Das X mit dem Y, oder warum blaue Kugelschreiber out sind

Der Regen des Sommergewitters prasselte auf das Dach des Aufnahmestudios und ein Donnerschlag folgte so nahe auf den vorhergehenden, dass sie beinahe zu einer Kakophonie verschmolzen. Cara stand unter dem Vordach und nahm mit bewundernswürdiger Sturheit einen Zug von ihrer Zigarette, und der dichte Regen war so stark, dass sie auch im Trockenen in einer feinen Wasserstaubwolke stand. Ein Blitz erhellte die Abenddämmerung und der Knall war nahezu zeitgleich zu hören. Cara zuckte zusammen, denn der Blitz musste ganz in der Nähe eingeschlagen sein. Sie warf einen letzten skeptischen Blick auf ihre halb abgebrannte Zigarette, doch sie traute der Sache nicht mehr und warf die Kippe daher in den Aschenbecher, der an einen kleinen See erinnerte, bevor sie die Tür aufzog und rasch wieder ins Innere des Studios schlüpfte.
Severin sah von seiner Ausgabe von „WIRED“ auf und erhob sich, als seine Kollegin fragte: „Und, gibt’s was Neues in der Welt der Wissenschaft?“
„Ich bin noch nicht durch, aber ich habe ein schönes Bild vom Jupitermond Europa gefunden.“
„Das will ich mir später unbedingt ansehen“, entgegnete Cara und versuchte halbherzig, ihre langen und normalerweise glatten Haare mit den Händen trockenzureiben, was natürlich nicht gelang. „Irgendwann sollten wir bald weitermachen können, ich möchte heute auch noch fertig werden.“
„Dann solltest du nicht zu viel rauchen“, meinte Severin amüsiert. „Es ist ja kein Country- oder Jazz-Song, also müsste die Stimme einigermaßen klar und nicht zu kratzig sein.“
„Keine Angst, das kriege ich hin“, entgegnete Cara und setzte sich auf eine herumstehende hölzerne Box. Ich frage mich eher, was das für ein Aufnahmestudio sein soll, in dem man die Donnerschläge hören kann.“
„Sei nicht so hart, immerhin ist es dafür superbillig zu mieten“, warf Severin ein und legte die Zeitschrift weg. Cara zeigte mit einem schrägen Grinsen nach oben, wo einige Deckenplatten herunterbaumelten. „Die Verkleidung fällt auch schon von der Decke, siehst du?“
„Hey, ist das Asbest?“, fragte Severin alarmiert und deutete auf etwas Weißliches, das aus dem Loch baumelte. Nach einem prüfenden Blick meinte Cara, die quasi darunter stand: „Nein, das sind alte Zeitungen.“
„Und wieso bitte hängen alte Zeitungen aus der Decke? Diese Bude ist ein Desaster!“
Cara zuckte mit den Schultern und erhob sich wieder um sich zu strecken. „Keine Ahnung, Isolation?“
Ein weiterer Donnerschlag zerriss die Stille und Cara konnte fühlen, wie der Boden erzitterte. „Hm. Das könnte noch länger dauern.“
„Ja, aber wenn wir nicht nochmal für das Studio bezahlen wollen, müssen wir weitermachen, denn der Typ wird sicher trotz dem Gewitter den vollen Preis verlangen“, murrte Severin. „Außer natürlich man könnte rechtlich vorgehen und argumentieren, dass man die Zeit nicht nutzen konnte…“
„Ach, lass deine Anwaltsinstinkte, die Zeit, die du dafür verschwenden würdest, können wir auch gleich nutzen und die Aufnahme hinter uns bringen, den Song schaffen wir heute.“
„Zum Glück bin ich seit einem halben Jahr Anwalt“, meinte Severin lachend. „Du bist nur Schmarotzer.“
„Hey!“, rief Cara aus, man konnte ihr jedoch ansehen, dass sie es lustig fand. „Ich bin auch noch Studentin, wenn ich gerade nicht schmarotze. Und Sängerin, aber dafür kriege ich kein Geld. Jedenfalls noch nicht, wer weiß.“
„Unser Mangel an Fans könnte daran liegen, dass fast jeder Zweite in unserem Alter was Künstlerisches neben dem Job macht“, meinte Severin und erhob sich ebenfalls. „Hier drin ist’s mir zu schwül, geh mal eine rauchen, dann habe ich einen Vorwand um auch in den Regen zu stehen.“
„Wieso brauchst du dazu einen Vorwand?“, fragte Cara, hob jedoch ihr Zigarettenpäckchen auf und ging auf die Tür zu, während ihr Freund ihr folgte. Er ignorierte ihre Frage und führte seinen Gedankengang fort. „Also, das Problem mit unserer Generation ist, dass wir alle nur noch tun, was wir wollen.“
„Meinst du?“, fragte Cara skeptisch, während sie sich einen Glimmstängel anzündete. Der Regen hatte schon etwas nachgelassen, doch der Donner war noch immer zu laut.
