete John fröhlich und wurde wieder ernster. „Lass mich raten – in Arabien wurde die Lage nicht beständiger?“
„Nein, nicht leider nicht. Der Krieg in Syrien wütete weiter und ist bis heute kaum zur Geschichte geworden. Es kamen zudem immer mehr Flüchtlinge mit dem Boot nach Europa, vor allem nach Italien. Viele von ihnen haben dabei ihr Leben gelassen und irgendwann in 2013 sank ein Schiff vor Lampedusa. Mehr als dreihundertfünfzig Tote, das muss man sich mal vorstellen. Noch mehr Tote gab es in Ägypten, als die Muslimbrüderschaft durch einen Militärputsch gestürzt wurde.“
„Den Beginn des Arabischen Frühlings habe ich sogar im Fernsehen mitverfolgt“, unterbrach John ihre Erzählung. „Ist schon faszinierend, was da alles geschehen war und was alles ins Rollen gekommen ist.“
„M-Hm“, machte Hanna und verstummte. „Der Konflikt in der Ukraine hat ebenfalls irgendwann da seinen Anfang genommen. Vermutlich hast du davon schon eine Menge mitgekriegt, zumal es meistens ein riesen Medienereignis ist, wenn die Rußen sich einmischen und was Dummes tun – mehr dazu später. In der Türkei gab es Proteste gegen die Regierung, die jedoch nie so schlimm wurden, wie die in der Ukraine. Im Südsudan kam es dafür zu tausenden Toten bei internen Machtkämpfen und das in nur wenigen Tagen.“ Sie wurde wieder still, so als wolle sie den Todesopfern Respekt erweisen. In Wahrheit grübelte sie darüber nach, wie sie weiterfahren sollte und schmulte auf den Display ihres Handys. „Der Vatikan hatte ebenso ein turbulentes Jahr, hingegen weit weniger blutig.“
„Inwiefern das denn? Ich habe nur mitgekriegt, dass die einen neuen Chef haben, oder?“
„Ja. Papst Benedikt der Sechzehnte ist tatsächlich als erster seit langem aus eigenen Stücken zurückgetreten und der neue, Franziskus, wurde zum ersten südamerikanischen Papst ernannt, der, man glaubt es kaum, tatsächlich ein halbwegs freundlicher und vernünftiger Kerl zu sein schien.“ Sie gab John einen Augenblick, um das Unwahrscheinliche zu verarbeiten, ehe sie weitersprach. „Aber hier ist damals auch einiges passiert: Die FDP wurde damals nicht mehr in den Bundestag gewählt, das war das Ende der schwarz-gelben Koalition und die Praxisgebühr wurde aufgehoben.“
„Das hast du jetzt online nachgelesen, oder?“, wollte John wissen, der eben den Herd einschaltete.
„Ja“, gab Hanna zu. „Dafür habe ich den Terroranschlag auf den Boston Marathon gut im Kopf. Ich war damals erst spät nach Hause gekommen und wollte vor dem Zubettgehen nur kurz die Nachrichten sehen – du kennst mich ja.“ Sie kicherte als er wohlwissend auf seine Nasenspitze tippte. „Auf jeden Fall bin ich die ganze Nacht wachgeblieben und habe wie auf glühenden Kohlen ferngesehen, weil die Verfolgungsjagd auf einen der Attentäter live übertragen wurde.“
„Marathonläufer sind sowieso alle wahnsinnig, da war es nur eine Frage der Zeit, bis einer von denen zum Terroristen wird“, kommentierte John trocken, was ihm sofort einen tadelnden Blick einbrachte.
