Special zur fünfhundertsten Story | Die Bleistifte des Herrn C. aus W.

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Wonnig seufzend legte Herr C. aus W. seinen abgewetzten Bleistift beiseite und schüttelte seine Handgelenke kräftig. Wie nahezu jeder Schriftsteller litt der Mittvierziger unter einer dauerhaften Sehnenscheidenentzündung und hatte gelernt damit zu leben, denn selbst die regelmäßigen Pausen halfen nicht. Lediglich wenn er länger Urlaub von seinem Handwerk nahm, war er schmerzlos, ein Luxus, den er sich nur selten gönnte, schließlich fiel ihm das Nichtschreiben schwerer als das Ertragen der chronischen Entzündung.
Herr C. aus W. sah auf seinen handgeschriebenen Entwurf, schob den Papierstapel vorsichtig zusammen, sodass Kante auf Kante lag. Fein säuberlich sortiert, genau so mochte er seine Arbeit wie sein Leben. Dann erlaubte er es sich, aufzustehen, um einen Kaffee zu holen. Wobei, sinnierte er, zur Feier des Tages dürfte es ein Whisky sein. Es war weit nach Mitternacht und sein neuester Roman aufgesetzt. Nun wartete bloß noch die Überarbeitung, das wollte einerseits gefeiert werden, andererseits konnte es nicht schaden, sich etwas Mut für die kräftezehrende Revision anzutrinken. Auf dem Weg zur Minibar fiel ihm ein: Sein Bleistift war arg kurz geworden und beim Schreiben kam es zweifelsohne auf die Länge an. Zumindest war sein Arzt der Ansicht, Stummelbleistifte würden von verkrampften Händen gehalten und das wiederum sei seinen Beschwerden keineswegs zuträglich. Widerwillig trottete Herr C. aus W. an den PC mit der Absicht, den Webshop seiner Lieblingspapeterie zu besuchen. Seit über fünfzehn Jahren bestellte er dort seine gelben Bleistifte der Marke Megalograph und zwar stets eines, nie mehr, nie weniger. Ja, Ordnung war ein Muss, egal um was es ging.

„Ich komme sofort“, rief Herr C. aus W. durchs Haus, bevor er den langen Flur entlang zum Eingang eilte. Neun Uhr morgens, niemand außer dem Briefträger der Gemeinde W. könnte sich trauen, den als griesgrämig bekannten Sonderling dermaßen früh zu stören. Herr C. aus W. öffnete in seinen Morgenmantel gehüllt, die Kaffeetasse in der Hand, die Tür und in der Tat hielt ihm der Postbote ein gelbes Paket mit dem Logo des Schreibwarenhändlers entgegen. Seinem Ruf, ein Misanthrop zu sein zum Trotz, begrüßte er den uniformierten Gesellen lächelnd und bedankte sich gar dafür, seinen langersehnten Megalographen ungeachtet der Schlechtwetterfront geliefert zu bekommen.
In die Küche schlurfend betrachtete er die Schachtel, diese war grösser sowie schwerer als bei den vorherigen Sendungen, vermutlich randvoll mit unnötigem Pack- und Werbematerial. Zufrieden machte es sich Herr C. aus W. am Tisch bequem und riss vorfreudig auf den Geruch eines frischen Bleistifts den Karton auf. Er gedachte die Blasenfolie in Viertel zu falten und für den späteren Pausenspaß aufzubewahren, doch kaum hob er die Folie an, erstarrte er. Ungläubig, vollkommen perplex blickte der Autor auf einen vermeintlich soliden Block aus unzähligen, exakt aufgereihten, gelben Bleistiften.
Es hatte eine Weile gedauert, ehe Herr C. aus W. seine Fassung wiedererlangte und mit zitternden Fingern den Lieferschein aus der Box herausklaubte. „Bleistift Typ Megalograph HB“, stand da. Soweit ganz normal, der anschließende Text war allerdings alles andere als beruhigend: „500 pcs.“ Die Schrift in Arial 12 flimmerte für einige Lidschläge vor seinen Augen, seine geordnete Welt, in der Papier akkurat gestapelt war und Bleistifte ausschließlich in Paketen von einem kamen, kam ins Wanken. „Du meine Güte“, brummte er, wohl wissend, dieses Bleistiftdesaster würde ihn vom Schreiben abhalten, bis er es beseitigt hatte.
Umständlich kramte er das Smartphone aus den Tiefen seiner Morgenmanteltaschen, öffnete den Rechner und tippte verbissen Zahl um Zahl. „Bei fünfhundert Bleistiften und einem Verbrauch von …“, sogleich legte er das Gerät weg. Sein Verdacht hatte sich, wie sollte es auch anders sein, bestätigt: Der Bleistiftberg wäre selbst nach seinem Tod nicht mal ansatzweise abgearbeitet. Er musste die Variablen ändern, vielleicht pro Tag eine Stunde länger schreiben oder rigide Kaffeepausen streichen. Nein, auch das ging nicht auf. Was, wenn hier und da ein Bleistift brach, er keinen Urlaub machte, es seine Einkaufslisten mit denselben Bleistiften statt dem Kugelschreiber notierte, sich einen Brieffreund suchte? Immer weithergeholter wurden seine Szenarien, immer unwohler Herr C. aus W., bis er schlussendlich zur simplen Lösung kam: Er musste die Bleistifte umgehend zurückgeben, bevor sie ihn endgültig in den Wahnsinn trieben!
Hastig öffnete der den Browser, recherchierte die Telefonnummer seiner Stammpapeterie und wählte nervös die Ziffern 055-555-00-55. Unverzüglich schepperte der elektronische Dreiklang durch seine Gehörgänge, gefolgt vor der altbekannten Ansage: „Kein Anschluss unter dieser Num…“

