Dunkelbirne

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

„Ey, schön dich zu sehen. Wie geht’s?“, rief Arif, winkte und marschierte mit ausladenden Schritten auf ihn zu. Jeder freute sich, wenn Sandro im Sortierzentrum erschien, hier war er nicht eine Arschgeige ohne Aufgabe, sondern eine Erleichterung. Sein Spitzname war Bonus, denn anders als die restlichen Mitarbeiter wurde er nie eingeplant, er tauchte einfach ab und an auf, wenn er stabil genug war. Derzeit schaffte er es tatsächlich wöchentlich zur Arbeit, teilweise sogar zweimal, wenn er eine gute Nacht hatte. Sein Bruder, der ihm diesen Job besorgt hatte, ihm eigentlich bei allem zur Seite stand, spornte ihn an, beglückwünschte ihn für jeden noch so winzigen Erfolg. Und das obwohl er es bestimmt statthaben musste, ständig seine Dramen und Katastrophen aufzuräumen, rund um die Uhr für Sandro da zu sein.
„Bestens, bestens.“ Sandro knetete wie üblich auf seinen Händen, seine Mittelfinger hatte er über die Zeigefinger gelegt und krallte sich damit regelrecht fest. „Bestens.“ Mehr als vier Stunden am Stück hielt er selten durch, meistens trat er nach zweieinhalb oder drei den Rückweg in seine Dachgeschosswohnung an. So blieb ihm genügend Energie, um sich im Kioskladen gegenüber ein Bierchen und ein Fertiggericht zu holen. Er mochte diese Tage, mochte es, einen Heimweg zu haben, sich für einige Minuten wie ein normaler Mensch zu fühlen und mit dem Ladenbesitzer über Gott und die Welt zu reden. In diesen Momenten fand er ein Stück Frieden, die Illusion, ein vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft zu sein.
„Lange nicht gesehen“, bemerkte Arif beiläufig, schüttelte kaum merklich den Kopf und lächelte ihn anschließend milde an. „Kommst du mit mir an die Postrutsche? Ich bin an der Acht.“ Sandro nickte und löste seine Fingerknoten, bevor er dem anderen zu einer der rot lackierten Rutschen folgte, über die Pakete vom Fließband glitten. Herbert stand am Gerät, stapelte die ankommenden Kisten routiniert auf seinen Gitterwagen.
„Oh, Bonus ist da. Arif, du glücklicher Hohlkopf“, scherzte der Ältere heiter und fischte einen schmalen Karton von der Rutsche.
„Ja, mit Bonus arbeitet es sich gemütlicher, du Dumpfbacke“, strahlte der Angesprochene, holte zwei Paketwagen aus der Ecke und Herbert machte Platz, sodass die beiden übernehmen konnten. Sie wechselten noch einige Höflichkeiten, dann verabschiedete sich Herbert und schlurfte zu den Garderoben. Die Spätschicht war Sandro am liebsten, vor dem Mittag kam er nur schlecht, oft gar nicht aus den Federn. Zudem war es abends ruhiger, obschon die Paketflut tags wie nachts unaufhörlich über die Arbeiter hinwegschwappte.
„Bleibst du bis zur Pause?“, wollte Arif wissen. „Linda hat Kuchen dabei. Nein, stimmt gar nicht. Heute sind es Cupcakes.“
„Vielleicht“, murmelte er und schnappte sich ein paar kleine Schachteln, die er sehr sorgfältig verstaute. Egal um was es ging, Sandro tickte stets sonderbar. Sein Leben lang sagte man ihm, er mache sich um alles viel zu viele Gedanken, sei zu verkopft und alleine das wäre sein Problem. Wahrscheinlich stimmte das, im Sortierzentrum war er der einzige, der sich die Zeit nahm, jedes Paket fein säuberlich einzuordnen, statt es irgendwie auf den Transportwagen zu werfen. Das sei nicht nötig, hatte ihm der Schichtleiter ein paar Mal erläutert, aber das war es für Sandro. Seine Konzentration war flüchtig, sie aufrechtzuhalten eine anstrengende Aufgabe und wehe er ließ seine Aufmerksamkeit für einige Sekunden schleifen, sie zurückzubekommen war unmöglich. Also arbeitete er langsamer, vorsichtiger, kontrollierte jeden seiner Handgriffe, trotzdem passierten ihm regelmäßig Fehler, die ihn innerlich auffraßen, ihm seine eigene Inkompetenz schmerzlichst vor Augen führten.
„Habe übrigens den Film geschaut, den du mir letztens vorgeschlagen hast. Die ‚Komödie‘“, Arif betonte das Wort und rollte mit den Augen, ehe er die Mundwinkel zu einem amüsierten Ausdruck verzog. „Du hast einen echt schrägen Humor, Bonus.“
