Der Wunsch

Für Sarah

Mir gegenüber sitzt du, stumm ein vegetarisches Schnitzel in Stücke schneidend, während du deine Aufmerksamkeit zwischen mir und dem abendlichen Fernsehprogramm halbierst. Dich beim Essen zu beobachten hat für meinen Spatzenappetit Gewöhnungszeit benötigt. Du isst so viel wie die Raupen, vor denen du dich gruselst und ich bin alleine vom Zusehen übersättigt; wohin all die Kalorien verschwinden, ist mir bis heute unklar. Dieser Umstand ist in tausend kleinen Insiderwitzen verewigt, denn du fürchtest meinen Humor auf deine Kosten nicht, vertraust darauf, dass ich ihn deinen Empfindlichkeiten anpasse; du retournierst diesen Gefallen, wie jeden anderen, den ich dir je getan habe. Du bist mein Freund, vielleicht mein bester, womöglich der einzig richtige, zumindest der eine, an dessen Loyalität ich nie gezweifelt habe.
„Ich liebe deine Schnitzel“, lobst du meine sehr unbeständigen Kochkünste kauend. Ich zucke zur Antwort mit den Schultern, denn mir sitzt der Perfektionismus im Nacken, ich weiß retrospektiv was man hätte bessermachen können. „Du bist nie zufrieden“, durchschaust du mich feixend.
„Geschmacklich sind sie okay. Die Konsistenz ist seltsam.“ Nun bist du der Schulterzucker am Tisch. Wie üblich nimmst du mir die kleinen Ausrutscher des Lebens nicht krumm, sondern siehst das Vorteilhafte an meinem Tun und Treiben.
„Ist noch was übrig?“ Dein Teller ist nicht leer, darauf liegen strategische Kleinmengen von Kartoffeln, Haferschnitzeln und Bohnen, deren Kombination das passende Nahrungsgemisch für deinen Verzehr ergeben; du isst reichlich sowie organisiert.
„Nachdem du in der Küche warst, nicht mehr“, gebe ich meinen Standardsatz von mir und verabschiede mich einmal mehr von der Idee, jemals Reste zurückzubehalten, wenn du hier bist. Dein Besuch ist synonym mit dreifachen Portionen und der Hoffnung, dir damit eine kleine Freude zu bereiten.
„Jaja, mein Fettarsch will eben genährt werden.“ Ohne groß nachzudenken schaue ich dem besagten Fettarsch zu, wie er ein wenig unkoordiniert zum Herd flitzt. Heute trägst du Jeans, eine Rarität an deinem Körper, bevorzugst du doch flatternde Röcke. „Eigentlich sollte ich es lassen … Mist, es ist so gut, ich muss es essen!“ Ein Blick auf den unterdurchschnittlich appetitlichen Tellerinhalt widerspricht deiner These, aber wer bin ich, deine Motive infrage zu stellen? Schwungvoll setzt du dich vor dem gläsernen Couchtisch auf den Boden, trinkst einen großen Schluck Wasser und verschluckst dich sogleich, weil auf dem Bildschirm ein Passant ungelenk ins Schotterbett des Bahnhofs stolpert. „Ach, das Video kenne ich. Der Typ ist so blöd“, gluckst du lauthals los, so wie nur du es kannst; dein asthmatisches Grölen ist peinlich-herzerwärmend, lauter als man dir zutraut und – Spiegelneuronen sei Dank – ansteckend. Ausgelöst wird es meist von Dingen, die mein Amüsement lediglich kitzeln, erst durch dich formen sie Fältchen neben meinen Augen. „Einige Leute sollte man beim Betreten der Plattform mit Sicherheitsgurten versehen.“
„Technologische Selektion“, erwidere ich monoton. „Wenn du das Deppen-Sicherungssystem ausbaust, werden die Darwin Awards langweilig.“
„Stimmt.“ Der letzte Happen wird aufgegabelt und in deinen, bis vor kurzem lippenstiftroten, Mund geschoben, ehe du empfiehlst: „Alternativ könnten wir alle Warnschilder entfernen und Kameras aufstellen. Das beschleunigt den Spaßfaktor.“ Deine Vorschläge zur Erheiterung der Welt basieren abermals auf sarkastischer Schadenfreude; ganz nach meinem Gusto. Wir sollten häufiger gemeinsam lachen, denke ich still für mich, ich gönnte es dir von Herzen. Zwar albern wir ausgiebig miteinander, dennoch versage ich zu oft, dein Zwerchfell mit unsinniger Fröhlichkeit zu malträtieren. Mein Wesen ist neben schwarzem Witz ebenso von der Ernsthaftigkeit geprägt, mit der ich alle Themen betrachte, deren Bedeutung in meinen Augen unterschätzt wird; Faszination und Engagement verwandelt sich da zuweilen in Misanthropie, schlimmer noch, Miesepeterei. Selbst das nimmst du mir selten übel, weil es dir ähnlich geht oder weil du den Frust deines Freundes mitfühlst. Deine Geduld mit mir verblüfft mich immer wieder, ebenso dein positives Bild von mir, denn du misst dem Optimisten in mir mehr Wert bei als dem enttäuschten Rationalisten; unverdient, sagt der Nörgler im Hinterkopf, die Frohnatur ist einfach dankbar.
