144 FPS

Das gleichmäßige Rütteln des alten U-Bahn-Wagens war ein Gefühl, die John schon immer zu schätzen gewusst hatte, ein beruhigendes Wiegen auf dem Nachhauseweg. Es war eines der Dinge im Alltag, die einen von jung bis alt begleiteten und sich nie zu ändern schienen. Sicher, ein modernerer Zug würde etwas sanfter fahren, aber das grundlegende Erlebnis veränderte sich nie. Und so saß John auch heute, lange nach Mitternacht, in der leeren Bahn und aß ein Sandwich. Geistesabwesend starrte er auf die Bissspur im Brot und dachte darüber nach, wie sehr er eigentlich Abwechslung genauso wie Abenteuer zu schätzen wusste, nur, davon hatte er bei der Arbeit genug. Eben erst hatte er für Stunden einer Fußspur durch den Dschungel folgen müssen, auf der Jagd nach einem Verräter. Es hatte ewig gedauert, dann endlich, nach einem langen Showdown, in dem er mehrere Magazine verballert hatte, war die Mission erfolgreich abgeschlossen.
Gutgelaunt schluckte John den letzten Bissen seiner Mahlzeit herunter. Wäre er zuhause, ginge es ohne Umschweife ab in die Dusche und ins Bett. Na gut, vielleicht noch eine Stunde fernsehen.
Früher hatte John seine Freizeit eher mit Videospielen verbracht, vor allem Shooter und Adventure-Games hatten es ihm angetan. Seit seinem neuesten Job erfüllten die Erlebnisse bei der Arbeit seinen Wunsch nach Action voll und ganz, daher bestand seine Freizeit eher aus Spaziergängen und Soaps im Fernsehen. Noch vor zwei Jahren hätte er sich niemals zu träumen gewagt, es gäbe so etwas wie die perfekte Karriere für ihn überhaupt. Der leidenschaftliche Gamer hatte kaum Interesse an Game-Design, am Streamen oder daran, in einer GameShop-Filiale zu arbeiten, nein – ihm ging es ganz und gar darum, in fremde Welten einzutauchen, sich Herausforderungen zu stellen. Das Ganze am besten in mindestens 144 Frames pro Sekunde und der aktuell besten Auflösung, damit möglichst wenig Geruckel die Immersion störte. Nur leider gab es keine Stellenausschreibungen, welche eine Position als Video-Game-Held anpriesen, keinerlei Arbeit in diesem imaginären Sektor. Oder zumindest hatte John das bis vor zwei Jahren geglaubt, denn sehr zu seiner Überraschung bot ihn die Regierung (ja, die Regierung, die einen sonst nur mit Steuern und dem neuesten Krieg nervte) genau eine solche Stelle an.
Ein unangenehmes Ruckeln riss ihn für eine Sekunde aus den Gedanken und er sah sich im leeren Wagen um. Der Zug war noch genauso unterwegs wie zuvor. „Muss eine Weiche gewesen sein“, brummte John und lehnte sich wieder entspannt zurück.
Bis heute konnte er höchstens rätseln, wie die Regierung auf ihn gekommen war, geschweige denn, mit was für einer mysteriösen Behörde er es überhaupt zu tun hatte. Eines Tages, auf dem Nachhauseweg von einem Bewerbungsgespräch auf eine Stelle, die ihm nicht im Geringsten zusagte, war es passiert. Ein schwarzer Geländewagen hatte mitten in der Stadt so abrupt neben ihm angehalten, dass er eine Bremsspur auf dem Asphalt hinterließ und einige Herren in schwarzen Anzügen hatten ihn kurzerhand gepackt und ins Auto gezerrt. Natürlich hatte er sich gewehrt, blieb gegen die Übermacht jedoch erfolglos. Innert kurzem hatte ein anderer Herr in Anzug mit ihm ein Bewerbungsgespräch geführt, ihm seinen Traumjob versprochen: Den ganzen Tag als Videospiel-Held in einer Simulation verbringen, auf der ganzen Welt, gar im All unterwegs, ausgestattet mit den kuriosesten Waffen und Fähigkeiten. Jeden Abend konnte er die Elektroden vom Kopf nehmen und in die reale Welt zurückkehren. Selbstverständlich hatte er zugesagt – und ebenso selbstverständlich hatte er sich erkundigt, für was denn die Regierung solche Leute anstelle. „Wir brauchen die Daten“, wurde ihm mysteriös zur Antwort gegeben und danach eingebläut, nie mehr Fragen zu seiner Arbeit zu stellen. Zu sehr mochte John seinen Job, er hatte diese Regel seither niemals gebrochen.
