Katz und Maus

Die Luft kühlte sich nach der Hitze des Tages langsam ab. Im Gegensatz dazu wurde die Stimmung in dem weitläufigen Saal immer hitziger. Thien war vor einer Weile mit hängenden Schultern und leerem Rucksack in ihr vorläufiges Quartier zurückgekehrt. Schon wieder kein Essen. Doch das war nicht die schlimmste Nachricht, die er mitgebracht hatte, Mei hatte sie kontaktiert und es verhieß nie etwas Gutes, wenn sich die Immobilienmaklerin bei ihnen meldete. Schlimmer noch, Thiens Akku hatte nach wenigen Minuten den Geist aufgegeben, weswegen sie nun nicht einmal wussten, weshalb Mei angerufen hatte. Lian, der jüngste in der Gruppe, tigerte aufgeregt vom einen Ende des kargen Raums zum anderen. Seine abgewetzten Turnschuhe schlurften laut über den betonierten Boden, bis Naren ihn mit einer entnervten Geste stoppte. „Es reicht! Diese Diskussionen bringen uns nirgendwohin“, meinte er und fuhr sich hektisch durch die Haare. „Thien, was meinst du zu der Sache?“
Thien war sich nicht gewohnt, um seine Meinung gebeten zu werden, schon gar nicht von Naren, der sich bei jeder sich bietender Gelegenheit als Alpha-Tier aufspielte. Im Prinzip war es bloß natürlich, dass sich die Hierarchie unter den dreien so eingespielt hatte. Naren war früher ein Verwaltungsbeamter gewesen und hatte der New York Times Korruptions-Beweise preisgegeben, Thien und Lian hingegen waren bloß Kleinkriminelle, ohne das Geld, sich von ihren Straftaten freizukaufen.
Thien zuckte mit den Schultern, wartete kurz und sagte schließlich verunsichert: „Ich bin mir nicht sicher, aber ich vermute, dass jemand neues kommt.“ Er räusperte sich und ließ die anderen den Schock erst verarbeiten, ehe er fragend hinzufügte: „Vielleicht heute?“
Lian, der mittlerweile erneut wie ein Kolibri hin und her schwirrte, unterdrückte hörbar einen Fluch, ehe er mit voller Wucht gegen die seitliche Backsteinwand kickte. Die beiden anderen verübelten ihm den Wutausbruch nicht.
„Wie kommst du darauf?“, wollte Naren dann wissen. Thien war überrascht, wie besonnen sein unfreiwilliger Gefährte klang und wusste nicht, wie er diesen plötzlichen Wandel deuten sollte. Vielleicht war es die Ruhe vor dem Sturm oder aber der letzte Versuch, gegen die aufsteigende Panik zu kämpfen.
„Naja“, holte Thien aus, „Mei hat mir irgendetwas von einer Phuong erzählt, bevor das Telefon verreckt ist, deshalb …“ Er ließ den Satz unfertig stehen und begann damit, auf seinen zerschründeten Fingern zu kneten. Die täglichen Ausflüge durch Ordos hatten ihre Spuren an ihrer aller Körper hinterlassen. Einst waren sie hierhin gekommen, um sich in Sicherheit zu wissen, doch die Stadt hatte sich nach und nach gewandelt, war nicht mehr derselbe Geisterort, den sie vorgefunden hatten. Heute mussten sie ständig damit rechnen, einem der wenigen tausend Einwohnern zu begegnen und gerade weil hier noch immer kaum jemand wohnte, würden sie den Passanten womöglich in Erinnerung bleiben. Das durfte auf gar keinen Fall passieren!
„Okay, dann lass uns an die Arbeit gehen. Nur zur Vorsicht.“ Naren hatte Recht, es gefiel zwar weder Thien noch Lian, das zuzugeben dennoch versammelten sie sich ohne Widerworte vor dem Einbauschrank und griffen sich, einer nach dem anderen, ihre Waffen.
