Hitchcocks Vögel – Ein Amselmärchen

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

„Scha-haatz?“, zwitschere Amsela durch das geräumige Loft, in das die Familie Hitchcock vor einigen Wochen eingezogen war. Amselino, ihr langjähriger Partner, hüpfte heran und erkundigte sich, mit dem Schnabel am Nestrand zupfend: „Was denn?“
„Wenn du zum Markt gehst, könntest du noch eine Packung Snackinsekten für die Kleinen mitbringen? Sie sind so verdammt verfressen!“
Wie um die junge Mutter in ihrer Aussage zu bestätigen, schossen fünf Schnäbel nahezu gleichzeitig aus dem Nest, das in einem geschützten Winkel des Baumhauses stand. Amsela seufzte, verdrehte die Knopfaugen und kommentierte trocken: „Na super, jetzt können sie schon synchronbetteln.“
Amselino hätte sicherlich gelacht, nur war er eine Amsel und wie jedes Kind weiß, können Amseln nicht lachen. Stattdessen pickte er amüsiert sein Gefieder, melodisch entgegnend: „Klar, bin bald wieder da.“
„Aber bring bitte nicht das eklige Zeug vom Wurmdealer an der Straßenecke mit, ja?“, krähte sie ihm hinterher, was er mit einem Zucken der Schwanzfeder quittierte. Wieso sagte sie ihm das? Amselino sowieso, dass lediglich Premium-Nahrung für ihre Kleinen in Frage kam, diese Meinung teilte er uneingeschränkt.
Mit zwei ungelenken Hüpfern war er am Abgrund ihres Lofts angelangt, sprang und flatterte hektisch davon. Amsela blickte ihm kurz hinterher, als erneut wieder das hochfrequente Fiepen ihrer Fünflinge erklang. „Echt toll“, gurrte sie auf dem Weg zu der plärrenden Meute. Heute war ihr kaum danach, ihren Hintern aufzuplustern und sich damit auf dieses zufällig wirkende Potpourri aus Vogel-Teilen zu setzen, aus dem ab und an ein Schnabel in die Höhe reckte. Deshalb knipste sie die Brutlampe an, welche sie extra für ihre demotivierten Stunden montiert hatte, lehnte sich zurück und fragte: „Na, wollt ihr eine Geschichte hören?“
„Essen, essen, essen“, fiepten die Ämselchen, wobei sich die Mutter ächzend den Flügel vor den Kopf schlug. „Essen kommt demnächst, ihr Quälgeister!“
„Dann Geschichte“, zirpte das Kleinste, das zugleich das vorwitzigste Küken war. Es hörte auf den Namen Amsul; wenn es überhaupt hinhörte, denn eigentlich tat es nicht viel anderes als zu essen, zu schreien und zu schlafen. Ach, und gestern hatte es seinem Brüderchen auf den Kopf gesch… Rasch verdrängte Amsela diese unangenehme Erinnerung, ja es gab sie, die Dinge, die man am Elternsein hasste. Dafür wurde sie mit einem Nest voller starker Küken belohnt, die sich gerne Geschichten anhörten; wenn sie etwas anderes taten als lauthals nach Nahrung zu verlangen. Was sollte sie ihnen heute vortragen? Letzthin hatte sie das Nest mit der Legende von Mr. Speedbird unterhalten, der ersten Amsel, welche die Schallmauer durchbrochen haben soll. Man erzählte sich, sein Schnabel sei danach glühend rot statt leuchtend gelb gewesen.
Nach langem Überlegen fiel ihr eine Annektote aus ihrer Kindheit ein, die passende Story! „Okay, Vögelchen, versammelt euch.“ Übergroße Köpfe wurden schwankend aufrechtgehalten und dann entspannt auf dem Nestrand platziert. Erwartungsvoll öffneten sich kleine Äuglein, nur um sogleich wieder zuzufallen.
„Kennt ihr die Geschichte vom Raubvogel und dem Eierschneider?“, begann sie rhetorisch, die Antwort wohl kennend, bevor sie eine dramatische Pause machte. „Ihr seid in den letzten Tagen genug gewachsen, seid also für euer erstes Schauermärchen bereit …“

