Der Jahrhundertfund

„Hast du etwa den Gesetzestext dazu im Kopf?“, lachte Werner und hob seinen Leuchtstab hoch, ehe er sich unter einem Balken, der den Stollen abstützte, hindurchduckte. „Was wir machen, ist definitiv illegal.“
„Schon“, brummte Carsten, der bereute, diese Diskussion vom Zaun gebrochen zu haben. „Ich habe nie gesagt, was wir machen, sei legal, nur, es mache Spaß.“
„Grabräuberei ist absolut illegal.“ Werner, der vorausging, sah sich im sich gabelnden Stollen nach dem richtigen Weg um. „Links, wenn man der Karte glauben kann.“
„Wir sind nicht in einem Grab, sondern einem Bergwerk, das ist was anderes. Hör schon auf mit deinen Indiana-Jones-Fantasien.“ Um die sinnlose Unterhaltung zu beenden, deutete der Hobby-Schatzsucher auf eine Stelle, wo sich der Stollen verbreiterte. „Da können wir kurz Rast machen.“
„Okay, okay, wie der Herr wünschen.“ Werner setzte sich mit einem Ächzen auf einen kleinen Felsbrocken und begann in seinem Rucksack zu wühlen. „Wir hätten bei einem Tankstellenshop halt machen müssen, der bessere Sandwiches hat. Das trockene Zeug mit dem harten Käse ist eine Schande für die ganze Lebensmittelindustrie.“
Wie bei jeder ihrer Jagden nach Artefakten, grübelte Carsten, wie lange es noch ginge, bist er Werner einen Terrakottakrieger, eine Wikingerwaffe oder die Bundeslade auf die Hohlbirne knallte. Sein Partner in ihren Ausflügen war zwar ein toller bester Freund, aber viel zu oft eine gehörige Nervensäge. Dem Frieden zuliebe sagte Carsten stattdessen: „Hey, willst du eine Kiwi? Ich habe Obst eingepackt.“
„Hast du auch Äpfel dabei?“
„Nein, ich bin kein Obststand. Was hast du denn …“ Abrupt unterbrach sich Carsten und zischte: „Pst. Hast du das auch gehört?“
Gar der sonst gelassene Werner war nun leise. „Nein. Was denn?“
Carsten lauschte angestrengt – ein entferntes Rauschen hallte durch die Stollen zu Ihnen hoch. „Was zum Teufel ist das?“
„Okay, jetzt höre ich es auch“, stimmte Werner zu und stopfte sein Sandwich, ohne es einzuwickeln, zurück in den Rucksack, wobei eine Gurke in einen zusammengerollten Schal rutschte. „Sehen wir nach?“
„Sei vorsichtig. Denk ans letzte Mal, als wir von einem Wildschwein angegriffen wurden. Oder an den Libellen-Schwarm, als wir am Flussufer nach Gold gesucht haben.“
„Damals waren wir blutige Anfänger“, gluckste Werner. „Seit wir große Dinge wie El Dorado, Atlantis und Piratenschätze suchen, ist uns nie was passiert.“
„Na ja, wir haben auch noch nicht viel gefunden und …“ Mit einem Seufzen unterbrach sich Carsten. „Ach, vergiss es, sei einfach vorsichtig.“
Werner, der seinen Rucksack geschultert hatte, ging voraus durch den Stollen. „Ach komm schon, Alter! Laut unserer Quelle könnte das originale Bernsteinzimmer hier unten versteckt sein. Hast du etwa Angst, dass das nach all den Jahren noch von uralten Nazis bewacht wird, oder was?“
„Nein, du Dumpfbacke!“ Nun musste Carsten trotz allem leise glucksen. „Irgendwas ist da unten und wir sollten aufpassen.“
„Okay, okay.“ Das Rauschen war nun lauter, sie mussten sich der Quelle nähern. Carsten war unruhig, etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Gerade, als er seinem Kameraden vorschlagen wollte, umzukehren, musste dieser laut Niesen. „Shit, sorry“, murmelte Werner beschämt, doch es war zu spät. Das Rauschen kam näher, raste mit unheimlicher Geschwindigkeit auf sie zu und Carsten warf sich instinktiv zu Boden. Keine Sekunde zu früh, denn sogleich fegte eine Wolke aus Fledermäusen über sie hinweg in Richtung des Ausgangs.