„So war das nicht“, meinte Hanna und umriss knapp die Hintergründe. „In den USA ist in diesem Jahr selbstverständlich noch viel mehr geschehen. Zum Beispiel wurde in einem Government Shutdown das ganze Land mehr oder weniger stillgelegt, weil sich die Regierung nicht über die Finanzen einigen konnte. Das Problem wurde eigentlich recht schnell gelöst.“ John musste lachen, doch Hanna ließ sich davon nicht beirren. „Und die NSA-Affäre: Ein Mitarbeiter der NSA, Edward Snowden heißt der, hat vertrauliche Informationen Publik gemacht und sich dann nach Russland abgesetzt. Seitdem sind die Geheimdienste andauernd in der Kritik und wie das halt so ist, wenn man jemandem genau auf die Finger schaut, dringen ständig mehr Abhörskandale in die Öffentlichkeit. Stellt sich heraus, einige sind ganz und gar nicht begeistert von den gängigen Überwachungs- und Spionagepraktiken.“
„Faszinierend, das klingt ja wie im kalten Krieg“, überlegte John laut. „Dazu muss ich mal mehr recherchieren.“
„Das musst du unbedingt tun, ist ein echt interessantes Thema“, sagte Hanna und erhob sich, um sich zu strecken. Manchmal musste etwas Bewegung eben sein. „Menschen sind nicht die einzigen, die Unsinn anstellen oder sich gegenseitig umbringen, dafür haben wir ja auch Naturkatastrophen. Irgendwann im Frühling 2013 gab es starke Überschwemmungen, ich glaube fast in ganz Westeuropa, weil es so geregnet hat. Und wenn wir schon bei Naturkatastrophen sind“, fuhr sie fort, setzte sich hin und rutsche etwas auf ihrem Platz hin und her, „da war zudem der Taifun Haiyan, der auf den Philippinen mehr als fünfeinhalbtausend Menschen getötet hat.“ Hurtig, weil ihr der plumpe Witz eben erst eigefallen war, fügte sie hinzu: „In Irland wurden die Aussichten hingegen sonniger. Es verließ den Euro-Rettungsschirm und Kroatien wurde EU-Mitgliedsstaat.“
„Okay, aber die EU ist noch nicht zur Katastrophe mutiert, oder?“, erkundigte sich John pro forma über das Geräusch des anbratenden Knoblauchs.
Hanna zwinkerte schelmisch. „Wir sind noch nicht bei Griechenland angelangt. Bald …“

„Also, 2014“, proklamierte Hanna motiviert, stütze ihre Ellenbogen auf den Küchentisch und ignorierte Johns hochgezogene Augenbraue. „Die Sache in der Ukraine spitzte sich weiter zu und Russland wurde aufgrund der Annexion der Krim aus der Gruppe der Acht ausgeschlossen. Das Ding heißt deswegen jetzt wieder G7. Der ukrainische Präsident trat zurück und die Separatisten haben, wohl unabsichtlich, ein volles Verkehrsflugzeug abgeschossen.“
„Wie blöd muss man denn sein?“, lachte John und brummte sofort halbherzig: „Sorry.“
Hanna verzog ihre Mundwinkel zu einem diebischen Schmunzeln und erwiderte: „Ja, so sind die Leute, stets damit beschäftigt, sich gegenseitig umzubringen. Wie üblich ein gutes Beispiel dafür ist der Gazastreifen. Dort war, ist und wir die Lage wohl nie stabil sein und logischerweise gab es 2014 wieder schwere Bombardierungen. Und wenn wir schon bei unnötigen Streitigkeiten aufgrund von brutaler Literatur sind: Islamische Extremisten haben in vielen Ländern ein Massaker nach dem anderen angerichtet. Man hörte immer weniger über die Al Kaida dafür mehr über die ISIS, etwas weniger über die Boko Haram in Afrika. Wenn man es recht bedenkt, halten die Arschlöcher sich an die Wünsche ihrer imaginären Kumpels … Fröhliches Morden, Kinder entführen, Frauen vergewaltigen und das Schlachten von Un- oder Andersgläubigen entspricht ja ganz gut der literarischen Vorgabe.“ Hanna rollte ausgiebig mit den Augen und musste sich zusammenreißen, nicht in einer wütenden Tirade auszubrechen. „Naja, jedenfalls tauchten die immer häufiger in den Nachrichten auf, weil sie, erst im Irak und dann nach Syrien und so weiter, ausbreiteten und mehr und mehr Städte und ganze Regionen einnahmen.“
