Die Gräfin im Panikraum

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

„Ich bin von einer schrecklichen Kalamität betroffen!“, kreischte sie in den Hörer, über den man bereits in den Neunzigerjahren hätte behaupten können, er habe schon bessere Tage gesehen. „Senden Sie schleunigst Hilfe!“
„Bitte bewahren Sie Ruhe, Frau …“
„Henrietta von Grubens“, füllte sie die fragende Stille. „Gräfin Henrietta von Grubens, sollte korrekterweise ergänzt werden.“ Förmlichkeiten waren ihr in jeder Situation wichtig. „Ich benötige dringend Assistenz in meiner Notlage“, drängte die Vierundachtzigjährige und blinzelte dazu nervös.
„Verstehe, Frau Gräfin. Können Sie für mich den Notfall beschreiben?“
„Ist das wirklich erforderlich?“ Die Frau vom Notfallzentrum gab ein irritiertes Schnaufen von sich, ehe sie erläuterte, weshalb die Natur der erwähnten Kalamität zu ergründen sei. Henrietta von Grubens, pardon, Gräfin Henrietta von Grubens zögerte. Der Moment war gekommen – sie musste sich entscheiden, ob sie die ganze oder die halbe Wahrheit sagen wollte. „Ich befinde mich im Panikraum meines Anwesens“, begann sie aufrichtig. Sie schluckte, blickte sich frenetisch in dem winzigen Kabäuschen um, fixierte die obere linke Ecke neben den aufgestapelten Kisten und fuhr dann fort: „Ich fürchte um meine Sicherheit! So eilen Sie mir zu Hilfe!“
„Verstehe“, wiederholte die andere, man konnte die Vibration ihres Geduldsfadens über die Telefonverbindung förmlich fühlen, so gespannt war er. „Nennen Sie mir Ihre Adresse, dann schicke ich einen Streifenwagen.“

„Da. Siehst du?“ Manfred streckte seinen linken Arm direkt vor Christians Nase aus und deutete mit seinem wurstigen Zeigefinger auf ein Loch inmitten einer ungepflegten Hecke. „Da hinten ist die Auffahrt.“ Christian war überzeugt, in einer früheren Existenz etwas Furchtbares angestellt gehabt zu haben, ohne triftigen Grund wäre er niemals mit Manny als Partner gestraft worden. Der alte Beamte war fett, roch andauernd nach Essiggurken und darüber hinaus war er vollkommen unfähig. „Dahinauf!“
„Scheiße, Manny“, keifte Christian, die fuchtelnde Hand des anderen wegschlagend. „Ich bin nicht blind.“ Manfred beäugte den Jungspund im Dämmerlicht, während dieser das Lenkrad kurbelte und in die Einfahrt einbog. Begeisterung war keine in ihm aufgekommen, als der Chef ihm verkündet hatte, er bekäme einen  Partner frisch von der Polizeischule. Zu viele Umstände habe man mit solchen Grünschnäbeln, so sanft wie Weidenkätzchen müsse man die behandeln, hatte er sich gedacht. Bald darauf war ihm dann klargeworden, welche Chance sich ihm damit bot – er konnte zum Mentor eines jungen Mannes werden und dadurch, seinen infertilen Spermien zum Trotz, sein Leben so vollenden, wie es sich für einen richtigen Kerl gehörte. Zudem mochte er Christian, das konnte nie schaden.

