Die unglaublichen Abenteuer des Vaters Pierre

„Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt“, begann der gutbürgerliche Herr auf der anderen Seite des kleinen Fensterchens, dessen Verzierungen Vater Pierre nach all den Jahren mehr denn je an Gefängnisstäbe erinnerten. Brav lauschte er den Worten seines Schäfchens, das er insgeheim für einen riesigen Schafskopf hielt und driftete mit seinen Gedanken ab, während ihn die Geschichte eines weiteren weltlichen Vergehens vorgeleiert wurde. Als Pastor begriff man sehr rasch, dass die meisten Menschen viel dümmere Dinge anstellten, als man von einem vernunftbegabten Individuum erwarten möchte. Er hatte längst alles dutzendfach gehört, da sie sich nach ihren Torheiten neben ihn in den Beichtstuhl setzten, und um Vergebung baten. Bald hatte er begonnen sich zu langweilen, denn Menschen waren das Vorhersehbarste und manchmal auch Fehlbarste, was er sich vorstellen konnte. Es gab für ihn nur einen Ausweg aus diesem langweiligen Anhören von Geschichten über die immer gleichen Fehler, einen Weg, wie die Geschichten der Menschen interessant werden konnten. Er hatte genug von Betrug in der Ehe gehört, genug von Ladendiebstahl und all dem anderen Kram. Zuerst hatte sich Vater Pierre einen Spaß daraus gemacht, seinen „Stammkunden“, wie er sie insgeheim nannte, Spitznamen zu geben. Nicht diese Art von Spitznamen, die man öffentlich sagte, erst recht nicht in einem Amt mit seinen Würden. So hieß beispielsweise der Mann, dem er nun gerade zuhörte „Mr. Schweinsnase“, weil er sich im Büro wie ein Schwein aufführte und seine Nase mit Abstand das augenfälligste Merkmal in seinem Gesicht war.
Ein Satz von Mr. Schweinsnase unterbrach Vater Pierres Gedankenfluss, denn der andere sprach: „…und darum wurde nicht Jaques befördert, sondern ich. Pflichtschuldig murmelte Vater Pierre „M-hm“, bevor der Redefluss des Herrn auf der anderen Seite des engen Raumes weiterging, eine epische Erzählung von den Kriegen und Intrigen des Büroalltags. Was dieser Mann alles in einem Monat anstellen konnte, dachte sich Pierre, er musste wohl mit Gott und dem Teufel zugleich im Bunde sein, um so viel Energie aufbringen zu können! Und wie er sprach, ein nicht enden wollendes Stakkato, schon beinahe ein Singsang in der Baritonstimme, die so gar nicht zu Mr. Schweinsnases Aussehen passte. Nichts davon half dabei, dass der Beichtstuhl sich nicht mehr so beklemmend wie eine Telefonzelle anfühlen würde und Vater Pierre ließ ihn reden, wohl wissend, dass das noch für zehn Minuten so weitergehen mochte. In der Sommerhitze dachte er sich, dass er in diesem Kabäuschen jeweils die Auswirkungen des Treibhauseffekts direkt zu spüren bekam, doch die Wirklichkeit war viel einfacher: Es war ihm sowieso jeden Sommer zu heiß und er hatte insgeheim den Verdacht, dass er es mit jedem Jahr weniger gut vertrug. Zu seinem Glück hatte er eine Superwaffe gegen die tödliche Langeweile, eine ganz einfache Lösung des Problems: Er hing seinen Gedanken nach und murmelte ein paar ermutigende und bestätigende Worte an der richtigen Stelle, damit sein Schäfchen brav weitersprach.
Mit der Zeit war es nicht mehr genug gewesen, das Gelaber dieser Schafsköpfe auszublenden und so hatte Vater Pierre mit seinem eigenen, kleinen Experiment begonnen. Ja, er, ein Geistlicher, ein Mann des Glaubens, machte Experimente! Ganz im Sinne von Mendel mit seinen Erbsen, der beachtliche Erfolge in der Biologie erzielt hatte, ohne dabei zu erahnen, dass es später in demselben Fachgebiet einen Mann namens Darwin geben würde. Doch Vater Pierres Experiment hatte mehr mit Psychologie zu tun: Er wollte keine besseren Erbsen züchten (oder die Erblehre begründen), er wollte die Menschen verbessern, wie es sich für einen guten Priester gehörte. Und so hatte er damit begonnen, den Leuten bei der Predigt ihre Fehler bewusst zu machen, die Art von Fehler, die sonst niemand kritisierte. Und so sprach er von der Kanzel über Dinge wie gesellschaftlich tolerierte Misandrie, rüpelhafte Machos die in getunten Autos viel zu schnell über die Straßen bretterten, faulen Leuten, welche die Blechdose lieber in den Hausmüll warfen, statt sich mit Abfalltrennung herumzuschlagen, kurz, von allem, was er schon lange einmal hatte sagen wollen. Tatsächlich konnte er die Auswirkungen innert Kürze sehen, denn mit einem Mal hatte sein Beichtstuhl mehr Besucher als das Bordell in der Kleinstadt, etwas, mit dem er nicht gerechnet hätte. So konnte Vater Pierre jede Woche von neuem überprüfen, ob die Saat, welche er seinen Schäfchen eingepflanzt hatte, spross und gedieh, nur, in dem er sich ihre Geständnisse anhörte. Denn ein Wille zur Veränderung war erst da, wenn sie sich und anderen ihre Fehler eingestanden.
Es gab keine bessere Motivation als Schuld oder Angst, dachte er sich lächelnd, während er mit einem Finger über die Bibel fuhr, die er in seinen Händen hielt. Ja, er hatte sie oft gelesen und dabei vieles gelernt und wusste, wie er ein besserer Mensch werden konnte und noch viel wichtiger, wie er sie alle zu besseren Menschen machen konnte. Es gab sie, die wundersame Heilung, soviel stand fest – doch wie es mit Religion so war, musste man hart daran arbeiten, um sie erreichen zu können.
„…und ich werde es mir niemals verzeihen können“, schloss Schweinsnase, seine Beichte ab. Vater Pierre, der hoffnungslos den Faden verloren hatte, fuhr zusammen. Jedes Mal, wenn dieser Mann mit seiner einschläfernden Stimme ewig sprach, verwandelte sich sein Redeschwall irgendwann in ein entferntes Plätschern und Vater Pierre musste sich anstrengen, um rechtzeitig zu bemerken, wann das Plätschern ein Ende gefunden hatte. Und so erklärte er auch diesmal in seinem beruhigenden Tonfall, ohne zu wissen, welche Bürointrigen es gegeben hatte, dass der Herr ihm verzeihen würde und er einige Ave Marias beten müsste. Der andere dankte ihm und verschwand aus dem Beichtstuhl. Für einige Sekunden waren noch die sich entfernenden Schritte auf den alten Holzdielen zu vernehmen, dann kehrte endlich friedliche Stille ein. Vater Pierre dankte dem Herrn, dass die allwöchentliche Tortur ein Ende gefunden hatte. Doch er würde nicht nur wegen einem Mann, dem er nicht zuhörte, sein Experiment aufgeben, denn er war dazu bestimmt, allen Menschen die Chance zu geben, sich zu verbessern.