Herr C. verließ W. äußerst selten das Haus, verbrachte ohnehin den Großteil seiner Tage in seinen vier Wänden, aber verzweifelte Zeiten erforderten nun eben drastische Maßnahmen. Eine Woche lang hatte er versucht, vierhundertneunundneunzig der fünfhundert Bleistifte wegzupacken, sie in einem gewissenhaft zugeklebten Karton an einer passenden Stelle im Estrich zu verstauen. Ohne Erfolg. Kein Ort und keine Schachtel waren korrekt, zumal seine Ordnung weder Ort noch Schachtel für vierhundertneunundneunzig Bleistifte vorsah und so geisterten sie ständig in seinem Hinterkopf herum. Schimären sondergleichen Ausmaßes. Also hatte sich der Schriftsteller für die nächste Möglichkeit entschieden. Mit einer Einkaufstüte, welche seine vierhundertneunundneunzig überzähligen Bleistifte enthielt, schlenderte er über den Hauptbahnhof der nahegelegenen Stadt C. und stieg in die Straßenbahn. Der Tramwagen fuhr quetschend los und Herr C. aus W. schaute sowohl prüfend als auch erleichtert in seine Tasche. Gleich wäre er die gelben Spieße, die in seinem Bewusstsein steckten, es langsam ausbluten ließen, los und sein Alltag könnte die üblichen Bahnen ziehen. Dieses unausstehliche Chaos sollte bald ein Ende finden! Ein Lachen unterdrückend fragte er sich, wie es dazu gekommen sein mochte, dass ihm der Händler fünfhundert Stück der vermaledeiten Griffel anstelle des georderten einen geschickt hatte. Mit kribbelnden Fingerspitzen dachte er bereits an den Abend und konnte es kaum erwarten, sich mit einem Glas seines vorzüglichen Single Malts an die Überarbeitung zu machen. Die herbeigesehnte Haltestelle erschien und er schielte ein klein wenig wehmütig auf seine Tüte hinunter. Irgendwie, so aberwitzig es klang, würde er seine gelben Freunde vermissen.
Herr C. aus W. hüpfte salopp aus der Straßenbahn und ging die paar Meter zum Geschäft, ohne seine Tasche mit der immensen Last unbeobachtet baumeln zu lassen. Erst vor der Tür zur Papeterie schaute er hoch und sogleich stockte ihm der Atem. Auf schmutzigem Schaufensterglas klebte ein handgeschriebener Zettel: „Leider wurde unser Betrieb wegen einem Todesfall geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis und Ihre Treue.“ Sich an einem letzten Rest Hoffnung festhaltend, forschte er nach Informationen dazu, wann der Laden wieder aufmachte, jedoch erlosch der Lichtschimmer am Horizont, als er einen weiteren Zettel im Fenster entdeckte. Jener besagte, ein Audio-Zubehör-Shop böte hier in baldigster Kürze seine Waren feil.
„Verdammt, wieso?“ schrie Herr C. aus W. zum Himmel. Statt einer Antwort aus den Wolken, schwirrten ihm verwunderte Blicke und leises Getuschel einiger Passanten entgegen.