Hanna nahm einen Schluck von ihrer Cola. „Gewalt war nicht nur in Kriegsgebieten ein Thema. In Amerika gingen Maßen auf die Straße und es kam zu schroffen Ausschreitungen. Es waren einige Fälle bekannt geworden, in denen Schwarze von Polizisten erschossen wurden. Die Gründe dafür waren bestenfalls fadenscheinig, meistens schlicht nicht erkennbar. Offenbar ist ein Republikaner mit einer Waffe ein Patriot und ein Schwarzer ohne Waffe ein Gangster. An die Proteste in Ferguson kann ich mich übrigens ebenfalls gut erinnern, damals war ich nämlich gerade in New York in den Ferien und jeden Tag haben mich Bekannte angerufen, um zu erfahren, ob ich in Ordnung sei. Ich sollte ihnen vielleicht mal eine USA-Karte schenken.“ Sie seufzte tief und legte den Kopf in den Nacken. „Rassismus ist nicht nur dort ein Problem, sondern genauso bei uns – etwa zur selben Zeit machte hier die PEGIDA zum ersten Mal Schlagzeilen.“
John, der sich mittlerweile zu Hanna an den Tisch gesetzt hatte und aufmerksam zuhörte, schüttelte den Kopf und ging zurück an den Herd, wo er nachdenklich im Gemüse rührte. „Warum sehen die Menschen nicht endlich ein, dass wir unabhängig von Rasse und Herkunft alle dumm sind?“
„Tja, weil wir eben dumm sind …“, entgegnete Hanna resigniert.
„Wir werden wohl nie aufhören, uns zu bekämpfen“, stellte John mindestens genauso resigniert fest.
Hanna fiel darauf nichts ein, was sie antworten konnte, doch John wandte sich eben um: „Möchtest du lieber Fleisch oder Tofu? Ich weiß nie genau, wann du wieder eine vegetarische Phase hast, du Freizeit-Hipster!“
Amüsiert erklärte sie: „Tofu, im Moment esse ich wieder kein Fleisch. Mal sehen, ob ich diesmal dabei bleiben werde.“
„Das kann ja spannend werden“, kommentierte John und erkundigte sich, während er sich wieder dem Kochen widmete: „Und was ist in der Welt sonst so alles passiert?“
„Schottland hat über seine Unabhängigkeit abgestimmt und hat entschieden, im Vereinigten Königreich zu bleiben. Ach ja, die USA wollen sich wieder mit Kuba versöhnen, was wohl ein Weilchen dauern wird. In Thailand gab es mal wieder einen Militärputsch. Das scheint ja alle paar Jahre der Fall zu sein, keine Ahnung, ob das überhaupt noch richtige News sind.“ Hanna dachte angestrengt nach. „Da war irgendetwas anderes in Europa. Natürlich die Europaratswahl, aber was du keinesfalls vergessen darfst, ist die Edathy-Affäre, die hat die Nachrichten hier lange dominiert und zu einigem Sitzerücken geführt.“
„Das war die Sache mit der Kinderpornografie, oder?“, fragte John nach, entschied sich jedoch anders und wedelte mit der Kochkelle in der Luft. „Nein, vergiss es! Weißt du, irgendwann war ich trotz der Einsamkeit auf der Insel froh, mir wenigstens nicht mehr solche Sachen anhören zu müssen. Gibt es auch etwas Gutes zu berichten, das nichts mit Politik und kranken Kinderfreunden zu tun hat?“
„Klar“, begeisterte sich Hanna sofort, denn nun konnte sie zu dem kommen, was sie wirklich interessierte. „Wie immer, wenn man gute Nachrichten will, muss man sich nur auf die Wissenschaft konzentrieren. Wusstest du, dass gegen Ende 2014 erstmals ein Raumfahrzeug auf einem Kometen gelandet ist? Das war das Landefahrzeug ‚Philae‘ der Sonde ‚Rosetta‘, benannt nach dem Stein von Rosette. Cool, nicht? Noch cooler wäre es allerdings gewesen, wenn dieser grandiose Erfolg nicht von Streitigkeiten über die Garderobe von Wissenschaftlern überschattet worden wäre – dahin will ich jetzt gar nicht gehen.“ John hielt perplex in seiner Bewegung inne, doch Hanna sprach schon weiter. „Und wer weiß, vielleicht wird die Wissenschaft bald schon in der Lage sein, Ebola in den Griff zu bekommen – da gab es einen sehr schlimmen Ausbruch im letzten Jahr in Westafrika.“
John konnte sich nur kurz von seiner Arbeit in der Küche abwenden, weil er gerade mit dem Würzen von ihrem Tofu und seinem Fleisch beschäftigt war. „Aha. Das wäre schön, ja.“
Etwas enttäuscht, dass er nicht so enthusiastisch wirkte wie sie, fuhr Hanna fort. „Das Flugzeug, das in der Ukraine abgeschossen worden ist, gehörte ‚Malaysian Airlines‘. Und jetzt stell dir vor: Nicht lange zuvor hat dieselbe Airline eine Boeing-777 verloren und nicht wieder gefunden.“
