Gaststory | Die Kunst zu überleben

„Wer braucht jetzt noch irgendwelche Stangenlager?“, spuckte Fritz Dupont vor sich hin. Wütend begann er damit, die Bombensplitter in seinem Eisenwarenladen von einer Ecke in die andere zu fegen. Die drei großen Frontfensterscheiben waren bei dem verheerenderen Bombenregen der letzten Nacht zu Bruch gegangen. Nicht nur das. Auch alle Muttern, Nägel, ohnehin das gesamte Sortiment aus dem Kleinteileschrank lag kreuz und quer auf dem Holzboden verteilt.

„Die haben doch eine Schraube locker. Was ist das für ein Jahrzehnt, in dem man es sich nicht mal mehr gemütlich machen kann?”, Herr Dupont stemmte seine knöchrigen Arme in die Hüften und unterbrach das Kehren seines Ladenlokals. Seine Wut wechselte sich mit dem reinsten Unverständnis ab, das man im Leben aufbringen konnte. Wie die anderen Ladenbesitzer in der Falkenstraße konnte er einfach noch nicht recht fassen, was über Nacht in seiner friedlichen Gegend vor sich gegangen war.

Nachdem das erschreckende Ende des Krieges einige Millionen Opfer gefordert hatte, läuteten jetzt vor allem die Sanktionen des Staates eine fatale Wende ein. Jeder wusste, dass nichts mehr sein würde wie vorher. Geistesgegenwärtig hatte Herr Dupont sich bis vor den großen Ladenschrank vorgekehrt. Nun stand er vor ihm und genoss den Anblick wahrlich nicht. Das Chaos in seinem Laden spiegelte sein zerrüttetes Innenleben wieder und ebenso wie die Eisenteile, die aus dem mächtigen Magazinschrank gesprengt worden waren und nun wie kleine Speerspitzen aus dem Boden ragten, vermischt mit Steinbrocken und Holzbalkensplittern, setzte sich besonders der dreckige Staub in seinen Atemwegen fest. Seine Todmüdigkeit legte sich als tiefer, schwarzer Augenrand auf die Lauer. Sie zeichnete ein Trauerspiel mitten in sein Gesicht. Eisenfad und ausgelaugt vom Bombardement der letzten Nächte fühlte er sich. Ebenso grau war seine Gesichtsfarbe. Sie passte zum Rest des Anblicks. Genauso zur Stimmung. Obwohl Fritz Dupont als guter Geschäftsmann weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt war, spielte er mit dem Gedanken alles hinzuwerfen. Bitterkalt verlor er die Fassung. Wie Sodbrennen stieg die Wut in ihm hoch und kroch garstig seine Speiseröhre empor. Aufgebracht spuckte er nassen, klebrigen Speichel auf den zerstörten Boden. Verzweifelt suchte er nach seinen Minzblättern in seinen Hosentaschen. Das Rauchen hatte er aufgegeben, aber er fand, dass jetzt ein guter Zeitpunkt gewesen wäre, um wieder damit zu anzufangen. Stechpalmengrün glänzte die Minze in seiner Handfläche, als er endlich einen kleinen Zweig gefunden hatte. Bissig kaute er darauf herum. Er genoss den frischen Sud, der seine Spucke augenblicklich nicht mehr ganz so böse nach Staubpulver schmecken ließ. Seine Ohren wurden heiß. Unter seinem Hemd stand der Schweiß. Er streifte den Stoff von sich ab, dann knüllte er ihn wie einen nassen, alten Lappen zusammen und feuerte das Hemd zwischen die Fetzen auf den Boden, so als könnte er es nicht schnell genug loswerden.

