Von Klugscheißerei und Größenwahn

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Diese Geschichte spielt im erweiterten Universum „Nach Hause“.

„Ich dachte du hast keine Höhenangst.“ Andreas Ungeduld war ihm deutlich anzuhören.
„Stimmt ja, ich bin nur nicht schwindelfrei“, gab seine beste Freundin zurück und schob ängstlich einen ihrer Turnschuhe nach vorne. „Und jetzt hör gefälligst auf mit den Augen zu rollen.“
„Ich rolle nie mit den Augen“, protestierte der junge Mann augenrollend.
„Natürlich tust du das. Ich kenne dich, schon vergessen?“ Er hasste es, wenn sie ihm das unter die Nase rieb, gleichwohl hatte sie recht damit. Sie kannten sich schon so lange, hatten viele Jahre gemeinsam digitale Polygonzombies geschlachtet, Snacks gefuttert und hier und da mit Unternehmungen die Monotonie durchbrochen.
„Wieso nochmal tust du mir das an?“, erkundigte sich die Siebzehnjährige mit zittriger Stimme. „Schwimmen wäre mir lieber.“
„Bitte, was?“, empörte sich Andreas, dessen Rucksack an einem Gurt über der Schulter hing und drohte, herunterzufallen. „Du hast doch gesagt, ins Wasser zu gehen sei zu gefährlich, solange wir nicht mehr über die Krankheit wissen.“
„Wir könnten in einem Boot …“, begann sie, hielt sich die Hand über die Brauen und linste suchend über die Uferlandschaft.
„Es reicht!“, unterbrach er ihren neu entdeckten Eifer ein Gefährt zu finden. „Wir haben keine Zeit für deine Zimperlichkeit, also mach vorwärts.“ Auch wenn er bloß sehr ungern den Part des Dominanten ergriff, oft einfach ihren Launen folgte, gebot ihm die Vernunft, in diesem Moment das metaphorische Ruder zu übernehmen.
„Okay, okay“, murrte die Getadelte, schnaufte tief durch und wagte dann einen weiteren Schritt auf die Mauer des Staudamms. „Moment, vielleicht könnten wir …“ Schon wieder blieb sie stehen, war kaum vom Ufer weggetreten.
„Wenn du keinen Gleiter oder Jetski in deiner Hosentasche hast“, keifte Andreas los und ließ keinen Zweifel daran, dass er sie mitsamt dem spekulativen Inhalt ihrer Beinkleider in die Tiefe schubsen würde, wenn sie nicht endlich damit aufhörte, ihre Reise zu behindern, „dann läufst du jetzt auf der Stelle weiter! Echt jetzt, die Mauer ist gute viereinhalb Meter breit, was soll dir schon passieren?!“
Schließlich, nach einigen Sekunden des Zögerns, kam sie in Bewegung und marschierte nach und nach aufrechter über den gewölbten Betonboden. Der Stausee sah friedlich aus, sanfter Wind zeichnete Wellen, während in einiger Entfernung ein Hirschbock trank. Es war eine Szene aus einem Familiendrama oder aber der erste Akt eines Horrorfilms.
„Was meinst du, wie lange wird das alles hier noch standhalten?“ Das Kraftwerk war, wie alle staatlichen Einrichtungen, seit knapp drei Tagen außer Betrieb. Die Behörden nannten das ‚temporäre Notabschaltung‘, nur war vermutlich jedem allemal bewusst, dass an der aktuellen Situation nichts temporär war – außer vielleicht ihr Überleben.
„Schwer zu sagen“, murmelte Andreas gedankenverloren und starrte in den Himmel, um den dichten Herbstwald für einen Augenblick vergessen zu können. Wahrscheinlich hatten sie sich richtig entschieden, nicht über den Highway zu flüchten, allerdings barg ihre Route Gefahren, auf die sie unmöglich vorbereitet sein konnten.
„Wäre wirklich lustig, wenn wir von einem wilden Tier gefressen werden“, bemerkte seine beste Freundin, so als hätte sie seine Gedanken gelesen. „Ich meine, heutzutage wäre das wenigstens mal was anderes.“
Er schmunzelte verschwiegen und malte sich aus, wie seine Begleiterin einen Bären mit der schieren Kraft ihrer Sturheit zum Stillstand brüllte – wer sie kannte, wusste, dass ihr das durchaus zuzutrauen war.