Lian prüfte seinen kleinen Revolver eindringlich, ehe er ihn entsicherte. Niemand unter ihnen hatte bisher auch nur eine einzige Kugel abschießen müssen, erst recht nicht auf einen anderen Menschen gezielt. Trotzdem waren ihre Albträume erfüllt von langsam ausblutenden Körpern.
„Wie wir es besprochen haben?“, fragte Thien zögerlich.
„Wie wir es besprochen haben!“, kam die prompte Antwort unisono von den beiden anderen Flüchtlingen.

Lian hatte tatsächlich eine Rolle Oreo Kekse gefunden, vermutlich waren sie noch übrig von dem großen Raubzug, auf den sie im letzten Monat gemeinsam gegangen waren. Nicht, dass es in Kangbashi Ordos viel gab, das man hätte plündern können – die Stadt war trotz der stetigen Zuwanderung noch immer kaum mehr, als eine vermeintlich sichere Geldanlage für Reiche, die den Banken nicht trauten oder versuchten, sich in der Immobilienblase vor der Inflation zu verstecken. Ordos, wie so viele andere Bauprojekte in ihrer Heimat, war lediglich dazu da, damit die Partei Wachstum und somit eine heile Welt simulieren konnte. Damit das eigene Volk sich nicht an den Zensuren und Exekutionen störte und wahrscheinlich auch ein wenig, um all den Twitter-, Facebook- und Pinterest-Aktivisten die Glaubwürdigkeit zu rauben – Nicht dass es schwierig gewesen wäre, dieses Pseudoengagement als reine Farce zu entlarven, immerhin kümmerten sich diese Leute lieber um Nebensächlichkeiten in der Gender- und Sexualforschung, als einen tatsächlichen Beitrag zur Weiterentwicklung der Gesellschaft beizusteuern.
Das Essen war schnell weg, nur der Hunger blieb. Thien hätte, wie schon so oft zuvor, seine rechte Hand für einen Glimmstängel gegeben. Keiner der drei Männer machte sich noch vor, alt zu werden oder auch nur jemals wieder ein normales Leben führen zu können. Noch waren sie dankbar für jeden Tag, an dem die Spitzel der Partei sie nicht erwischten. Gleichwohl verblasste ihre Dankbarkeit mit jedem tristen Aufwachen etwas mehr, bis sie irgendwann froh sein würden, aufgegriffen zu werden. Was ist schon der schnelle Tod durch Erschießung gegen ein Leben gefangen auf der Flucht?
„Habt ihr das gehört?“, flüsterte Lian und deutete auf den Durchgang gegenüber der mit schwarzen Planen verhängten Fenster. „Was war das?“ Ein leises Rascheln war zu hören, woraufhin sich die drei sofort verkrampften. Mit zitternden Armen hob Thien als einziger seine Waffe.

Als der Schuss sich löste, dröhnte ein ohrenbetäubendes Echo durch das leerstehende Museum. Eine Katze hechtete aufgebracht durch die Halle und schlüpfte durch das winzige Fensterloch im Flur, direkt auf einen der gelben Pflastersteinwege. Lian und Naren sahen dem Tier mit weit aufgerissenen Augen hinterher und hielten sich ihre pfeifenden Ohren zu. Nach einigen Sekunden verlangsamten sich ihre Herzschläge wieder und sie signalisierten Entwarnung. Thien hingegen verharrte in seiner Position.
Er hatte die Katze nur am Rande seines Sichtfelds wahrgenommen, es hätte genauso gut ein Fuchs oder ein Wildhase sein können. Das einzige, was Thiens Aufmerksamkeit in dem Moment auf sich zog, war die zierliche Frau, die halb hinter einem der Saalpfeiler verborgen stand. Sie trug eine schwere, viel zu große Lederjacke, leuchtend gelbe Laufschuhe, einen mächtigen Rucksack und eine noch mächtiger wirkende Kalaschnikow. Er hatte absolut keinen Zweifel daran, dass sie abdrücken würde, wenn er ihr einen Grund dafür gäbe.
