Ein Ochse mit Brüsten

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

„Oy“, rotzte Jerry Lee und bedeutete Otis, sich zu beeilen. Es war ein schöner Tag, einer von etlichen in Folge, die Gegend war bekannt dafür von Februar bis November kein Wölkchen, geschweige denn einen Regentropfen zu kredenzen. In einer Viertelstunde stand der Feierabend, besser, das Wochenende vor der Tür und er hatte mitnichten vor, wegen dem Eiernacken Überstunden zu schieben. „Vorwärts jetzt!“ Otis war sein bester Freund, sein einziger noch dazu, und er fand den trägen Dussel absolut unerträglich. Das hatte wenig mit Otis zu tun, Jerry Lees Oberstübchen war, wie seine Ma es ausdrückte, einfach nicht gemacht um Leute zu mögen. Vermutlich fehlte ihm eine Hirnwindung oder er hatte eine zu viel. „Du bist so nutzlos wie ein paar Prachtstitten an einem Ochsen“, nörgelte er, als Otis seinen Glimmstängel wegschnippte und damit nur knapp den Sägemehlhaufen verfehlte, der eigentlich schon donnerstags hätte abtransportiert werden sollen. „Nein, so nutzlos wie die Autokorrektur“, wetterte der hagere Typ entnervt. „Machst alles schlimmer.“
Otis war, wie man zu sagen pflegte, als Kind auf den Kopf gefallen, allerdings tatsächlich, nicht bloß sprichwörtlich. Wahrscheinlich passten sie deshalb gut zueinander, weil beide einen kleinen Gehirnschaden hatten. Das chaotische Summen der Bienen, Mücken und Käfer ließ nach, wich dem gleichmäßigen Zirpen der Zikaden. Sehr zu Otis und Jerry Lees Freude erbarmte sich die Natur und kühlte die Luft im Sägewerk mit einem milden Wind.
„Du, Jerry Lee“, holte Otis aus, ohne für eine Sekunde das dämliche Lächeln zu verlieren, das sein Gesicht von morgens früh bis abends spät verschandelte. „Die Missus hat bald Geburtstag, oder?“ Otis war, das durfte man ruhig aussprechen, ein dicker, nein, ein ungemein fetter Zeitgenosse, dessen Umfang lediglich von seiner Blödheit überboten wurde. Doch ebenso feist und unterbelichtet wie er war, so freundlich war er eben auch, weshalb die meisten seine verbalen sowie flatulenzbedingten Ausdünstungen relativ klaglos duldeten.
„Ja, hat sie“, seufzte Jerry Lee, den Schreck, erneut den Geburtstag seiner Teuersten vergessen zu haben, herunterschluckend, packte eine Latte am hinteren Ende und wartete darauf, dass Otis seinen Hintern in Bewegung brachte. „Heute.“
„Was schenkst du ihr?“ Gemächlich rieb er mit seinen Wurstfingern Sägestaub aus den Augen, streckte sich und missverstand Jerry Lees verärgertes Fuchteln als Winken, also drehte er sich um. Einige Sekunden starrte er in die Landschaft, um nachzuschauen, wen der andere gegrüßt habe. Außer einer Krähe, die emsig an einem Loch herumpickte und wohl hoffte, darin einen vertrockneten Wurm zu finden, war niemand Sicht. Schulterzuckend brummte Otis etwas Unverständliches, ehe er nachhakte: „Schmuck?“
„Nein.“ Jerry Lee hatte im Laufe seiner Arbeitsjahre insgesamt fünf Fingerglieder verloren, zwei davon links, drei rechts und das, was er daran am meisten bedauerte, war, dass seine Stummel einen eher kläglichen Ersatz für einen prachtvoll ausgestreckten Mittelfinger boten. „Nein, kein Schmuck. Geht dich sowieso einen Scheißdreck an“, knurrte er, festigte seinen Griff um das Holz und fügte ungehalten an: „Mach hin, der Laden ist sauschwer!“ Am liebsten hätte er dem Fettwanst einen ordentlichen Nasenstüber verpasst.