„Diese Hackköppe“, stieß er laut aus. „Sich nicht einig über den Länderabgleich werden und uns dann die Bomber schicken. Politiker! Alles wie Ameisen tüchtig von oben entscheiden wollen und uns Termiten im Unterholz dafür bluten lassen.“

Herr Dupont kriegte sich nicht mehr ein. Als er so richtig an Fahrt aufgenommen hatte, läutete die Glocke vom Bürgerplatz. Sie war unversehrt geblieben und zeigte an, dass sich die Falkenstraße zum Wiederaufbau treffen sollte. Steine schleppen, Trümmer wegräumen, Holzreste sortierten. Während Dupont den Besenstiel mit seinen dünnen Fingern noch etwas fester umkrallte, drängten sich ihm immer heftiger werdende Kopfschmerzen auf. In seinen Schläfen pochte es. Ein aufdringlicher Druck machte sich in seiner Stirn breit. Herr Dupont massierte seine Augenbrauen. Er zupfte sie zurecht, als wollte er jemanden beeindrucken. Buschig waren sie. Mit grauen Strähnen durchzogen. Fast schon widerspenstig. Wie das Hundehaar eines Mischlings. Heute würde er nicht mithelfen.

„Ich muss wissen, ob es funktioniert“, sagte Fritz Dupont schließlich laut. Er schien auf einmal sehr entschlossen. Einen aufflackernden Glanz konnte man sogar in seinen müden Augen erhaschen. Schmerzerfüllt, wenngleich doch gefasst und motiviert warf sich Dupont noch ein paar Minzblätter ein, bevor er sich auf den Boden hockte und damit begann, die Eisenteile zu sortierten. Sein Wissensdurst über das was im Unmöglichen möglich werden konnte, war größer als die Hoffnungslosigkeit über die allgegenwärtige Situation.

Das ging dann jeden Tag so weiter. Von morgens bis nachmittags schleppte Fritz Dupont müßig Steinteile, Hauswandfetzen und Schutt. Man ging einander ordentlich zur Hand, die Trümmer des gebeutelten Ortes zu sortieren und wegzuräumen. Aber anstatt sich mit den anderen bis in die Abendstunden zu quälen, verabschiedete Herr Dupont sich jeden Nachmittag kurz bevor sich die Nachbarschaft zum Abendessen auf dem benachbarten Bürgerplatz einfand, in seinen Laden und ward bis zum nächsten Tag nicht mehr gesehen.

Bald war das Bild der Zerstörung etwas freundlicher geworden. Es stand auch schon wieder ein Stein auf dem anderen. Man türmte verschiedene Haufen auf dem Bürgerplatz, die allesamt unterschiedliche Ordnungsmuster aufwiesen. Auf diese Weise versuchte man das, was noch zu gebrauchen war, von Unbrauchbarem zu trennen. Verschüttete Holzmöbelteile wurden freigebuddelt, Parkbänke und Holz aus Grünanlagen gesammelt, Bücher und sogar Parkettböden wurden verheizt, um wenigstens etwas Wärme zu haben. Die in vielen Ecken des Landes vorherrschende Hungersnot wurde zum größten Feind der Bevölkerung, nach der Sorge um die an der Front verbliebenen Männer und Söhne. Und immer noch war das Märchen vom Endsieg seitens der Politiker in einer irrsinnigen Propaganda aufrechterhalten worden.

