Special zu Rahels dreihundertster Story | Von Dreihundert auf Null

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Warnung: Diese Kurzgeschichte greift ein Thema auf, das einige Leser beunruhigen könnte. Mehr zu unseren Warnungen sowie wann und weshalb wir sie anwenden, erfahrt ihr in unseren FAQ.

„Hübsch hast du es hier.“ Er näherte sich der magischen Grenze, der haarfeinen Linie, die zwischen ihm und der pulsierenden Neonhölle stand. Noch gelang es Robert einigermaßen stillzusitzen, seinem Gegenüber eine Maske zu präsentieren. Unter dem Tisch rieb er mit dem Daumen über seinen Zeigefinger, die Haut dort war verhornt, das Gelenk dick von der jahrelangen repetitiven Belastung. Er lächelte seinen kleinen Bruder an, legte dabei zwei notdürftig geflickte Schneidezähne frei. „Wie viele Quadratmeter habt ihr? Zwei-, dreihundert?“
„Uff, das weiß ich nicht genau. Da wüsste Tom besser Bescheid.“ Robert erinnerte sich lebhaft daran, wie aufgelöst seine Mutter gewesen war, als René sich geoutet hatte. Ihr Vater war Tage danach ausgezogen, weiß der Teufel wohin dieser Bastard verschwunden war.
„Und die Lage erst“, schwärmte Robert weiter, kämpfte gegen den Neid und die ansteigende Übelkeit. „Nahe am Park, echt vornehm. Muss viel gekostet haben.“ René grinste beschämt, eine peinliche Stille folgte. „Naja, egal.“ Für einen Augenblick löste Robert seine krampfenden Hände, platzierte sie flach auf den Oberschenkeln. „Ich bin auf jeden Fall froh, dass es dir gutgeht, kleiner Bruder. Dich so zu sehen …“ Seine Unterarme zitterten, das sanfte Licht der skurril geformten Deckenlampe, die mittig über dem Esstisch hing, wohl ein überteuertes Designerstück, glühte auf seiner Netzhaut. „Dich so zu sehen freut mich sehr.“
„Oh.“ Ihr letztes Treffen war lange her, nach seinem letzten Entzug hatte René ihn bei sich aufgenommen, ihre Mutter wohnte damals bereits im Altersheim und erkannte ihre Söhne nicht länger. Ende der Siebziger war René der Schandfleck der Familie gewesen, mit der Zeit war die Scham allerdings verblasst, dem Stolz auf einen erfolgreichen Sohn und Stiefvater gewichen. „Danke, Robby. Das ist lieb von dir.“
„Sicher“, brach der Ältere das neuerlich drohende Schweigen. Keiner erkundigte sich danach, wie es ihm ging, daran hatte er sich gewöhnt, verstand, weshalb es niemanden mehr interessierte. In den Neunzigern, seit seinem Autounfall sowie den darauffolgenden Schmerztherapien, übernahm Robert die Rolle des schwarzen Schafs und er spielte sie perfekt. Das Reißen in seiner Armmuskulatur wurde zusehends unerträglich, seine ruhige Fassade würde bald in sich zusammenstürzen. Gezwungen kontrolliert verlagerte er sein Gewicht von einer Pobacke auf die andere, schob seine Füße auf dem fein gemusterten Teppich vor und zurück.
„Also“, begann René und rieb sich übers Gesicht, die Nervosität zwischen ihnen war spürbar, dann stellte er die unausweichliche Frage: „Was brauchst du?“
„Dreihundert Euro.“ Es war sinnlos, ihm etwas vorzumachen, René wusste, weswegen er nach all den Monaten ohne jeglichen Kontakt einfach so bei ihm aufgetaucht war. „Dreihundert reichen.“
Die Tür ging auf und Toms Schuhe quietschten auf den Bodenplatten im Flur. „Hey Schatz“, rief er und schaute um die Ecke in die Wohnküche. „Ach.“ Tom und René warfen sich vielsagende Blicke zu, Robert kannte das Prozedere, ließ die Demütigung klaglos über sich ergehen, nutzte dankbar den unbeobachteten Moment, um sich den Schweiß von Stirn und Oberlippe zu wischen. „Hallo Rob.“
„Tom. Schön dich zu sehen.“ Das war es wirklich, trotz dessen offenkundiger Abneigung gegen ihn, mochte Robert seinen Schwager, vor allem weil er ihn als einziger nicht wie ein rohes Ei behandelte.
„Willst du Abendessen zu deinem Geld?“, knurrte Tom, hielt inne und schnaubte entnervt, ehe er eine übervolle Tüte mit Lebensmitteln aus dem Flur zur Kücheninsel schleppte.
„Nein, danke“, erwiderte er laut, sodass der andere ihn hörte. „Du bist mich gleich wieder los, versprochen.“
„Fabelhaft“, ächzte Tom. „Vielleicht bis du dieses Mal weg, bevor du uns das Wohnzimmer vollkotzt.“
„Tom!“, ermahnte René aufgebracht, doch Robert winkte lachend ab.
„Schon okay, kleiner Bruder, er hat ja Recht.“ Er sah sich abermals in der neuen Wohnung der beiden um, beäugte die vertikal aufgebundene Pflanze, die seitlich der Treppe über ihren Moosstab hinauswucherte und sich ans Geländer krallte. Sein Puls beschleunigte sich von Minute zu Minute, in wenigen Stunden läge er gekrümmt am Boden. „Wenn du mir die Dreihundert geben willst“, holte er aus und erhob sich aus dem schweren Metallstuhl, blieb mit hängenden Armen vor dem Tisch stehen „mache ich mich dann sofort auf den Weg.“
René seufzte tief, bemühte sich sichtbar, es dabei zu belassen, keine weitere Standpauken zu halten und marschierte zur Geldbörse auf der Ablage, aus der er sechs Fünfziger kramte und vor seinen Bruder legte. „Ruf mich an, wenn du es nochmal probieren willst.“