Es war einmal eine schelmische Eule, die einen finsteren Plan verfolgte. Jeden Abend schlich sie im Schutze der Dämmerung in die Nähe des benachbarten Amselnestes, auf einen günstigen Moment zum Eierklau wartend. Wie jede Amsel wusste, kochen Eulen die Eier, zerlegen sie dann mit dem Eierschneider und machen sich damit belegte Brötchen.
An einem verhängnisvollen Frühlingsabend war es so weit; die Eule hatte Wasser aufgesetzt, ein Transportnetz hervorgeholt und auf einen Ausflug der brütenden Mutter gewartet. Sogar eine Räubermaske hatte sich die schelmische Eule angezogen, damit niemals jemand den Täter identifizieren konnte, schließlich waren überall Überwachungskameras befestigt. Leise glitt der unförmige Vogel mit den bösen Absichten vom Baum und landete beim Amselnest. Sie machte sich bereit, die Eier einzupacken, spannte das Netz auf, da …
Ein Ei bewegte sich, rollte im Stroh herum, brach entzwei! Zum Vorschein kam ein junges Amselchen, blind und nackt! Die schelmische Eule flatterte vor lauter Schreck panisch davon, ganz vergessend, dass Amselküken auch in ihr Beuteschema passten.
Seither hat niemand die Eule mehr gesehen, doch sie ist da draußen, wetzt ihren Eierschneider und wartet auf die nächstbeste Gelegenheit, sich frische, türkisfarbene Amseleier für ihre Sandwiches zu holen.“

Amselino, im Schnabel ein gelbes Einkaufsnetzchen voller Futter, manövrierte elegant zwischen Bäumen und Häuserblöcken hindurch. Er machte sich Gedanken über Aerodynamik: Vielleicht hätte er weniger Nahrung auf einmal laden sollen, immerhin erforderte das Flügelschlagen gerade eine unglaubliche Kraft, sein Paket bot unnötig viel Luftwiderstand. Andererseits waren die Fünflinge eine gefräßige Bande, deren Hälse gestopft werden mussten und er war froh, sich einen weiteren Ausflug zu sparen. Nicht zuletzt weil er es  so bis Einbruch der Dunkelheit zurückschaffen würde und sie alle im behaglichen Schein der Brutlampe ihr Dinner genießen konnten.
„Verdammt, hast du ‘nen Vogel?“, pfiff er einer fülligen Blondine hinterher, deren Kopf er im allerletzten Moment ausweichen konnte. Dank seinem weiten peripheren Sichtfeld erkannte er, wie sie ihm den Vogel zeigte. „Echt, ich sollte mich besser auf den Verkehr hier achten“, ermahnte sich Amselino selbst. Der junge Vater hatte sich noch nicht an seine neuen Aufgaben gewöhnt, sie machte ihn mehr als bloß ein bisschen zu schaffen! Erst gestern hatte er ein Lichterkettenlämpchen für eine Frucht gehalten und darauf herumgepickt, danach war er zu allem Übel auch noch in den Ranken vor dem Nest stecken geblieben! Was für ein Leben, wie sollte er da sein Amselhirn bei der Sache haben können? Irgendwann würde er abgelenkt, bliebe mit seinem gelben Schnabel in einem Hindernis hängen, fürchtete er. Trotz alledem liebte er seine Kleinen, die langsam flauschig wurden und freute sich darauf, sie zu sehen. Das Baumhaus war bereits in Sichtweite, es wurde Zeit für einen eleganten Landeanflug. Hastig ging Amselino die Checklist zur Landevorbereitung durch: Beine ausfahren, check. Geschwindigkeit verringern, check. Mit Landeklappen flattern, check. Gleich wäre er zuhause, er konnte schon das von einem begabten (und verdammt teuren) Sprecht gravierte Türschild „Familie Hitchcock“ lesen.

„Mom“, tschiepte Amsilia, das größte Küken,. „Wenn Eulen real sind, müssen wir dann Angst haben?“
Amsela hüpfte auf den Nestrand und legte beschützend einen Flügel auf ihr Kind. „Nein, aber vorsichtig sein. Hier drin seid ihr sicher, aber sobald ihr das erste Mal ausfliegt, solltet ihr euch vor Raubvögeln in Acht nehmen, denn …“
„Hilfe, der Eierschneider!“, schrien die fünf Jungen unisono, als am Eingang etwas raschelte. Amsela fuhr herum und nahm ihre bedrohlichste Verteidigungsposition ein, nur um sich einem überdimensionalen, gelben Netz gegenüberzusehen, das aus dem Schnabel ihres Mannes hing. Mit einem trockenen Krächzen rief sie über die Schulter: „Kinder, ihr wisst nicht, was ein Eierschneider ist, oder?“

Autorin: Sarah
Setting: Baumhaus
Clues: Amsel, Brutlampe, Eierschneider, Raubvogel, Verteidigungsposition
Sämtliche in dieser Geschichte vorkommenden Amseln sind frei erfunden – jegliche Ähnlichkeit mit Sarahs Redaktionsamseln ist rein zufällig.
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2 Gedanken zu „Hitchcocks Vögel – Ein Amselmärchen“

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