„Georg, hast du die Dame heute irgendwann angetroffen?“ Anna knöpfte das schneeweiße Band ihrer Haube auf, um diese dann in einem Ruck vom Kopf zu zerren. Die Arbeitsuniformen im Hause Grubens erinnerten an viktorianische Zeiten, verliehen dem, bis auf den Haupttrakt heruntergekommenen, Anwesen einen Hauch Charme. Selbst wenn sie durchweg unpraktisch waren, fand Anna die Gewänder schön. Georg schüttelte abwesend den Kopf.
„Normalerweise sitzt sie nach dem Essen an ihrer Brandyflasche nippend im Salon“, meinte er schließlich, nachdem er seine Weste aufgehängt hatte. „Hast du dort nachgesehen?“
„Ich bin nicht erst seit gestern hier“, erwiderte Anna schmunzelnd. Ja, die Trinksucht der alten Dame war niemandes Geheimnis, bestimmt nicht ihres.
„Hm …“, machte Georg und wirkte milde alarmiert. „Das ist seltsam.“
„Ist es.“ Das Smartphone verriet Anna, der Feierabend habe vor gut drei Minuten begonnen und nun steckte sie in einer moralischen Klemme – sollte sie die verschollene Gräfin suchen gehen oder den Heimweg antreten? „Tja, ich geh dann. Bis morgen, Georg.“
„Warte, ich fahr dich. Will ohnehin in die Stadt.“

„Guten Abend, Frau Lorbeer. Möchten Sie mich in den Speisesaal begleiten?“, brüllte Katja die Schwerhörige im freundlichsten Tonfall an. Ihre Arbeit liebte sie sehr und der allabendliche Besuch bei Frau Lorbeer, die tagsüber lieber schlief, statt sich pflegen zu lassen, war ihr stets eine besondere Freude.
„Speisesaal?“, murmelte die Angesprochene trocken. „Vielleicht später, Liebes. Ich erwarte einen Anruf von meiner Besten.“ Katja kam ins Stocken, blieb mitten im Raum stehen und schielte auf die fürstliche Wanduhr, welche das Altersheimzimmer dominierte.
„Sind Sie sicher, den Anruf nicht verschlaf… versehentlich verpasst zu haben?“ Frau Lorbeer dachte nach, verneinte nach einer kurzen Weile jedoch. „Das ist ungewöhnlich“, gab Katja zu und schürte damit unwissentlich Frau Lorbeers Sorge über das Wohlbefinden ihrer treuen Freundin, der Gräfin.
„Sie spricht immer vor dem Abendbrot mit mir. Immer“, schniefte die hagere Dame so herzzerreißend traurig, sodass Katja den Rollstuhl beiseiteschob und zu ihr ans Bett eilte.
„Ach, wahrscheinlich ist sie beschäftigt. Eine Gräfin hat eine Menge Pflichten.“ Ihr Trost wurde mit einem zaghaften Lächeln gedankt.
„Ja, das wird es sein.“

„Nun mach hin!“ Konrad knetete die Stelle direkt über seiner Nasenwurzel und verfluchte seine Frau dafür, diesen Bengel auf die Welt gestellt zu haben.
„Ja, ja“, murrte Thomas seinem Stiefvater entgegen, schnürte die Stiefel und schwang sich auf den Beifahrersitz. „Um was geht’s überhaupt?“
„Manfred hat Verstärkung angefordert.“ Vorsichtig manövrierte er das Feuerwehrauto aus der Garage – das neue war wesentlich grösser, eine Leihgabe der Berufsfeuerwehr, die sich letzten Herbst eine komplette Flotte angeschafft und für dieses gute Stück nun keine Verwendung mehr hatte. „Die alte Grubens hat sich wohl irgendwo eingeschlossen.“ Thomas seufzte, sehnte dem Tag entgegen, an dem er endlich ein Feuer löschen durfte und studierte heimlich daran herum, ob es eine Möglichkeit gäbe, selbst eines zu legen, ohne geschnappt zu werden.
„Aha.“ Thomas‘ schnoddrige Einstellung ging ihm gehörig auf den Zeiger, der Bursche war so unnütz wie sein Computermist, regte Konrad sich gedanklich auf, als er ungeschickt auf dem Navigationsgerät herumtippte. „Wird das heute noch was?“, spottete der Stiefsohn. „Wieso brauchst du das Navi überhaupt, du bist in dem Kuhkaff aufgewach…“
„Lass mich! Dieses Computer-Kopier-Paste-Zeug schaff‘ ich alleine, du …“, wetterte Konrad, erwischte irrtümlich den Musikplayer und wurde in der Folge von Heavy Metal und Gelächter übertönt – wieso hatte er bloß ein fünftes Mal geheiratet, als wären die letzten vier nicht nervenaufreibend genug gewesen.