Robert zerrte den Kragen seines Parkas hoch, versuchte mit dem abgewetzten Stoff so viel wie möglich von seinem Kopf zu bedecken. Es war noch hell, der Nieselregen beschwerte sein lichtes Haar unangenehm und sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Wenn er sich beeilte, schaffte er es rechtzeitig zum Hofgarten, könnte das Schlimmste verhindern und bald schon erlöst und friedlich auf seiner Matte schlummern.
„Rob“, begrüßte ihn eine der zahlreichen Gestalten beim Hofeingang, es war Helge, der mit geweiteten Pupillen auf ihn zukam und wissen wollte: „Hast du die Kohle?“
„Lass mich“, motzte er den Junkie unwirsch an und drängte sich an ihm vorbei in die Azaleengasse, wo er Fred oder Azmir vermutete, die ihm die dreihundert Euro abnähmen und dafür ordentlichen Stoff gäben. Wie üblich in dieser Situation purzelten seine Gedanken durcheinander, sein Ziel kam ins Wanken und er verlangsamte seine Schritte, knibbelte frenetisch am Bändchen seines Kapuzenpullovers herum. In die Angst vor den lauernden Entzugsqualen, dem Blitzlichtgewitter, das seine Innereien zu Flüssigkeit pürieren und seine Knochen in tausend Scherben verwandeln würde, mischte sich der ewige Wunsch, aus diesem Karussell auszusteigen. Robert hatte etliche Male Anlauf genommen, sich in ein Zimmer eingeschlossen, um Hilfe gebeten, gefleht, gebetet und geflucht und sogar einige Erfolge gefeiert. Wundervolle Zeiten waren das gewesen, kurze Einblicke in ein lebenswertes Dasein, schlussendlich war das Heroin stets stärker gewesen. Es war, als wollte er sich das Blinzeln untersagen und eine Weile klappte das, er konnte das Brennen erst ignorieren, dann aushalten, bis ihm die Luft wegblieb und der Drang, die Augen zu schließen, zu einer schlichten Notwendigkeit wurde und er erneut auf dem Nullpunkt ankam.
„Rob, du schon wieder?“, tönte es aus einer Ecke und Fred humpelte auf ihn zu. „Wie viel willst du heute?“
Er zögerte, umklammerte die sechs Fünfzigerscheine in seiner Tasche und zwinkerte gegen die aufflammenden Vorboten an, Neonlichter, die durch sein Sichtfeld zuckten. „Gib mir …“, stammelte er dem Weinen nahe „gib mir für dreihund…“ und unterbrach sich. „Ich gebe dir einen Fuffi, wenn ich dein Telefon rasch haben kann, ich muss meinen Bruder anrufen.“

Autorin: Rahel
Themenvorgabe: 300
Auf ein Wort, liebe Leser. Suchterkrankungen sind für Betroffene sowie Angehörige alles andere als eine unterhaltende Kurzgeschichte, vielmehr steckt dahinter eine lange Leidensgeschichte. Weder Betroffene noch Angehörige müssen alleine auf ein glückliches Ende hinarbeiten, sondern können auf Unterstützung zählen, wenn sie sich das wünschen.
Mehr Informationen zum Thema findet ihr unter anderem bei Sucht | Schweiz, der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen und beim Österreichischen Suchthilfekompass. Wir wünschen euch viel Kraft, eine ordentliche Prise Glück und eine Menge Durchhaltewillen.
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