Meine Güte

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

In aller Früh hatte man Aphul aus seinem Heim gepflückt, ihn mitsamt seiner Familie, seinen Freunden und Nachbarn einen nach dem anderen in die endlose Dunkelheit eines Metallcontainers geworfen. Es war eng, kreuz und quer standen, nein, lagen sie über- und untereinander, zerkratzten und erdrückten sich gegenseitig. Wie lange sie schon darauf warteten, aus dieser bestialischen Bredouille befreit zu werden, konnte er unmöglich sagen – Stunden, Tage oder nur Minuten? Die Luft war dick, getränkt mit dem süßlich-modrigen Gestank der aufgeplatzten Wunden, die kleinsten sanken tief, die ältesten barsten in ungleiche Stücke. Einige quietschten, stöhnten bange, aber die meisten blieben still, wagten es nicht, einen einzigen Ton zu verlieren. Bloß der alte Gravensteiner, der vis-à-vis von ihm wohnte, redete unentwegt vor sich hin.
„Jesses“, spie er förmlich aus. „Jesses, jetzt sterben wir.“ Wie aufs Kommando rührte sich ihr Gefängnis auf Zeit plötzlich, es schepperte blechern und sie wurden so sehr durchgerüttelt, dass sich Aphuls Kern beinahe nach außen drehte.
„Ach du meine Güte“, tönte es aus einer Ecke, Jona Gold klang ängstlich, panisch sogar. „Ach du meine Güte, was passiert mit uns?“ Einen Ruck später purzelte er über Frau Gala hinweg, schlug auf ihren dicken Schädel und brüllte entsetzt. Eine Beule auf ihrem Kopf platzte auf, gelblich weißes Fleisch blitzte auf und da schaute sie an ihm vorbei in die Leere des Jenseits.
„Meine Güte, meine Güte“, jammerte es weiterhin, Aphul fehlten die Worte, um seinem Schrecken Ausdruck zu verleihen. „Meine Güte, meine Güte, meine Güte!“, wiederholte Jona Gold, ihr meliertes Kleid war löchrig von den Besuchen ihres Verehrers, dem feinen Herrn Malinellus. Über die Liaison zerriss man sich den Mund, zumindest hatte man das, nun sind dringendere Probleme in den Vordergrund gerückt.
„Es wird gut, alles wird gut“, meinte die Witwe Boskoop. In ihrem Leben hatte sie bereits einiges überstanden, war auf den Boden gestürzt, im Schmutz, Geäst und Katzenhaar gelandet und irgendwie trotzdem frisch geblieben. „Bestimmt kommen wir an einen schöneren Ort.“
„Einen schöneren Ort?“, gelang es Aphul, den Blick von Frau Galas zerborstener Haut abzuwenden und seine Stimme wiederzufinden. „Was erzählen Sie da? Ein schönerer Ort als die Plantage gibt es nirgends auf der ganzen Welt.“ Zustimmende Rufe kam aus allen Richtungen, da hielt die Schaukelei inne und jemand jubelte. „Nein, nein“, ereiferte er sich und wünschte sich zurück an seinen Ast. „Auf der Plantage glitzert morgens der Tau, mittags wabert die Hitze, der Abend bringt eine frische Brise und die Nacht das wunderbare Firmament.“
Aus heiterem Himmel hob sich das Dach von den Wänden dieses überfüllten Kerkers ab und die Sonne blendete erbarmungslos, brennte wie Todesstrahlen, instinktiv schlossen sie ihre Augen, bewegten sich keinen Millimeter vom Fleck und ließen geschehen, was sie ohnehin niemals verhindern könnten. Ein dämonischer Schatten erschien, flog wie ein Falke über sie weg. Die Ränder seiner schwarzen Silhouette strahlten in einem hellen Rot, einem, das der lieblichen pinken Lady von der Plantage auf der anderen Straßenseite Konkurrenz machen konnte. Eine Weile bestaunte Aphul das Leuchten, bis sich der Schatten in eine Kralle verwandelte und rasant auf sie herniederschoss.