„Ich bezweifle, dass es der Menschheit an Gelegenheiten zur Dummheit fehlt“, merke ich stoisch an und schmunzle innerlich. Das vor dem Spiegel geübte Grinsen brauchst du nicht, um meine Stimmung zu verstehen, Emoticons hingegen, da sind wir uns einig, wären auch im realen Kontakt praktisch. Dir ist klar, meine Gedanken wirst du nie erleben, genauso wenig wie ich die deinen, trotzdem fällt es in deiner Gegenwart schwer, sich der inhärenten, mentalen Isolation bewusst zu sein.
„q.e.d.“, kicherst du mit dem Zeigefinger auf mich deutend. Der Kommentar wäre lustiger gewesen, hätte ich meine Zehen am Tischbein gestoßen; lange darauf warten müssen wir wohl kaum.
„Tja, so bin ich eben, ein wahrer Botschafter der geistigen Verknappung“, statuiere ich meine mal mehr mal minder aufrichtige Meinung zum Zustand meines Intellekts. Erneut lachst du herrlich unelegant auf. Wir genießen beide dieselbe Illusion, gleichzeitig genial sowie unfassbar dumm zu sein; die Tagesform bestimmt‘s, das Umfeld verstärkt’s und du hast eine Art an dir, mir zu versichern, dass beides okay sein darf.
„Kaffee?“ Augenblicklich erhebe ich mich, schnappe mir Teller, Gewürze und Gläser, bevor ich damit in die Küche renne. Ohne überhaupt zuhören zu müssen, weiß ich, was du mir hinterherrufst: „Ich hätte das gemacht …“ Unsere Bedürfnisse decken sich nicht ausnahmslos, wäre auch seltsam, wo du Zeit und Ruhe suchst, drängt es mich zur bewegten Unruhe; der Ausgleich durch dich rettet meine Stabilität, denn ohne dich könnte ich mir die notwendige Entschleunigung nur schwer vergeben. Du schenkst mir das Mitgefühl, das ich für mich selbst nicht empfinden kann, widmest es mir leise oder schiebst es mir zur Not mit Gewalt in die Kehle.
„Ich weiß“, brülle ich über das Lärmen der Kaffeemaschine, „bleib sitzen.“ Stattdessen rappelst du dich auf, um mir beim Verrichten des Alltags Gesellschaft zu leisten. Für jemanden wie mich ist die Anwesenheit anderer Segen und Fluch zugleich, es ließe sich eine Münze werfen, ob sie mir angenehm oder ungelegen ist, du jedoch hast den Taler verhext, kippst die Wahrscheinlichkeit oft zu deinen Gunsten.
„Einen doppelten Espr…“
„Espresso. Keine wässrige Brühe für dich“, beende ich deinen Satz. Ich könnte so einige beenden, eine Tatsache die einerseits Vertrautheit ausdrückt, andererseits zu Missverständnissen führt. Fehlgeschlagene Kommunikation ist ebenfalls uns beiden eine alte Bekannte, ein Keil zwischen uns und den meisten, aber ich kann auf deinen Pragmatismus bauen. Mit dir kann ich so sprechen wie ich denke, denn ich weiß, du wirst ebenso ungefiltert nachhaken, wenn meine Worte verworren, irreführend oder gar gehässig wirken. Bislang bist du der einzige Begleiter, der nicht bloß hört, sondern glaubt, dass hinter der Schroffheit stets verkleidete Freundlichkeit steckt.
„Dankeschön.“ Die Höflichkeit steckt dir in den Knochen, wehe dem, der sie vergisst. Während du deine Tasse in Empfang nimmst, sie eilig beiseite stellst weil dein Handy ein Geräusch von sich gibt, fallen mir tausend Wünsche ein; das tun sie manchmal, wenn der Verstand nach Gerechtigkeit schreit, die zu erschaffen er außerstande ist. Ich wünsche dir so vieles, mein kaffeetrinkender Kamerad, ungeachtet meiner eigenen Wünsche.
‚Ich wünsche dir‘, will ich sagen, starre allerdings nur in meinen milchig-braunen Kaffee, ‚wallende Röcke, schummriges Licht, ausgestorbene Züge, schwarze Kugelschreiber, schmackhafte Kohlenhydrate, zuvorkommende Zeitgenossen, zahlreiche Monitore, allerhand Glühbirnen, vielfältige Post-Its, perfekte Tastaturen, wilde Inspiration, sture Entschlossenheit, friedliche Selbsterkenntnis, ruhige wie aufbrausende Zeiten, nachsichtige Richter und abwesende Henker. Und es bleibt der Wunsch, dir irgendwann der Freund sein zu können, der du seit Jahren für mich bist.‘
Gespannt liest du deine Nachricht, gewissenhaft willst du nie etwas verpassen. Ich hoffe, du kannst meine Wünsche in der abgeklärten Mimik erkennen und wenn nicht, so schreibe ich sie nieder.

Autorin: Rahel
Titelvorgabe: Der Wunsch
Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

 

2 Gedanken zu „Der Wunsch“

    1. Heya werter Freddy
      Hach, der extra-Bleistift hat mir vorzüglich gemundet – voller Bleigeschmack mit holzigem Abgang.

      Und der Crux bei Liebeserklärungen ist meist, dass sich nie mit absoluter Sicherheit sagen lässt, ob sie dem reinen Ausdruck der Zuneigung dient oder vielleicht doch der Demonstration potentieller Macht durch tiefgreifende Kenntnis des verehrten Subjekts ;)

      Mit lieben Grüssen und fantastilliardischen Wünschen
      Deine Clue Writer
      Rahel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Clue Writing