„Moment mal“, rief John überrascht aus, „sie haben eine ganze moderne Passagiermaschine einfach so verloren? Das ist so absurd, dass es schon fast lustig ist.“ Ein Zischen aus der Küche lenkte ihn vom Thema ab und er begann hastig seine Pfanne zu schwenken. Nach einem Moment drehte er sich wieder um und erklärte mit einem zufriedenen Lächeln: „Es ist wundervoll, wieder eine richtige Küche statt einem Lagerfeuer zu haben!“

„Und damit wären wir im jetzigen Jahr angelangt“, holte Hanna aus. Sie war beim letzten Teil ihrer Abhandlung, zu der sie sich leichtfertig hatte herausfordern lassen, angelangt. Bisher hatte sie sich ganz gut geschlagen, befand sie und entschied sich dazu, mit den Ereignissen zu eröffnen, von denen sie seit Wochen schwärmte: „Also, im März hat die NASA-Raumsonde ‚Dawn‘ den Zwergplaneten ‚Ceres‘ erreicht, der im Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter liegt. Dann, vor kurzem, hat ‚New Horizons‘ Pluto passiert. Vermutlich hast du das nach deiner Ankunft hier schon mitbekommen, doch ich muss es einfach erwähnen! Ebenfalls absolut erwähnenswert ist, dass der Teilchenbeschleuniger in Genf im Frühling nach einem längeren Umbau wieder in Betrieb genommen werden konnte. Außerdem ist die Forschung letzthin einen großen Schritt weitergekommen im Kampf gegen Ebola, da wurde kürzlich ein vielversprechender Impfstoff entwickelt, der nun getestet werden soll.“
„Super, da ist ja einiges geschehen, während ich weg war!“ John schien abgelenkt und starrte in einen seiner Schränke. „Man darf gespannt sein, was in den nächsten Jahren alles kommt.“ Plötzlich wirbelte er herum und fuchtelte mit seinem Küchenmesser in der Luft herum, sodass Hanna zurückzuckte. „Willst du Glasnudeln oder Reis essen? Entscheide dich schnell, sonst werde ich dir dein Leben sehr schwer machen!“
„Äh“, machte Hanna verwirrt und sagte dann, tatsächlich ungewohnt rasch für ihre Verhältnisse: „Reis, bitte.“
„Okay, dein Wunsch ist mir Befehl“, flötete John schalkhaft, nahm das Küchenmesser wieder weg und hievte eine riesige Reispackung auf die Arbeitsfläche, während Hanna ihre Gedanken zu ordnen versuchte. „In Nepal gab es im April ein schlimmes Erdbeben, bei dem fast neuntausend Leute ums Leben gekommen sind, Millionen von Überlebenden sind jetzt obdachlos. Das Interesse dafür war hier jedoch gewohnt flüchtig. Dafür wurde der Absturz der Lufthansa-Maschine in den französischen Alpen heftig diskutiert. Das artete unter anderem in öffentlichen Debatten über die psychische Gesundheit von Piloten aus.“
„War das der, der Selbstmord begangen hat?“ Hanna nickte, begriff dann, dass John das nicht sehen konnte und sagte: „Ja, genau der.“
„Lass mich raten, die eine Hälfte hat sich über den Wixer aufgeregt, der Hunderte mit in den Tod riss und die andere Hälfte darüber, dass man Menschen mit Depressionen nicht genügend Verständnis entgegenbringt.“
„So in etwa.“ Hanna hatte sich erst kürzlich in eine hitzige Unterhaltung verwickeln lassen und war nun etwas zurückhaltender mit ihrer Meinung. John vertrieb ihre Sorgen augenblicklich als er etwas gehässig ausspuckte: „Ich bin der erste, der sich für die Anerkennung von psychischen Erkrankungen äußert aber, sorry, alles hat seine Grenzen. Wer sich umbringt hat ja mein Mitgefühl, wer dabei andere tötet ist einfach nur ein egozentrisches Arschloch – Depressionen hin oder her!“
„Absolut“, stimmte Hanna zu und beobachtete, wie ihr Freund den Reis in den Topf kippte. „Vor allem wenn du überlegst, wie viele Leute unglaubliche Risiken eingehen, nur um ein besseres Leben zu führen zu können – nimm zum Beispiel das Flüchtlingsboot, dass auf dem Weg nach Europa gekentert ist, dabei sind achthundert Leute gestorben. Sie wissen, dass es gefährlich ist und nehmen es dennoch in Kauf, oftmals um Freunde und Familie unterstützen zu können.
