Homo homini Lupus est. Die unwiderstehliche Boshaftigkeit der Gruppendynamik

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Luana saß vor einem der schräggestellten, gigantischen Panoramascheiben, die drei Seiten der etwas altmodisch eingerichteten Lounge einrahmten, und blickte, hypnotisiert von den weißen Schaumkronen der gebrochenen Wellen, auf die See. Die anderen waren kurz nach Abfahrt der Fähre in den Duty-Free Läden verschwunden und waren gerade dabei, sich für drei Jahre mit Kosmetika und Kinkerlitzchen einzudecken. Das gleichmäßige Wanken der mit über fünfzig BRZ vermessenen Ulysses vermochte es Luanas Nerven ein wenig zu beruhigen und sie genoss die seltene Gelegenheit zur Einsamkeit auf diesem unsäglich fürchterlichen Studienausflug. Doch wie sich herausstellen sollte, würde vor dieser langersehnten Pause vom Sozialstress, noch so einiges auf sie zukommen.

„Hey.“ Ungefragt setzte sich Sanja neben sie und bedachte sie mit einem ihrer herablassenden, nur scheinbar mitleidigen, Lächeln und Luana musste sich ernsthaft zusammenreißen, das Miststück in ihrer Fantasie nicht mit einer Kreissäge zu malträtieren. „Na, wie geht es dir?“ Zähneknirschend antwortete Luana mit einem beiläufigen Nicken und starrte dann wieder demonstrativ abwesend auf den dunklen Ozean. „Hör zu, wir sind der Meinung, dass es schön wäre, wenn du mit uns zu Mittag isst“, sagte Sanja mit ernster Miene und versuchte ihre Hand auf Luanas Schulter zu legen, die dieser vermeintlich freundlichen Geste ungelenk auswich. „Sehr freundlich“, begann sie und zwang ihre Mundwinkel nach oben, währendem sie in ihrer Rocktasche die Faust ballte. „Aber ich glaube ich genieße lieber noch ein wenig den Ausblick.“ Das sollte höflich genug gewesen sein, so dass die Rädelsführerin guten Gewissens zu ihren Gefolgsleuten zurückkehren konnte, um die üblichen Lästereien loszutreten, dachte Luana und wandte sich wieder dem Fenster zu. „Luana“, begann Sanja, sichtlich entschlossen Luanas Ausrede nicht gelten zu lassen. „Du musst doch einsehen, dass das so nicht weitergehen kann und solltest wirklich froh sein, dass wir überhaupt noch mit dir reden!“ Eins, zwei, drei… „Wir haben lange darüber gesprochen und glauben, dass es gut für uns alle wäre, würden wir mal offen miteinander reden.“ Vier, fünf, sechs… „Oder willst du für die restlichen anderthalb Jahre so weitermachen?“ Sieben, acht, neun… „Wir wollen dir doch nur helfen!“ Zehn. Luanas Hand entspannte sich endlich. Der Gedanke an die Kreissäge verschwand und wich der tiefen Entschlossenheit, diesem Theater ein für alle Mal ein Ende zu setzen. „Okay, lass uns gehen“, grinste Luana zu Sanjas Überraschung, währendem sie ihre Reisetasche aufhob und sich in Richtung der Passagierkantine drehte. „Kommst du?“

Die sechs jungen Frauen, die mit auf die Studienreise gegangen waren, hatten sich bereits um einen großen Tisch in einer abgeschiedenen Ecke des Saals versammelt, kicherten ausgelassen und nippten eher beiläufig an ihren Diätdrinks, doch als Luana die Szene betrat, legte sich eisernes Schweigen über die Gruppe und sie hatte das Gefühl, dass sie von allen argwöhnisch beäugt wurde. In ihrem üblichen rechthaberischen Tonfall gab Sanja bekannt, dass es nun endlich zu dem lang herbeigesehnten Showdown kommen würde und Luana konnte nur erahnen, wie sehr diese kleine Ansprache das Ego dieser hinterhältigen Zicke aufblasen würde. Leise seufzte sie und fragte sich, wie um alles in der Welt sie in diese unmögliche Situation hatte geraten können, war es doch ihr Ziel gewesen, sich aus dieser Art von Gruppendynamik herauszuhalten. Doch die Dinge waren nun einmal so wie sie waren und Luana fand sich inmitten einer Horde verlogener, auf soziale Anerkennung angewiesener Lästermäuler wieder, die von ihr nun erwarteten, sich für falsche Anschuldigungen zu rechtfertigen, deren Motivation sie bis heute nicht durchschaut hatte. „Es fällt uns einfach schwer dir noch zu glauben, das musst du doch verstehen“, forderte eine von Sanjas besten Freundinnen, über deren Gewicht sich jeder lustig machte, sobald sie den Raum verließ. „Ja, soweit bin ich auf dem Laufenden“, kommentierte Luana trocken und überging den Part, in dem sie um weitere Details bitten würde, geflissentlich. „Wir machen uns doch nur Sorgen“, tönte es von weiter hinten und Luana sah, dass Elenors Schauspieltalent sich wirklich gut entwickelt hatte; sie hätte ihr die Tränen beinahe abgekauft. Aus Gründen der Praktikabilität verkniff sich Luana ein zynisches Schnauben und beschloss, dem pseudo-sozialen Affentanz noch eine Weile zuzuhören, währendem sie sich betont lässig an die Kommode hinter sich lehnte. Sie war bereit sich dem was kommen mochte zu stellen, doch wenn sie in die aufgewiegelte Menge blickte, schwand ihr Glaube an einen versöhnlichen Ausgang dieser Überfahrt.