Sie waren eine ganze Weile gegangen, der weichen Kurve des Staudamms entlang bis in dessen Mitte. Dort hielt er inne, bestaunte die atemberaubende Aussicht, wartend, bis sie zu ihm aufschloss und deutete dann in die tiefe Schlucht unter ihnen. „Früher oder später wird das ganze Tal geflutet werden“, gab er zu bedenken, ehe er sich ihr mit einem strahlenden Lächeln zuwandte und diebisch erfreut hinzufügte: „Irgendwie cool, was?“
„Oh, jetzt fängt das wieder an“, lachte sie trocken.
„Wir sind Zeugen der Dekonstruktion unserer Welt“, sinnierte er laut vor sich hin, wohlwissend, dass sie ihn gleich belehren wird – lange darauf warten musste er nicht.
„Blödsinn“, spuckte sie empört aus. „Das würde die willentliche Destruktion und willkürliche Konstruktion voraussetzen, wohingegen unsere Welt gerade willkürlich …“ Abrupt unterbrach sie ihren Wortschwall. Alarmiert vom unüblichen Schweigen inmitten einer ihrer Klugscheißer-Reden, sah Andreas auf und flüsterte: „Was ist?“ Seine Worte waren lediglich ein Zischen, kaum zu vernehmen, trotzdem signalisierte ihm sein Gegenüber, noch leiser zu sein. Danach geschah etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ: Ohne ein Wort zu sagen, legte sie sich flach auf den von den letzten Sonnenstrahlen noch warmen Beton. Sie hatten das vor dem Aufbruch besprochen, sich darauf geeinigt, dass dies die beste Strategie wäre, allerdings Andreas hatte inständig gehofft, es käme nicht soweit. Vorsichtig ließ er seinen Rucksack neben ihr auf den Boden gleiten und legte sich dann möglichst geräuschlos daneben. Dann harrten sie aus.

„Komm schon, du Drecksvieh!“ Sie musste lebensmüde sein, dachte er sich und sogleich schossen die unzähligen Anspielungen durch seine Gedanken, die seine beste Freundin in den letzten Jahren gemacht hatte; war sie tatsächlich und wahrhaftig lebensmüde?
„Lass ihn“, schrie er über das ohrenbetäubende Kreischen des Angreifers hinweg. Zwar versuchte er es von ihr fernzuhalten, nur flitzte die Rothaarige dermaßen unkoordiniert hin und her, sodass er befürchtete, seine Kugel könnte in ihrem Rücken landen. „Wenn wir loslaufen, können wir es schaffen!“ Dessen war er sich unsicher, aber er wollte sie unbedingt von diesem … diesem Ding weglocken.
„Nein, er wird uns …“, setzte sie zur Erklärung an und duckte sich flink unter einer rohen, vereiterten Hand weg. „Er wird uns folgen und andere anlocken.“ Andreas runzelte die Stirn, behielt den Zombie jedoch weiterhin auf dem Korn.
„Meinst du? Das ist doch keine Suchkopfrakete“, erwiderte er schlussendlich.
„So funktionieren Suchkopfraketen nicht.“ Sie duckte sich ein zweites Mal, kam ins Wanken und konnte sich nur gerade so auf den Beinen halten; ein Sturz aufs Schieberhaus wäre heutzutage ebenfalls eine durchaus seltsame Art zu sterben.
„Musst du ausgerechnet jetzt klugscheißern?“, verlangte Andreas entnervt zu wissen, noch immer darum bemüht, eine freie Schusslinie zu bekommen.
„Natürlich“, antwortete sie beiläufig, ehe sie sich auf dem Absatz ihres Wanderstiefels um neunzig Grad drehte, den Oberarm des keuchenden Viehs zu fassen bekam und es in den Abgrund stieß. „Ich sterbe eher, bevor ich mit dem Klugscheißern aufhöre“, erläuterte sie dann lapidar, während sie dem fallenden, einst menschlichen, Körper breit grinsend hinterherwinkte.
„Du bist unmöglich!“ Andreas verstaute seinen Revolver, schnappte sich den Trageriemen des Rucksacks und reichte seiner besten Freundin die Hand. „Das war saugefährlich! Den nächsten lässt du gefälligst in Ruhe.“
Sie schaute ihn gespielt ernst an, zog die Mundwinkel nach unten und streckte ihm die Zunge heraus. „Quatsch, das sind dumme Fuckzombies, denen muss man mit harter Intoleranz begegnen.“
„Einfach unverbesserlich.“ Den Kopf schüttelnd bugsierte er seine ehemalige Videospielgenossin in die Richtung des gegenüberliegenden Ufers. „Klar, lass uns gleich einen einfangen, damit du mit ihm kuscheln kannst.“
„Ha!“, grölte sie munter. „Wenn du vorher den Moder von ihm kratzt, absolut.“ Ihre Hand entglitt ihm, als sie fröhlich summend, ihre fehlende Schwindellosigkeit vergessend, vor ihm hertrabte. Andreas betrachtete sie mit Freude und Sorge zugleich; war sie tatsächlich und wahrhaftig lebensmüde oder schlicht grössenwahnsinnig?

Autorin: Rahel
Setting: Staudamm
Clues: Intoleranz, Gleiter, Dekonstruktion, Suchkopfrakete, Kuscheln
Diese Geschichte ist ein Spin-Off des Romans „Nach Hause“ und verrät ein wenig über die Vergangenheit des Nebencharakters „Andreas“.
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