Severin nickte. „Auf jeden Fall, sie doch nur mal uns an. Wir haben schon ein ganzes Album aufgenommen, ein paar Bilder gemalt… Du siehst ja, wo das hinführt.“
„Dann findest du das nicht gut?“, wollte sie wissen und lehnte sich gegen die Wand.
„Doch, doch, dass wir es tun können schon. Ich meine ja nur, manchmal frage ich mich einfach, seit wann es nicht mehr notwendig ist, nur noch die angeblich sinnvollen Dinge zu tun.“
„Immerhin kaufen die auch unser Zeug“, gab Cara zu bedenken. „Zumindest wenn sie noch Geld haben, nachdem sie sich eine Vintage-Schallplattensammlung zugelegt haben.“
„Trotzdem“, wandte Severin ein, „eine komische Generation, wenn man es sich überlegt.“
„Wir sind führungslos, hochvernetzt, oft neugierig und auf Selbstverwirklichung fixiert“, entgegnete Cara.
Severin gab ein zustimmendes Geräusch von sich und genoss den Duft nach nassem, heißem Asphalt. „Was erwartest du? Unsere Eltern waren die Achtundsechziger, Babyboomer und wenn’s hoch kommt noch ein paar Hippies, deren Träume dann in einem kleinen Büroverschlag oder einer vollgestopften S-Bahn endgültig zermalmt wurden. Irgendwann dachten die nicht mehr an Anarchie, sondern nur noch an DIN-A4-Blätter und blaue Kugelschreiber.“
„Blaue Kugelschreiber sind schon eine Ausgeburt des Bösen“, lachte Cara. „Wir haben Schwarze, die sind viel schöner.“
„Vielleicht haben wir einfach den Luxus, uns einige Träume leisten zu können“, sinnierte Severin und warf einen sehnsüchtigen Blick auf Caras Zigarette, deren Duft ihn an vergangene Zeiten erinnerte. Doch er würde nicht wieder damit anfangen, das hatte er sich fest vorgenommen. Sie drückte die heruntergebrannte Kippe aus und lauschte dem plätschernden Regen, bevor sie sich endlich zu einer Antwort durchrang. „Ich glaube schon, aber das hatten die vor uns auch. Sogar die ganze desillusionierte Welle aus Nirvana-Fans hatte ihre Wünsche, aber sie haben es nicht auf dieselbe Art gezeigt wie wir. Oder vielleicht doch?“
„Und sobald du Kinder hast, ist’s mit der Träumerei aus“, meinte Severin erstaunlich trocken.
„Komm schon, wir sind noch keine Dreißig, also gibt’s noch gar kein Grund für Torschlusspanik“, gab Cara zurück. „Und ich will sowieso keine Kinder, die kosten zu viel.“
Severin lachte, unterbrach sich dann aber: „Hey, das Gewitter ist vorbei, machen wir weiter?“
„Klar, ich kann gar nicht darauf warten, dass der Track fertig wird und wir ihn endlich auf iTunes stellen können, wer weiß, wie viele Leute ihn diesmal herunterladen, vielleicht ja sogar mehr als zweihundert.“
„Reich würden wir damit auch nicht werden“, murmelte Severin nachdenklich. „Wir sind eine Generation von Träumern. Aber immerhin machen manche von uns auch was daraus, auch wenn es allzu selten wahrer Profit ist.“

Autorin: Sarah
Setting: Aufnahmestudio
Clues: DIN A4, Verkleidung, Schmarotzer, Europa (Jupitermond), Schallplattensammlung
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