Eine knappe Woche war seit seiner Odyssee vergangen. Herr C. aus W. saß unruhig mit dem Bleistiftstummel auf die Unterlage trommelnd an seinem Schreibtisch und überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Mit einem der neuen Bleistifte zu schreiben war keine Option, denn eine unsinnige Anzahl von vierhundertneunundneunzig unberührten Bleistiften im Haus zu haben war ein unüberwindbar gruseliger Gedanke. Nein, die Stifte mussten weg, vorher könnte er unmöglich seine Arbeit wieder aufnehmen. Leider hatten ihn seine Eltern zu gut erzogen, der Mülleimer blieb für neue Dinge blieb. Auch auf Ebay wollte sich keiner für seine vierhundertneunundneunzig Bleistifte begeistern, schon gar nicht für fünfhundert Euro. Wahrscheinlich hätte er vierhundertneunundneunzig Euro verlangen sollen, nur hing sein Herz zu sehr an geraden Zahlen.
W. war ein kleines Städtchen, fiel Herrn C. aus W. ein, es wäre durchaus machbar, alle Bleistifte in die Briefkästen der Anwohner zu verteilen, dann wäre die Sache geritzt. Zaghaft optimistisch öffnete er die Gemeindewebsite, danach klickte er auf einen vielversprechenden Link zu den Einwohnerstatistiken. Im nächsten Moment machte sich wieder Enttäuschung breit. Einhundertdreiundachtzig Seelen hatte das gottverlassene Kaff, der Bauboom war schändlich ungenutzt hier vorübergezogen.
Murrend und gegen seine Oberschenkel klopfend stapfte Herr C. aus W. zwecks Kaffeebrauabsicht in die Küche. Sobald er den Lichtschalter berührte, zerplatzte im Flur eine Glühlampe mit einem lauten Knall und Herr C. aus W. stieß sich die Zehen. Sein Leben war wie verhext, dachte er bei sich, während er wüst zeternd zum Schrank humpelte, um eine Ersatzlampe zu holen. Ob das wohl an den vierhundertneunundneunzig überschüssigen Bleistiften lag?
Mit einer Sechzig-Watt-Glühbirne in der Hand, kam ihm eine Idee. Was, wenn er alles in seiner Wohnung den Bleistiften anpasste, zumindest solange er deren Präsenz in seinem Domizil zu erdulden hatte? Ja, könnte es sein, erwog er allen Ernstes, dass diese dramatische Umstellung den Bleistiftfluch entzweibrechen könnte, so … Nun, so wie einen Bleistift? Also legte er seine kümmerliche Sechzig-Watt-Glühbirne zurück aufs Regal und machte sich daran, im Netz nach einem Anbieter für Fünfhundert-Watt-Glühbirnen zu suchen.

Indigniert schloss Herr C. aus W. die E-Mail von der Gemeindeverwaltung, in welcher ihm der Gemeindeschreiber erklärte, weshalb er einen Markstand, an dem gerademal vierhundertneunundneunzig Bleistifte im Angebot wären, nicht genehmigen werde. Der Platz sei ohnehin zu knapp und die lokale Papeterie, die keine Megalograph, sondern Grandiopen-Stifte führte, habe mit ihrem weitaus umfangreicheren Sortiment den Zuschlag erhalten.
Dies war der letzte Strohhalm gewesen. Mehrere Wochen hatte er mit steigender Verzweiflung alle denkbaren Wege durchprobiert, seine Sorgenkinder loszuwerden und nun fiel ihm nichts weiter ein als zu kapitulieren. Er hatte redlich genug davon, seine Gewohnheiten nach den Bleistiften zu richten, nur Fünfhundert-Euro-Scheine abzuheben, fünfhundert Erbsen, Reiskörner und Klopapierblätter abzuzählen. Sein Bemühen war so oder so nutzlos, denn als er sich am Vortag seinem Roman gewidmet hatte, stellte er nach anderthalb Stunden in einer Art Schreibdelirium fest, dass sich jeder überarbeitete Satz in dem Manuskript um Bleistifte drehte. In wütender Manie hatte er dann den ganzen Stapel Papier in kleine Happen zerrissen und sich gefragt, ob es nicht klüger wäre, anstelle davon, mit dem Bleistift zu schreiben, den Computer zu benutzen. Die fünfhundert Bleistifte könnten also, gemeinsam in brav runder Zahl, auf dem Dachboden verschwinden. Ein absurder Einfall, wie er fand, regelrecht lächerlich. Der PC war zur Überarbeitung top, zum Aufsetzen aus seiner Sicht keinesfalls zu gebrauchen und wenn ihm diese verteufelten Griffel derart aufs Gemüt drückten, wären sie bestimmt auch für die tragenden Wände des Gebäudes eine zu hohe Belastung, stapelte er sie zuoberst.

