Diamantenfeld

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Er rannte durch das Nichts und jagte die flimmernden Sonnenstrahlen, die durch den dichten Wolkennebel brachen. In diesem Moment war es ihm so, als wären sie die letzten, die noch übriggeblieben waren, nicht um zu heilen, was kaputt war, sondern um ihre Geschichte von der ersten Seite an neu zu erfinden. Und irgendwann, als seine Kräfte dem Ende nahten, rief sie ihn und entriss ihn seinen düsteren Gedanken der Hoffnung, denn Hoffnung, so hatte er bereits als Kind gelernt, war ein gefährliches Ding. Sie trug schwere Stiefel, eine graue Hose mit vielen Taschen und eine leichte, transparente Sauerstoffmaske, ohne die niemand von ihnen hätte hierherfinden können. „Ich schlage eine kurze Rast vor“, brachte sie zwischen zwei keuchenden Atemstössen hervor und alsbald er seine Hand hob, um den Rucksack abzustreifen, ließ sie sich erschöpft und dankbar auf den feuchten Boden fallen.
„Wie lange noch, bis wir den Fall erreichen“, wollte sie kleinlaut erfahren, wusste sie doch, dass er nur wenig Verständnis für ihre Konditionsschwächen hatte. Er, der sich jahrelang auf diese Expedition vorbereitet hatte, schüttelte lediglich den Kopf, ohne Vorwurf, doch mit einer Bestimmtheit, die sie in Zukunft von solchen Fragen abhalten würde.

Mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen schloss sie die Augen und genoss den warmen Wind, der über die steilen Klippen emporstieg und die Erinnerung von Normalität in ihre Gesichter trug. Er beobachtete seine Forschungsaßistentin eine Weile und dachte an die Zeit zurück, als er dieses Ökosystem zum ersten Mal betreten hatte. Es war überwältigend gewesen, so bezaubernd und außerirdisch fantastisch, dass die Worte in seinem Journal blasphemisch gewirkt hatten. Damals hatte es das Warnschild vor dem Aufstieg noch nicht gegeben, denn bis dahin hatte niemand jemals einen der Felsen berührt gehabt und niemand hatte wissen können, dass sie zum schmalen Grat eines Senkloches führten. Jones hatte dieses Unwissen mit dem Leben bezahlt und hatte sein Grab im versenkten Wald gefunden, dessen Gier nach Licht niemals ausreichen würde, um die große Weite des Hochplateaus zu erreichen. Eduard Jones, der Botaniker, war der einzige geblieben und sein Opfer wurde nach jeder Landung mit einer Distel aus seiner Deutschen Heimat gewürdigt.

Diese andere Welt, gezeichnet von fremden Wäldern, Rinnsalen und bizarren Felsformationen, hatte sie fest in ihrem Griff, ließ sie für keine Sekunde vom Staunen ablassen und vergessen, wo sie waren. Hier, hoch über allem Irdischen, wo Diamantenfelder als Teil einer durchlässigen Realität existierten und der Nebel tropfte, waren sie angekommen, obwohl das Ziel noch weit entfernt lag.
Ein Blick zur Seite versicherte ihm, dass sie noch immer in Träumen gefangen die leuchtenden Farben durch den Nebel sog und er ungestört war. Mit Eile durchforstete er die Außentasche seines Wanderrucksackes und ertastete mühelos seine schlanke Privatkamera, deren verschlüsselte Formatierung nur demjenigen Zugang zu den Bilddaten geben würde, der das Passwort kannte. Manchmal schien es ihm so, als würden seine geheimen Beobachtungen die Antworten auf alle Fragen in sich halten, doch in Wahrheit gab es kein Geheimnis außer seinem eigenen.

Gemächlich erhob er sich, nickte ihr vielsagend zu, um sie wissen zu lassen, dass sie sich getrost noch einige Minuten würde ausruhen können und wanderte, nun wieder in tröstender Einsamkeit, zur Kante des Wasserlochs, welches wie ein weiter, schier unmenschlich tiefer Brunnen inmitten der Ebene klaffte. Schicht um Schicht lag der Fels unter ihm, unberührt seit Äonen. Das klare Wasser rann an ihm herunter in die Tiefe und hinterließ eine Spur von dunklem Stein und Moos, bevor es mit stoischer Kraft damit begann, die Höhle weiter in den Fels zu treiben. Das Ausmaß der unterirdischen Kammer war nur zu erahnen und er vermutete, dass sie während seiner verbleibenden Jahre niemand betreten würde. Für einen flüchtigen Augenblick erleuchtete der Lichtblitz seiner Kamera den versenkten, vom Fels eingezäunten See und er konnte den gelblichen Schimmer des einst kristallenen Wassers einfangen.