„M-Hm“, machte John, gerade wieder voll in sein brodelndes Abendessen vertieft.
„Zu was anderem: Ich nehme mal an, von der Griechenlandkrise hast du mittlerweile so einiges gehört – wie könntest du nicht? Wusstest du aber, dass in etwa zeitgleich zum Anfang des Desasters, hier der flächendeckende Mindestlohn eingeführt wurde. Schon faszinierend, am einen Eck von Europa stehen die Leute vor dem Bankomaten für einen Zwanziger Schlage und an einem anderen versucht man sicherzustellen, dass alle genug haben.“
John rührte im Reis und goss etwas Wasser nach – für Hanna sah es ganz so aus, als wäre das Essen bald fertig und sie wollte zum Schluss kommen. Da es gab allerdings noch ein Thema, das sie vorher zusammenfassen musste. „Was du verpasst hast, und zwar zuhauf, sind Terroranschläge. Um ehrlich zu sein, die traurige Wahrheit ist, dass ich mich unmöglich an alle erinnern kann – es sind einfach zu viele.“ Ein trauriges Kopfschütteln von John, der sich gerade dem Essen widmete und weiter lauschte.
„Boko Haram haben ein scheussliches Maßaker in der nigerianischen Stadt Baga verübt. Sie brannten die Stadt und einige umliegende Dörfer komplett ab und haben dabei hunderte Zivilisten getötet. Ein Jahr zuvor war die islamistische Terrorgruppierung wegen einer Massenentführung in die Schlagzeilen gekommen. Sie haben zahlreiche Mädchen und Frauen entführt und eine Menge von ihnen mit Angehörigen der Gruppe zwangsverheiratet. Was das bedeutet, brauche ich wohl nicht weiter zu erläutern.“ Hanna schluckte leer und John verharrte einige Sekunden stumm.
„Dann ist da natürlich der Anschlag auf Charlie Hebdo im Januar.“
„Wer ist Charlie Hebdo?“, wollte John wissen, der sich nun doch umgewandt hatte und niedergeschlagen auf seinen Kochlöffel blickte.
Trotz dem traurigen Thema konnte sich Hanna ein Grinsen nicht verkneifen. „Nicht eine Person, Charlie Hebdo ist eine französische Satirezeitschrift. Islamisten haben wegen Mohammed-Karikaturen in Paris zwölf Menschen umgebracht. Einer der Terroristen hatte am Tag zuvor eine Polizistin erschossen. Kurz danach wurden in einem jüdischen Supermarkt bei einer Geiselnahme Menschen getötet und auch hier hatte der Täter schon zwei Tage zuvor ein Leben genommen. Nach den Anschlägen haben auf der ganzen Welt Unzählige ihre Solidarität und Trauer mit den Opfern und deren Familien bekundet – eine, wenn ich so sagen darf, schöne doch ultimativ leere Geste. Es ging nämlich nicht lange, bis die ersten Stimmen laut wurden, dass man trotz Meinungs- und Redefreiheit etwas Verständnis für religiöse Gefühle aufbringen sollte und das Verbot Mohammed zu zeichnen unbedingt respektieren müsse.“ Hanna schloss die Augen und atmete lange aus, während John sich halb verblüfft, halb verärgert den Hinterkopf kratzte.