Eben fuhr der Zug aus einer Station aus und bei einem Blick auf das Display fiel dem jungen Mann ein komisches Flimmern in seinem peripheren Gesichtsfeld auf. Entnervt rieb er im Auge, um den Flitz wegzubekommen und brummte: „Heute wohl ein paar Überstunden zu viel gemacht, was?“
In den meisten Simulationen war er ein Agent oder Elitesoldat – quasi das klassische Actionspiel, nur so, als würde er es am eigenen Leib erleben. Er hatte schon alles gemacht, vom Helikopter abseilen über Bomben basteln bis hin zum Beseitigen einer Blutspur. Nur die ersten paar Male, als er starb, waren sehr verstörend, so wie in einem Albtraum, nur fühlte es sich unheimlich real an – bis auf die Schmerzen, die es zum Glück nicht gab. Einzig einmal war John mit einer Kratzspur aufgewacht, die dem Techniker genauso rätselhaft war wie ihm. Diese hatte er aber rasch mit der Vermutung abgetan, er habe sich beim Rasieren geschnitten, soll ja vorkommen. Und so kehrte er fünf Tage die Woche zurück in das Regierungsgebäude, in dem offiziell eine Zweigstelle des Finanzamts untergebracht war, ließ sich Elektroden auf der Stirn befestigen und erlebte die tollsten Action-Shooter, die es nicht auf dem Markt gab, realistischer, als er es für möglich gehalten hatte. Nur ganz selten kam es zu einem kleinen Bruch in der Simulation, einen Framedrop hier, schlechtes Anti-Aliasing da. „Ich frage mich sowieso, wieso es in einer Simulation überhaupt Pixel braucht, ich meinte, mein Hirn ist analog?“, sinnierte John, nur um die Überlegung sogleich abzutun. „Was soll’s, ich bin ja kein Biologe.“
In wenigen Stationen wäre die U-Bahn endlich am Ziel und John freute sich bereits auf ein kühles Bier vor der Glotze. Nur dieses komische Gefühl, das erneut für einen Sekundenbruchteil das gleichmäßige Rütteln des Zuges unterbrach und ihn aus dem Takt brachte, ärgerte ihn. „So langsam mache ich mir Sorgen um den Motor von dem alten Schüttelbecher. Ich hoffe, der hält durch, bis ich zuhause …“ Da war es wieder! Kaum spürbar, nur ein Wimpernschlag, gerade genug, um störend zu sein, ohne wirklich aufzufallen. Irgendwas daran fühlte sich für John ungewohnt vertraut an, kaum wie ein defekter Zugmotor, sondern eher wie ein Framedrop in einer der Simulationen, die er täglich durchspiele. Ganz so, als würden die 144 FPS für einen Sekundenbruchteil auf knapp 60 fallen und … „Scheiße.“
Das war unmöglich, oder? Mit einem wachsenden Klumpen der Angst im Magen sah sich John im Wagen um. Alles sah aus wie immer, richtig? Die alten Sitzbänke, hier und da ein Filzstift-Tag, die Ortsnamen auf dem Display stimmten auch. „Mein Kopf spielt mit Streiche“, lachte er und machte es sich erneut bequem. „Das wäre ja noch schöner, wenn ich in einer Simulation … verdammt!“ Nun sah er es, die Abdeckungen der Leuchtstoffröhren, die sich der Decke lang durch den ganzen Wagen zogen, hatte Ränder, die leicht abgestuft wirkten, so als käme der Grafikprozessor nicht ganz hinterher. Nach einem Moment war der Effekt verschwunden als sei er nie dagewesen. Panisch überlegte John, was er tun konnte. Bildete er sich das nur ein? War das überhaupt möglich? Und falls ja, was hätte irgendwer davon?
Schmerz, fiel es ihm ein. Die Simulation hatte jeweils kein Schmerzempfinden emuliert, er musste einfach etwas schmerzhaftes tun, dann holte ihn die Realität sofort wieder ein. John holte aus und schlug mit der Faust hart gegen eine Haltestange. Das Geräusch hallte durch den Wagen, ein weiterer, subtiler Ruck war zu spüren und der junge Mann starrte entsetzt auf seine Hand.

Autorin: Sarah
Setting: U-Bahn
Clues: Kratzspur, Bissspur, Bremsspur, Fußspur, Blutspur
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