„Vierhundertachtundneunzig, Vierhundertneunundneunzig, fünfhundert!“, zählte Herr C. erschöpft, als er endlich die letzte Treppenstufe erklomm. Das Aufstehen war wie das Zubettgehen zum Albtraum geworden, da Herr C. aus W. zwar an die zwanzig eingebauten, nicht aber an die fünfhundert bleistiftbedingten Stufen gewohnt war. An seine Arbeit dachte er schon seit über einem Monat nicht mehr, zumal alles nach der Fünfhundert zu sortieren all seine Zeitreserven beanspruchte. Sogar die fünfhundert Minuten Schlaf exakt einzuhalten gestaltete sich äußerst schwierig und war eine Aufgabe, die allein mit starken Schlafmitteln zu bewältigen war, die ihn innerhalb weniger Sekunden eindösen ließen. Immerhin musste er seine Bartstoppeln nicht zählen, außer …
„Halt!“, schalt er sich bellend. Diese impertinenten Bleistifte mussten weg! Einen anderen Ausweg sah Herr C. aus W. nicht. Suizid war keine Lösung, außer es fände ein Medikament, das eine letale Dosis von exakt fünfhundert Milligramm hatte. Ein Strick von fünfhundert Millimetern war für den Hals zu kurz, einer mit fünfhundert Zentimetern für die Deckenhöhe zu lang, die Bahn fuhr auch keine fünfhundert Kilometer pro Stunde und wie er sich mit fünfhundert Kugeln erschießen könnte, blieb ihm partout ein Rätsel. Selbst seine Schwester war wenig hilfreich, denn die brächte ihre Kinder mit zum Besuch und davon hatte sie bloß drei. Solange sie keine weiteren vierhundertsiebenundneunzig zeugen wollte, hatten die in seinem Heim nichts verloren.
Entmutigt ließ sich Herr C. aus W. am Schreibtisch nieder und packte die Schachtel, welche der Briefträger vor genau fünfhundert Stunden vorbeigebracht hatte, aus. Die fünfhundert Milliliter seines Single Malts schwappten gefährlich hoch zum Rand des übergroßen Glases. Beinahe wäre sein Stifte-Mikado nass und die Whisky-Portion verfälscht geworden.
Zum ersten Mal seit Beginn des Desasters lagen sie vor ihm ausgebreitet, die gelben Übeltäter. „Ihr seid schuld, ihr ganz allein!“, schrie er die Bleistifte an, ehe er eines aufhob und zornig auf den Boden schleuderte. „Eins.“ Schwach griff er nach einem zweiten und wiederholte den Prozess, dann nach einem dritten, welches ebenfalls geworfen sowie gezählt wurde.

Herr C. aus W. wusste nicht wie lange es gedauert hatte, aber schließlich langte er beim letzten Bleistift an, pfefferte es auf die Dielen und krächzte: „Vierhundertachtundneunzig.“ Erst jetzt dämmert ihm, was gerade geschehen war. Neben ihm lag nur noch der eine, der auserwählte Bleistift, doch kein zweiter! Es waren nicht fünfhundert, sondern von Anfang an die gefürchteten vierhundertneunundneunzig gewesen! „Eine Farce“, kreischte der Schriftsteller nun vollends dem Wahnsinn und Whisky verfallen, bevor er auch den letzten Stift in den Haufen warf. „Alles was ich getan habe, war völlig sinnlos, von der Nummer auf dem Lieferschein in die Irre geleitet.“ Herr C. aus W. begann zu lachen. Er lachte so sehr, dass er nicht mehr aufhören konnte, kippte vom Stuhl und kam inmitten der vierhundertneunundneunzig unschuldig-gelben Bleistifte zu liegen.

Autorinnen: Rahel und Sarah
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