„Tja, wer sich Kritik und Satire nicht stellen kann, fußt seine Überzeugungen wohl auf einem sehr wackeligen Fundament“, meinte er schließlich monoton.
„Menschen umbringen wegen nichts weiter als einem verdammten Bild … Bitte, wie schwach ist das denn?“
„Wenigstens kann man sich auf Extremisten verlassen“, antwortete John sarkastisch und nahm einen Topf vom Herd. „Egal, was sich verändert und wie lange man weg ist, sie sind noch genauso rückständig wie eh und je. Sie werden höchstens gefährlicher und rüsten auf.“
Hanna gab ein zustimmendes Geräusch von sich. „Hat was. Es ist tragisch, wenn einige aus Angst nicht mehr offen sprechen. Nicht unbedingt weil sie fürchten, für jeden Pieps gleich niedergestochen zu werden, sondern eher weil man Bedenken haben muss, gleich als Rassist abgestempelt zu werden, wenn man Religionen und ihre Anhänger kritisiert – ob die Kritik begründet ist oder nicht, interessiert längst nicht jeden.“
„Echt jetzt?“ John schien überrascht, was Hanna etwas aus dem Konzept brachte.
„Ja, lieber John, während du weg warst ist die Welt nur noch empfindlicher geworden und ich warte jetzt schon darauf, dass jeder Lewis’ Gesetzt, dass jegliche Kritik an einer Sache ebendiese Sache automatisch und ohne Hinterfragen rechtfertige, für sich beansprucht.“

John stellte die beiden Teller auf die Anrichte und begann zu schöpfen. „Ich bin zwar sehr froh, wieder zurück zu sein, aber wenn ich an all das Leid der letzten Jahre denke, kann ich nicht leugnen, dass ich genauso froh bin, es verpasst zu haben.“
„Klar“, warf Hanna ein, „Du darfst dabei nicht vergessen, dass auch viel Tolles passiert ist. So ist die Welt nun mal, das eine geschieht nicht ohne das andere.“
„Ha“, stieß er so laut aus, dass Hanna instinktiv zusammenfuhr. „Das klingt ja gar spirituell.“
Er schöpfte lachend eine große Ladung Tofu in ihren Teller und sie war sich insgeheim nicht sicher, wie sie das alles essen sollte. „Doch im Prinzip hast du gar nicht unrecht. Lassen wir die Vergangenheit vorerst ruhen und widmen wir uns dem Essen, das ist mir gerade wichtiger.“
Hanna nahm das Tablett entgegen und stimmte ihm zu. Trotzdem konnte sie es nicht lassen, anzumerken: „Man muss freilich aus der Vergangenheit lernen.“
„Klar, aber haben wir nicht aus der Vergangenheit gelernt, dass der Mensch als Spezies nie wirklich aus der Vergangenheit lernt?“, fragte er rhetorisch, während sie gemeinsam ins Wohnzimmer gingen. „Sag mal“, unterbrach er seinen eigenen Gedankengang, nachdem er das Tablett abgestellt und die Fernbedienung aufgehoben hatte, „gibt es eigentlich neue Serien, die man sich unbedingt ansehen sollte?“
„Oh ja“, feixte Hanna. „Da kannst du dich auf eine lange Liste gefasst machen.“ Sie hielt mitten in ihrer Bewegung inne, als ihr etwas ganz Wichtiges einfiel. „Moment, du hast ja das coolste Ereignis der letzten drei Jahre verpasst!“
„Okay“, machte John, etwas zögernd ob all der Begeisterung, die Hanna in ihre Aussage gelegt hatte. „Das musst du mir unbedingt beim Essen erklären.“
Hanna setzte sich, nahm die Stäbchen zur Hand und begann noch vor dem ersten Bissen: „Also, es nennt sich Clue Writing …“

Autorinnen: Rahel und Sarah
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