Das tägliche Verschwinden des Herrn Duponts war inmitten dec Chaos’ natürlich nicht unentdeckt geblieben. Stimmen wurden laut, er würde sich heimliche Essensrationen bunkern, um sie mit niemandem teilen zu müssen. Dieses Gerücht versandete jedoch so schnell wieder wie ein Alliierter im Omaha Beach. Nachdem sich Kurti, der Dackel des Herrn Krugerrath, mit einem großen Stück Dosenwurst auf den Rückweg machte und sich damit von Duponts‘ Eisenwarenladen weglocken ließ, war man sich einig darüber, dass Dupont etwas anderes im Schilde führen musste.
„Da geht etwas gar nicht mit rechten Dingen zu“, piepste Fräulein Müller, die nur um Haaresbreite dem Bombenschlag in ihrer Teeküche entkommen war. Die Splitter waren vom Ohrensessel abgefangen worden, in dem sie zur Stunde des Anschlags gesessen hatte. „Er würde Kurti ja nicht mit einem Leckerli abspeisen, bloß um von seiner Heimlichtuerei abzulenken.“
„Dafür ist der Dupont auch zu gutmütig. Es muss etwas anderes sein“, merkte Willy Hummel an, der eben seine letzten Rationen Kommissionsbrot unter den Nachbarn verteilt hatte.
„Wir sollten in den nächsten Tagen ganz zufällig in seinen Laden marschieren und einfach mal nachsehen. Wir kommen schon noch dahinter, was der Dupont da bis zur letzten Tageslichtstunde treibt.“
Und genau das tat man. Wie das Licht die Motten, zog die Neugier über das, was im Ladenlokal des Duponts‘ vor sich ging die Falkenstraße an, so dass eine kleine Gruppe schließlich in den Eisenwarenladen einfiel, um in auf frischer Tat zu ertappen. Was sie erwartete, trieb ihnen ein ungläubiges Staunen in die Augen. An den maroden Wänden hatte Herr Dupont Holzplatten angebracht. Nägel waren eingehämmert worden und bildeten die verschiedensten Muster. Mal einen Stern, mal eine Spirale, mal einen Schriftzug, einen Hundekopf, einen Baum, ein Quader im Quadrat, Herzen und andere Gebilde. Das gleiche Bild ergab sich mit den Schrauben. Auch sie waren in Holzreste und Bretter gedreht und ordentlich verschraubt worden und hinterließen einen Anblick von Formen über Formen.  Muttern hingen an einem Draht aufgefädelt, der stramm von einer Zimmerecke in die andere gezogen war und zusammen mit Perlen, Kupferdeckeln und allerlei anderem bunten „Müll“, der da aufgezogen war, machte es den Anschein eines verrückten Deckenschmucks, der an einen Rechenschieber erinnerte. Zwischen den Muttern baumelten auch Schlüsselringe, Stifthaken und Schlossfedern. Die Spiegelklammern steckten eher unförmig an dem starren Drahtwerk, aber auch sie waren mit den Resten an Müll und Schutt verbunden und mit etwas Fantasie konnte man eine Skulptur erkennen. Die Spannschlosser verbanden die Eckenkonstruktion mit einem der in die Höhe ragenden Brettern, auf denen ein Hundemuster zu erkennen war. Man konnte sagen was man wollte: Fritz Dupont hatte ein Kunstwerk erschaffen. Er hatte die Hälfte an Stahl und Eisenzeug entweder irgendwo aufgehängt, verschraubt, eingebettet und verdrahtet, auf jeden Fall sortiert und verwendet. Die andere Hälfte, hatte er vorsorglich als Schüttware abgepackt. Vielleicht würden sie zu Aufbauarbeiten noch gebraucht werden. Die Skulptur stand für sich. Nicht, dass sie das Chaos linderte, welches der Krieg hinterlassen hatte, trotzdem war sie ein echter Hingucker und das ließ zumindest all den Schlamassel, in dem man steckte, erst einmal vergessen. Wenigstens für einen kurzen Augenblick.
„Was ist das, Onkel Fritz?“, traute sich endlich Klaus zu fragen, der kleine Metzgerjunge des Herrn Meisers. Das war Duponts‘ Stichwort. Den in Begleitung der neugierigen Erwachsenen gekommen Kindern drückte er Wolle in die Hände. „Hier, das könnt ihr da rum wickeln“, forderte er sie auf. Und schon bald sah man Kind für Kind an einem der Brettnagelbilder werkeln und wie sie fleißig damit beschäftigt waren, mal farbige und mal nicht farbige Wolle um die Nägel und Schrauben zu fädeln. In lauter Eifer und Eleganz entstanden weitere Kunstwerke. Eines nach dem anderen und alle ganz individuell. Man entschied sich schnell, die Schrauben und Nägel Tag für Tag wieder aus ihren Holzlöchern zu befreien, um immer wieder neue Bilder entstehen zu lassen. Außerdem waren die Kinder mit etwas anderem beschäftigt und auch den Erwachsenen tat die Ablenkung vom Trümmerräumen ganz gut.

Und wenn man heute das Atelier Dupont besucht, dann sicher auch, um ein paar schicke Nägel im Säckchen samt Holzbrettchen mit nach Hause zu tragen, um sich selbst einmal an den Fadenbildern zu versuchen.

Autorin: Jennifer Hilgert
Setting: Eisenwarenladen
Clues: Hundehaar, Jahrzehnt, Minze, Wissensdurst, Politiker
Mehr über Jennifer Hilgert sowie alle Links zu ihren Seiten findet ihr auf ihrer Gastautorenseite. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

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