„Es reicht jetzt!“, fuhr Luana Sanja ins Wort, die gerade dabei war auszuführen, warum die ständigen Angriffe gegen ihre Person in Wahrheit im Interesse aller wären und weshalb sie sich davon nicht gekränkt zu fühlen hätte. „Ich weiß, dass die meisten von euch das Herz am richtigen Fleck haben, aber offensichtlich braucht es nur sehr wenig, um euch ich in eine Meute boshafter Biester zu verwandeln. Homo homini Lupus est!“ In Erwartung reger Aufruhr, kniff Luana ihre Augen für eine Sekunde zusammen und fuhr dann, zu ihrem Erstaunen unbehelligt, fort: „Glaubt ihr allen Ernstes, dass ich nicht mitbekomme wie ihr in den Pausen über mich redet, mutmaßt und rätselt und mir schlussendlich schreckliche Dinge nachsagt, die ihr euch in der Hitze eurer intriganten Spielchen ausgedacht habt?“, fragte sie rhetorisch, stieß sich schwungvoll von der Kommode ab und hätte beinahe ihren Kopf am Hinweisschild angeschlagen, welches etwas schief über ihr hing. „Ihr wollt, dass ich ehrlich bin?“, hörte sie ihre wütende Stimme sagen und holte tief Luft. „Bitte, das könnt ihr haben! Ihr regt euch nicht über mich auf, weil ihr glaubt ich würde von den Lehrern eine Extrawurst bekommen, ihr ärgert euch, weil eure Noten nicht gut genug sind, um den Vormittag frei zu bekommen. Ihr habt den Nerv mich wegen Schwänzens anzuschwärzen, währendem ich im Spital liege und drei Tage später höre ich, wie ihr damit prahlt, wie oft ihr schon blaugemacht habt. Ihr dichtet mir ein Drogenproblem an, obwohl ihr es seid, die sich jedes Wochenende besaufen und ich diejenige, die nicht einmal einen Tropfen Alkohol anrührt.“ Eins, zwei, drei…
„Doch das ist noch lange nicht das Schlimmste, nicht wahr? Ihr rühmt euch ach so sozial zu sein und ich frage mich ernsthaft, ob ihr diesen Haufen dampfende Scheiße tatsächlich glaubt. Ihr interessiert euch einen feuchten Dreck für eure Umwelt, alles was euch an anderen kümmert ist, ob sie euch die Möglichkeit geben, euch eurer selbst besser zu fühlen. Und unverschämterweise gebt ihr auch noch vor, aufrichtig und hilfsbereit zu sein, wenn ihr in Wahrheit nichts weiter als verlogene Miststücke seid, die es nicht erwarten können, sich mithilfe der fingierten Schwächen anderer auf ein hohes Ross zu setzen, sich im Morast der unreifen, verunsicherten Lästergemeinschaft zu suhlen und euch gegenseitig Zucker in den Arsch zu blasen – zumindest solange, bis ihr kurz weggeht und der Rest genauso über euch herfällt.“ Vier, fünf, sechs…
„Blutrünstige Wölfe im Schafspelz seid ihr, getrieben von der ewigen Gier nach Anerkennung einer lächerlichen Gruppe, deren einziges Ziel es ist, falsches Zugehörigkeitsgefühl zu erschaffen und das auf Kosten derer, die ausgegrenzt, denunziert und verleumdet werden. Heuchlerisches Pack! Steht doch wenigstens dazu, was für Arschlöcher ihr seid und stellt euch einem fairen Dialog, anstelle davon euch hinter der Fassade des lieben Mädchens zu verstecken, das kein Wässerchen trüben könnte!“ Sieben, acht, neun…
Stumm starrte die kleine Runde auf Luana, die immer nervöser auf und ab tigerte und mit ihrer längst überfälligen Gegenwehr fortfuhr, ehe jemand die Schockstarre hätte überwinden können. „Wisst ihr, dieses Arrangement, in diese Klasse zu kommen, war auch nicht gerade mein Wunschkind, aber ich hatte die naive Einbildung, dass ich diese drei Jahre würde überstehen können, wenn ich mich einfach aus diesem Drama raushalte. Doch das hat euch nur noch wütender gemacht, nicht wahr? Die simple Tatsache, dass ich mich nicht für eure Lästereien habe begeistern lassen, dass ich mich allen Kommentaren verweigerte, war für euch Grund genug, mich als Bedrohung zu betrachten und mich, wie jeder brave Wolf das tut, anzugreifen sobald euer Leithund das befahl. Ihr habt geglaubt ich würde mich für etwas Besseres halten und wisst ihr was… Das tue ich verflucht nochmal auch! Nicht weil ich keine Liebenswürdigkeit in euch erkennen oder euch für sadistische Menschen halten würde, sondern weil mich eure Schwäche, euch gegen einen einzelnen tollwütigen Wolf zu wehren, zutiefst anwidert. Himmelherrgott nochmal, beendet dieses Trauerspiel endlich und beginnt damit, eurem Potential gerecht zu werden, oder euch verdammt nochmal wenigstens ansatzweise anständig zu verhalten!“ Kurz bevor Luana sich zum Gehen wandte, um zu ihrem Platz am Panoramafenster zurückzukehren und die letzten anderthalb Stunden der Überfahrt nach Dublin dazu zu nutzen, sich in Frieden mental auf den kommenden Rachestoß vorzubereiten, verweilte sie zwischen den sprachlosen Gesichtern und Sanja, die ihr einen fassungslosen, wutentbrannte Blick zuwarf. Zehn… „Und Sanja, was ich dir schon lange mal sagen wollte: Fick dich!“

Autorin: Rahel
Setting: Fähre
Clues: Praktikabilität, Kommode, Kreissäge, Hinweisschild, Wunschkind
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