„Alles unter Kontrolle“, verkündete Manfred, die Hand auf seinem Gürtel mit dem Pfefferspray ruhend, dessen Zulässigkeit auf dem Posten  mehrfach diskutiert worden war. Man hatte sich nach langem Hin und Her geeinigt, es wäre einfacher den Bürgermeister von der Notwendigkeit dieses Dings zu überzeugen, als Manny von seinem Spielzeug zu trennen. „Die Perimeter wurden gesichert.“ Christian schloss entnervt die Augen und bekam daher nicht mit, wie Konrad es ihm gleichtat. Thomas hingegen nickte mäßig beeindruckt – zumindest schien der Dorfpolizist einen halbwegs aufregenden Abend genossen zu haben und einen Pfefferspray durfte er auch tragen.
„Schön“, holte Konrad aus, „aber was sollen wir jetzt hier?“
„Dank sorgfältiger Polizeiarbeit wissen wir“, prahlte Manfred, fügte eine dramatische Pause ein, was Christian dazu brachte, sich an die Stirn fassen, „Die Gräfin sitzt im Panikraum fest.“
„Das habe ich Ihnen gesagt.“ Anna wollte sich eigentlich zurückhalten, allerdings nervte sie das Geschwafel, genauso wie ihr Gewissen, das sie zur Rückkehr bewogen und in diese langfädige Angelegenheit verwickelt hatte. „Machen Sie vorwärts! Schweißen die Tür auf oder … was weiß ich.“
„Halt, halt. Wir haben es hier mit einer Spezialausstattung zu tun“, mahnte Thomas ohne seine Freude über die schwierige Aufgabe zu verbergen. „Dazu benötigen wir schweres Geschütz, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Anna ignorierte das anzügliche Zwinkern, Konrad tat ihr den Gefallen, seinem Stiefsohn eine über den Hinterkopf zu wischen.
„Frau Grubens, sind Sie in Ordnung?“ Christian verstellte seine Stimme, um der alten Dame keine Angst einzujagen, denn wenn ihn seine Oma etwas beigebracht hatte, dann war es der Umgang mit betagten Frauen.
„Gräfin!“, erklang es empört hinaus. Die anfängliche Verstörtheit war ihr aus den Knochen gewichen, so besann sich Henrietta von Grubens, pardon, Gräfin Henrietta von Grubens darauf, den gebührlichen Respekt ihrem gesellschaftlichen Stand gegenüber einzufordern. „Ich darf doch bitten!“
„Verzeihen Sie, Gräfin“, flötete Christian beinahe. „Sind Sie wohlauf?“
„Eingesperrt, das bin ich!“ Anna hatte die Gräfin schon des Öfteren so ungehalten gehört, insbesondere dann, wenn die Brandyfla… Abrupt unterbrach die Haushälterin ihren Gedankengang, um zu einer Überlegung zurückzukehren – sie hörte die Ungehaltenheit der Gräfin, hörte sie!
„Die Tür ist offen“, versuchte Anna die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zu ziehen, ihre Bemühungen scheiterten aber an den regen Gesprächen über Metallscheren und Laserschneider sowie dem penetrant klingenden Telefon auf dem Nachttisch. Also schob sie ihren schmalen Körper zwischen den vieren hindurch, ergriff die als Kerzenleuchter getarnte Klinke und zog die Tür auf. Helle Aufruhr brach aus, die wenige Sekunden später verblüfftem Schweigen wich. „Gräfin, die Tür war offen“, wagte es Anna sachte, „wieso sind Sie nicht herausgekommen?“ Die Begründung war denkbar simpel und mit einem Fingerzeig auf die dicke Spinne über dem Ausgang, für alle einleuchtend.

Autorin: Rahel
Setting: Panikraum
Clues: Weidenkätzchen, Kalamität, Wohlbefinden, Brandyflasche, Paste
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