„Ach, ich dachte du könntest sowas brauchen, zum Ausgleich für Aishas Liebesschnulzen, über die du dich beschwerst“, kicherte er, zwei Kartons gleichzeitig auf den Wagen hievend. Sandro genoss seinen Ruf als Filmkenner, das war sein Metier. Ja, von Dingen, die ihm die Flucht in eine andere, freiere Realität versprachen, hatte er Ahnung. Daneben war sein Potential weitestgehend unausgeschöpft geblieben, vermutlich irgendwo zwischen dem Büro des Schulpsychologen und einer der vielen psychiatrischen Einrichtungen, die er bewohnt hatte, verlorengegangen. Aus dem einst vielversprechenden Jungen war nun eben Sandro geworden. Sandro, der bestenfalls mit Filmwissen glänzte, ansonsten wie ein matter Klotz auf den Schultern seines Bruders lastete. Natürlich sprach das keiner aus, nicht einmal Sandro selbst. Bewusst war es ihm dennoch und genau darin lag seine persönliche Tragödie.
„Ja, ja-ja“, meinte Arif grinsend und fragte nach einer weiteren Empfehlung: „Was soll ich mir als nächstes anschauen? Action wäre nett, Explosionen, so Zeug halt. Hast du was?“
„Willst du was zum denken oder inhaltlose Zerstörung?“ Sandro hielt mitten in seiner Bewegung inne, lachte bitter und wiederholte im Flüsterton: „Inhaltlose Zerstörung.“ Selten war es ihm gelungen, eine treffendere Beschreibung für sich selbst zu finden.
„Hm“, brummte Arif, schubste den gefüllten Paketwagen zur Ausgabestelle und kehrte mit einem neuen zurück an seinen Arbeitsplatz. „Der mit den Affen und den Zeitreisenden fand ich gut.“
„Twelve Monkeys?“
„Ja, genau so hieß der“, bestätigte Arif sich ausgiebig streckend. Sandro überlegte kurz und gab zu bedenken, dass Terry Gilliams Zukunftsszenario eher der Science Fiction zuzuordnen war, woraufhin der andere mit den Schultern zuckte, plötzlich scharf einatmete und hinzufügte: „Da fällt mir ein, das passt sowieso schlecht. Aisha hat Ferien, der Film sollte ihr also auch gefallen.“ In einer früheren Phase wäre Sandro neidisch auf das Leben seines Freunds gewesen. Der Traum von Frau, Kindern, einem Häuschen am Stadtrand, blieb für ihn in unerreichbarer Ferne. Ohne die Unterstützung seines Bruders wäre er nicht in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Das hatte er akzeptiert, musste er wohl oder übel. Diese Akzeptanz der eigenen Unzulänglichkeit verschonte ihn allerdings nicht vor den alles zerfressenden Schuldgefühlen, dem rasenden Selbsthass, der wie ein steinharter Klumpen auf sein Zwerchfell drückte und ihm das Atmen erschwerte, seine Seele zerschlug.
„Na gut, was außer Liebesfilmen gefällt ihr?“
„Hauptsache der Film hat ein Happy End, sonst beschwert sie sich.“ Geschwind stapelte Arif seine Kartons in den Wagen und linste zur Ausgabestelle, wo ein Fahrer gerade seine nächste Ladung abholte.
„Viele Filme haben ein Happy End.“ Sandro wusste schon lange, wie sein Happy End aussehen würde, wenn endlich der letzte Rest Hoffnung in ihm verrottete und er den Mut fand, das Unabwendbare zu tun, die Welt von sich zu befreien. So musste es enden, einen anderen Weg gab es nicht, er hatte es versucht, wieder und wieder. Schlussendlich war er immer im selben dunklen Loch gelandet und hatte dabei jeden, den er liebte, mit hereingezogen. Er war eine Dunkelbirne, die alles in Schwärze tauchte – die, sobald sie angedreht, selbst den hellsten Tag in Nacht verwandelte. So wie bei Morgenstern. Als er den Hund vor einigen Jahren adoptiert hatte, versprach er seinem Bruder, sich ordentlich um das Tier zu kümmern. Das tat er auch, zu Beginn jedenfalls. Es waren die Nachbarn gewesen, die die Polizei riefen, weil es im Hausflur erbärmlich nach Hundekot stank, Sandro war der Verantwortung nicht gewachsen gewesen, an den meisten Tagen brachte er es kaum fertig, sich zu waschen, geschweige denn, mit Morgenstern vor die Tür zu gehen.
„Ein bisschen düster darf der Film schon sein“, erklärte Arif, stoppte sein fleißiges Treiben und starrte seinen Bonus-Mitarbeiter unverblümt an. „Sonst ist das Happy End bedeutungslos.“ Sandro spürte ein Krampfen in der Brust, die Finsternis in ihm trug keine Bedeutung.

Autorin: Rahel
Setting: Sortierzentrum
Clues: Vollpfosten, Dunkelbirne, Hohlkopf, Dumpfbacke, Arschgeige
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