Der gutbürgerliche Herr, der eben viel zu lange in dem Backofen gesessen hatte, den man Beichtstuhl nannte, lächelte glückselig, während er aus der Kirche ins Freie trat und den Meereswind auf dem Gesicht genoss. Es war so friedlich hier, so endlos friedlich, jetzt, da die Stimmen aus seinem Kopf verschwunden waren. Jede Woche, nachdem er Vergebung für seine Taten erhalten hatte, fühlte er sich rein und frei. Frei von der Bürde der Verantwortung für die Dinge, die er getan hatte, die Dinge, die er tun musste. Natürlich erzählte er Vater Pierre nicht nur die schlimmsten Taten, sondern auch alles andere, was er den ganzen Tag im Büro anstellte, doch dann, jeweils am Ende, sagte er das, was ihn wirklich bedrückte. Und jedes Mal wurde ihm von dem Priester vergeben. Ein Mann Gottes musste wissen, was vergeben werden konnte und was nicht und nach dem ersten Mal hatte er begriffen, dass dies seine Berufung war, seine Aufgabe. Niemals hätte der Priester ihm so leicht vergeben, ihn mit ein paar Ave Marias davon kommen lassen, wenn Gott nicht billigte, was er tat. Und so würde er sich auch diese Nacht wieder den dunkeln Kapuzenpulli überziehen, seine Waffe reinigen und daran arbeiten, dieses Städtchen von dem Bösen zu befreien, das überall lauerte, denn nur so konnte er eine bessere Welt schaffen.

Autorin: Sarah
Setting: Beichtstuhl
Clues: Misandrie, Treibhauseffekt, Heilung, Blechdose, Schweinsnase
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