„Hey, Thien“, hörte er Narens Tenorstimme, „es war nur eine verdammte Katze.“
„Stimmt und ihr seid heute meine Mäuse!“ Lian ließ seinen Revolver vor Schreck fallen, wenigstens hatte Naren die Geistesgegenwart, seine Beretta zu heben und zu zielen – leider aber in die falsche Richtung.
„Was willst du von uns?“ Thien hatte es geschafft, seine Nerven soweit unter Kontrolle zu bringen, dass er die Worte einigermaßen ruhig über die Lippen brachte. Seine Hände zitterten jedoch noch heftiger als zuvor.
„Essen, Unterschlupf, eine Möglichkeit der Giftspritze zu entgehen. Ihr wisst schon, das Übliche halt“, erwiderte sie und nahm trat einen großen Schritt auf die drei Männer zu, ehe sie kühl lachend fortfuhr: „Ach nein, das seid ja ihr. Wie dumm von mir.“ Thien, der den Lauf seiner Waffe ein wenig gesenkt hatte, in der Annahme, dass die Frau eine von Meis Flüchtlingen war, erstarrte und schluckte leer.
„Ich bin Phuong, Kopfgeldjägerin, freut mich euch kennen zu lernen.“ Als Phuong durch den verdunkelten Raum schlenderte, überlegte Thien fieberhaft, was er ihr sagen könnte. Naren kam ihm zuvor.
„Wir lassen dich gehen, wenn du jetzt sofort deine Waffe auf den Boden legst und sie von dir weggkickst!“ Der Vorschlag klang sinnvoll, nachsichtig sogar. Phuong hatte keine Chance sie alle zu töten, ehe einer von ihnen sie treffen würde und es sah nicht so aus, als hätte sie Verstärkung mitgebracht. Dennoch lachte sie laut auf, schloss dabei sogar die Augen.
„Mach dich nicht lächerlich, Naren. Wir alle wissen, dass keiner von euch einen handzahmen Elefanten erschießen könnte, wenn er direkt vor euch steht.“ Damit hatte sie absolut recht, weder Naren noch Thien würden ein bewegliches Ziel schießen können und Lian war nicht einmal mehr bewaffnet. Sie das jedoch wissen zu lassen, käme Selbstmord gleich. Dann, wie aus dem Nichts, hatte Thien eine Idee.
So gelassen es ihm gelang, steckte er seine Neun Millimeter in den Hosenbund, fuhr sich mit der Handfläche über seine schweißnasse Stirn und sagte: „Hör mir zu, Phuong, ich mache dir ein Angebot, das du nicht ausschlagen kannst.“
Selbstverständlich war seine Überlegung reine Spekulation, nichts weiter als die Hoffnung, dass diese dürre Gestalt vor ihnen mehr war als bloß ein von Gehirnwäsche zerfressener Lakai der Partei. Thien hatte keine Ahnung, ob sein Plan funktionieren würde, doch die Alternative dazu ließ ihn mutig werden.
Um ihr deutlich zu verstehen zu geben, dass er es ernst meinte, ließ er sein Kinn auf die Brust fallen, schien seine Worte erst sorgfältig wählen zu wollen. Nur knapp noch konnte der junge Mann ihre grellen Turnschuhe sehen, dass sie ungeduldig wurde, war von deren Bewegung jedoch eindeutig.
„Also, Phuong, es ist ganz einfach …“ So schnell es ihm möglich war hob er seinen Kopf, suchte nach einem Fixpunkt auf ihrem Körper und zog gleichzeitig seine Waffe.
„Nur wird es dir nicht gefallen!“ Er beendete den Satz erst, als Phuongs Körper auf den Boden gesackt und er absolut sicher war, dass sie ihr Sturmgewehr nicht mehr in den Händen hielt.

Autorin: Rahel
Setting: Ordos
Clues: Oreo (Keks), Sexualforschung, New York Times, Akku, Pinterest
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