Als er zum Rastplatz zurückkehrte, entdeckte er seine Assistentin, die gedankenverloren auf dem Bauch lag und beobachtete, wie ein aus Afrika stammender Frosch eine Fliege aus den klebrigen Fängen einer fleischigen, leuchtend roten Pflanze stahl. Sie bemerkte ihn nicht, als er an ihr vorbeischritt, seine Kamera verstaute und den Rucksack schulterte, so sehr war sie vom Schauspiel gefangen. „Lasst uns weitermarschieren“, sagte er und wandte sich ohne auf sie zu warten zum Gehen, denn er hatte keinen Nerv dafür, zuzusehen wie sie all den Nippes, welchen sie unnötigerweise immer mitschleppte, einpackte. Sine gleichmäßigen Schritte schmatzten im feuchten Moosboden und begannen kurz darauf zu knirschen, als er den grotesken Felsenwald betrat, dessen brachiale Schönheit sich bisher jeder Erklärung entzogen hatte. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis ihre hellen Augen seine erste Erfahrung mit dem Rand der Welt wiederholen würden. Das war der Grund, weshalb er darauf bestand, junge Forscher auf seine Expeditionen mitzunehmen, nicht weil er glaubte, nicht weil er die atemberaubende Realität der Natur mit ihnen teilen wollte, sondern weil er die Reflexion seiner unbändigen Liebe zu ihr in den jungen Augen sehen konnte.

„Ich brauche ein Fußbad, wenn wir zurück sind“, lachte sie heiter, als sie die Distanz zu ihm im Trab überwunden hatte, ohne zu realisieren, dass sie seine innere Ruhe störte. Er nahm es ihr nicht übel, zumindest nicht sehr, denn sie konnte mit ihrer deutlich sichtbaren Begeisterung für die endogene Flora und Fauna beinahe jede Unannehmlichkeit wettmachen. Und dann, als er ihre Konversationsbemühungen endlich mit einer Antwort belohnen wollte, lichtete sich der Nebel.
Die Wolken fielen milchig und zähflüssig über den Abgrund und verschleierte die wahre Höhe des Plateaus und nur dort, wo der Wasserfall über neunhundert Meter in die Tiefe stürzte, wurden sie mitgerissen und gaben den Blick auf die Welt unter ihnen preis. Er unterdrückte den Impuls seinen alternden Körper der Flut anzuvertrauen und blickte in das erstarrte Gesicht seiner Assistentin. Pure, unverfälschte und demütige Freude übermannte sie und es war ihm, als könnte er hören, wie ihr Herzschlag verstummte. Sie öffnete ihren Mund und wollte der reinen Emotion in ihrem Geist Gehör verschaffen, doch alles was sie zu Stande brachte, war ein heiserer Schrei. Mount Roraima mit all seinen Bewohnern, den Kelchpflanzen, Steinwesen, Insekten, Wäldern und Flüssen, schien sich wie eine riesige Arche durch das Wolkenmeer zu pflügen. Der Bug spitz und das Deck flach, bedeckt mit Feldern, in denen die Eingeborenen Diamanten zu finden glaubten. An einem unwirklichen Ort wie diesem nicht die wahrhaftige Schönheit der Natur zu erkennen, sie nicht in ihrer Ganzheit erforschen zu wollen, wäre eine Sünde. Nur hier fühlte er sich seiner selbst nahe, als könnte er seine Träume berühren und nichts, weder Diktatur und Ikonoklasmus, noch der Verlust seiner Liebsten, stand zwischen ihm und tiefer Glückseligkeit. Denn hier, auf dem Berg, der über der Welt thronte, als wäre er aus über sie hinausgewachsen, schien die Möglichkeit seine eigene Geschichte aufs Neue zu erfinden, unendlich.

Autorin: Rahel
Setting: Hochplateau
Clues: Nippes, Warnschild, Formatierung, Ikonoklasmus, Fußbad
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