„Was ist das?“, hörte er die Witwe Boskoop fragen und musste mitansehen, wie Frau Galas zerdellter Körper in die Höhe gezogen wurde. Kurz darauf tauchte ein zweiter Schemen auf, schnappte sich den alten Gravensteiner, dann Diwa von gegenüber, Jona Gold, Onkel Braeburn und zum Schluss die Witwe, die zum Abschied einen Schrei in die Welt entließ, der ihn bis ins Gehäuse erschütterte. Es ging viel zu schnell, die Gespenster nahmen sie sich alle – die Alten, Kleinen, Schrumpeligen, Verbeulten und Sauren, sie verschwanden in den Schattenklauen.
„Denk an etwas Schönes, den Morgentau, das Mittagsflimmern, den Abendwind und die Sternennacht. Denk an etwas Schönes, den Morgentau …“ Einem Mantra gleich murmelte Aphul, erhoffte sich, mit Gedanken an sein zu Hause ein wenig Beruhigung. Die Erleichterung war flüchtig, denn sogleich verlor er den Halt, schwebte durch die Luft und entdeckte den Schriftzug: „Mosterei.
„Nein“, keuchte er. „Nein, das kann nicht sein!“ Eine Ammenmär war es, nichts weiter als eine der Gruselgeschichten, mit denen man die kleinen Grünen erschreckt. Doch da stand es geschrieben, in großen, blutroten Lettern über drei ansonsten unscheinbare Fensterläden geschmiert. „Mosterei“, brummte er fassungslos, bevor sein Parabelflug eine jähe Wendung nahm und er in eine eiskalten Brühe eintauchte. Kaum in den Bottich gefallen, schwamm er auch schon obenauf und japste nach Sauerstoff. Überall um Aphul herum kreischten seine Freunde, regneten regelrecht auf ihn herab, während er gegen die Desorientierung kämpfte und versuchte, den Schriftzug erneut zu erspähen, um seinen scheußlich Verdacht zu bestätigen.
„Ach du meine Güte!“ Ein mittlerweile vertrauter Ausruf drang zu ihm durch, diesmal war es nicht Jona Gold, sondern Großtante Elstar, die ihn zwischen gurgelnden Lauten von sich gab. „Ach du meine Güte, wir sind in der Mosterei!“ Um sich selbst kreisend trieb Aphul durchs Wasser, wollte nicht glauben, was vor sich ging. Jemand musste ihnen eine Falle gestellt haben, sich einen grausamen Scherz erlauben. „Meine Güte“, stimmte er unbewusst in das Klagen ein. „Meine Güte!“
Ein schaufelartiges Ding kam auf einmal aus der Tiefe gerauscht, packte ihn und beförderte ihn aus dem Wassereimer, ruckelte, polterte und holperte bergauf. „Meine Güte“, stotterte er, als er die die Fahrt zum Himmel dem Ende nahte und sich unter ihnen ein Schlund auftat, in dem Walzen gierig nach ihrer Beute rotierten, ihre Reißzähne ineinander schoben. Aphul sah dem Tod entgegen, rollte unaufhaltsam darauf zu, sein Fruchtfleisch wäre bald geschreddert, sein Leben ausgepresst. Er schluchzte, sehnte sich so sehr zurück an seinen Ast und klammerte sich mit seinem Stiel an Großtante Elstar, die ihn anlächelte und bedächtig sprach: „Aus der Erde sind wir gesprossen, zur Erde soll unsere Maische gehen. Maische zu Maische, Saft zu Saft, Most zu Most, in Frieden werden wir ruhen.“
„Meine Güt…“ Aphul fiel und wurde verschluckt.

Autorin: Rahel
Setting: Mosterei
Clues: Falle, Katzenhaar, Fensterläden, Beruhigung, Todesstrahlen
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