Als der Spuk vorüber war, rappelte Carsten sich auf und sah sich nach seinem Kameraden um – Werner lag ebenfalls auf dem Boden und erhob sich nun mit einem Husten: „Du hattest Recht, das war nicht lustig.“
„Ich habe immer Recht“, murrte Carsten und half ihm hoch. Insgeheim bereute er seinen Kommentar sogleich, denn er wusste nur zu gut, wie oft er selbst schon falschgelegen hatte, weder die meisten Internetforen noch Reddit waren besonders zuverlässige Quellen. „Okay, gehen wir weiter?“
„Gut. Wenn die Viecher wieder auftauchen, werfe ich mit meinem trockenen Sandwich nach ihnen.“
„Scherzkeks.“ Carsten versuchte, sich zu beruhigen, er glaubte, seinen Puls rasen zu fühlen. Die beiden Freizeit-Schatzjäger arbeiteten sich weiter vor, nun war Ruhe zwischen ihnen eingekehrt. Obschon Carsten nicht sonderlich optimistisch war, wirklich das Bernsteinzimmer zu finden, mochte er die Spannung und die entfernte Hoffnung darauf, eines Tages bei einem ihrer Abenteuer erfolgreich zu sein.
„Was zum …?“, rief Werner, der vorausgegangen war, mit einem Mal überrascht aus. Carsten holte so rasch er konnte auf und blieb wie angewurzelt stehen, als er den ausgehöhlten Raum vor ihnen erblickte. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit: Vor ihnen stapelten sich ein knappes Dutzend Sporttaschen, Werner kniete vor einer, die er aufgemacht hatte. „Die sind alle voller Drogen, Mann! Tütenweise Gras, Pillen, weißes Pulver …“
Carsten stöhnte resigniert. „Verdammt. Wir haben nicht das Bernsteinzimmer gefunden, sondern das geheime Lager von Drogenschmugglern.“
„Hör auf dich zu beschweren“, frohlockte Werner. „Wir haben gerade den wertvollsten Fund unseres Lebens gemacht! Schnell, schnapp dir zwei Taschen und zurück zum Subaru, bevor jemand auftaucht.“
„Halt, halt, halt. Das will durchdacht sein, immerhin ist der Großteil davon illegal. Und wir kennen niemanden, der uns das Zeug abkaufen würde, oder hast du Verbindungen zur schwäbischen Mafia oder den bayerischen Gangsterbossen? Plus, wem auch immer das Zeug gehört, würde danach suchen, ich will mich nicht mit Verbrechern anlegen.“
„Hm.“ Enttäuscht kickte Werner gegen eine der Sporttaschen, ehe er sich an der Nase kratzte. „Gut, du hast ja recht, am besten verschwinden wir und tun so, als hätten wir das nie gesehen. Eine Tüte Gras nehme ich trotzdem mit, hab schon ewig nicht mehr gekifft.“
„Gut, dann pack das ein und wir hauen ab, bevor jemand auftaucht und uns umbringen will.“
Murrend nahm Werner einen zugeschweissten Beutel aus der Sporttasche, ehe die beiden niedergeschlagen kehrtmachten. „Okay, das war ein Reinfall, als, bis auf mein Gras. Was jetzt?“
„Vielleicht sollten wir uns eingestehen, unsere Schatzjagden werden nie von Erfolg gekrönt sein und uns damit abfinden?“
„Das, oder wir finden endlich heraus, wo das Bernsteinzimmer wirklich ist und werden berühmt. Hast du nicht gesagt, du hättest noch eine Idee, etwas, das du im Internet gelesen hast?“
Wohl wissend, dass er sich von seinem wieder zu einer hirnverbrannten Suchaktion verleiten ließ, meinte Carsten: „Klar, es gibt immer Hinweise, denen wir noch nicht nachgegangen sind. Da ist beispielsweise die Theorie von …“

Autorin: Sarah
Setting: Bergwerk
Clues: Gesetzestext, Libelle, Flussufer, Kiwi, Wolke
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