„Oh, sorry.“ Ein köstlicher Anblick, den Dicken rennen zu sehen, selbst der ewige Miesepeter Jerry Lee ließ sich ein Schmunzeln entlocken. In ulkiger Hast fasste Otis an und hievte den hinteren Teil der zu sägenden Latte dermaßen schwungvoll aufs Laufband, dass er seinem Kumpel das Brett regelrecht aus den Händen riss. Eines musste man ihm lassen, Kraft hatte der Junge wie ein Ochse, einer mit Brüsten, wie Jerry Lee vorhin festgestellt hatte. „Voila“, trällerte er mit stark verstellter Stimme und englischem Akzent und klopfte sich Sägestaub vom Overall, dessen Schultergurte er über den Rücken geworfen hatte, statt sie vorschriftsmäßig oberhalb der Brustwarzen zu schließen. „Zurück zum Geschenk.“
„Ich würge dich, wenn du nicht sofort die Klappe hältst“, blaffte der Ehemann, der direkt nach Arbeitsende in der Tankstelle ein paar Rosen kaufen und mit hängendem Kopf nach Hause gehen würde. Vorbei war sein Traum vom gemütlichen Wochenende am Grill und er bereute einmal mehr, auf seinen stets heiterbetrunkenen Vater gehört und ein liebes Weib geheiratet zu haben. Wie es einem mageren Burschen ohne jegliches Einfühlungsvermögen gelungen war, eine Frau wie Charity abzukriegen, verstand keiner, naja, außer vielleicht Otis, der gutmütige Ochse, der grundsätzlich in jedem das Gute erkannte.
„Wenn du nichts hast, gebe ich dir den Anhänger, den ich letzte Woche für meine liebste Delilah geholt habe“, bot er an, während er den drittletzten Holzladen in der Mitte umfasste und aufs Förderband wuchtete. „Ein hübsches Ding: Silber, Blattform mit einer Öse dran, geht an jede Kette.“
„Scheiße, Otis, halt endlich die Fresse. Was ich meiner Charity schenke, kann dir egal sein!“ Zugegebenermaßen brauchte es wenig, Jerry Lee wütend zu machen, aber Otis schien darin wirklich ein ganz besonderes Talent zu haben. Vor einigen Monaten hatte er sogar in Erwägung gezogen, den Boss darum zu bitten, in die andere Sägemühle der Firma versetzt zu werden, um dem dauergrinsenden Tölpel zu entkommen, sich allerdings dagegen entschieden, weil der Chef ihn auf dem Kieker hatte. Insubordination war ihm vorgeworfen worden, nur weil er dem Macker im Büro nicht in den Arsch kroch.
„Bist du sicher?“, fragte Otis, als er den zweitletzten Balken alleine zur Säge beförderte und wie üblich keinen Mucks dazu sagte, dass Jerry Lee längst vor Feierabend seine Arbeitsmoral an den Haken gehängt hatte. Gelassen lehnte er sich gegen den auf dem Laufband liegenden Holzlatten, bemerkte nicht, wie einer seiner Schultergurte des Overalls langsam aber sicher in Richtung des gefräßigen Schlunds der Säge wanderte. „Ich geb’ dir den Anhänger gern, kann Delilah einen ande…“
„Grundgütiger!“, schrie Jerry Lee wütend, katapultierte sich von der Wand, an die er sich gelehnt hatte, weg und sprang dem Größeren an die Gurgel, sah aus wie ein Erdmännchen, das sich an einen Ochsen warf. Verdammt sollte er sein, sich von diesem Einfaltspinsel helfen zu lassen, schlimm genug, musste er seine ständige Fröhlichkeit ertragen. In Rage zerrte er fluchend, brüllend und kreischend an seinem Freund, hämmerte mit den Fäusten auf dessen weich wabernde Brust. Mit einem Ruck riss der verkeilte Overallriemen und Otis wurde aus der Säge befreit, taumelt nach vorne und gemeinsam gingen die beiden Männer zu Boden, wälzten sich in den Sägespänen.
„Du“, keuchte Otis fassungslos, langte sich ans Herz, hielt inne und atmete tief ein, bevor er Jerry Lee packte und umarmte. „Du hast mir das Leben gerettet!“

Autorin: Rahel
Setting: Sägewerk
Clues: Blattform, Loch, Nasenstüber, Insubordination, Autokorrektur
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