Manchmal muss man einfach Purzelbäume schlagen

Warnung: Das in dieser Kurzgeschichte dargestellte Gedankengut könnte auf einige Leser beleidigend wirken. Mehr zu unseren Warnungen sowie wann und weshalb wir sie anwenden, erfahrt ihr in unseren FAQ.

„Na, der Idiot hat’s wenigstens hinter sich“, murmle ich und unterdrücke den sarkastischen Kommentar, den ich zu gerne meinen Mitreisenden mitgeteilt hätte, als die Durchsage „Personenunfall …“ erklingt. Meine Fresse! Ich weiß schon genau, was jetzt kommt: Warten im Schneefall, Bahnersatzbus, rappelvoll jammernder Vollpfosten, die keine Ahnung vom Betriebsablauf haben und sich darüber auslassen, dass die Bahn keine Magier einstellt. Oder die Polizei nicht schneller den Glibber von den Schienen kratzt und eintütet. Hauptsache, man hat was zu wettern, so wie der lautstark nölende Vollidiot (Sorte Marken-Sportjacke und Bierbauch), der glaubt, der Besitz seines Fahrscheins mache ihn zum König der Welt. Hach, wären doch diese unliebsamen Zeitgenossen auch alle aufs Gleis gesprungen, dann hätte es jetzt bedeutend mehr Platz im Bus. Meine Finger verkrampfen sich in der Manteltasche zur Faust, es wird notwendig, dass ich mir mein Mantra vortrage: Lächeln, Mädchen, ja, Lächeln ist dein Schlüssel zum Überleben in dieser Welt.
Mir fällt der Lokführer ein, der mir schon etwas leidtut, immerhin hat er den Job wohl kaum gewählt, weil er irgendwelche gesellschaftlichen Abfallprodukte auf ihre letzte Reise schicken wollte, sondern weil Züge einfach verdammt cool sind. Ich finde Züge ebenfalls sympathisch, nur zu einer guten Lokführerin würde mich das keineswegs machen, denn meine Durchsagen fielen bestimmt sehr trocken aus: „Geschätzte Fahrgäste, wir hatten einen Personenunfall, aber das macht nichts, auf der roten Lokomotive sieht man das Blut kaum. Geschnetzeltes nach Zürcher Art gibt’s im Speisewagen nun zum halben Preis.“
Ehrlich, wie kann man nur so etwas Arschlochiges tun, wie vor einen Zug zu springen? Lokführer traumatisiert, hunderte stehen in der Kälte. Und schon fallen mir diese ach-so-sozialen Genies ein, die dann jeweils behaupten, man solle bitteschön Verständnis für Menschen haben, die unter Depressionen leiden. Ha, was für ein Witz, der ist gut genug, um ihnen ausnahmsweise (nur ausnahmsweise) nicht die ach-so-soziale Hackfresse zu polieren. Glauben die etwa, unter denen, die jetzt hier draußen rumstehen und warten, hat keiner Depressionen, denkt nicht genau jetzt mindestens einer daran, sich den Kopf wegzuschießen und seine Hirnmasse auf dem Asphalt zu verteilen? Statistisch gesehen wohl eher vierzig. Und die entscheiden sich dagegen, weil es nämlich eine Riesensauerei gäbe, Punkt. Vielleicht gar deshalb, weil sie für ihre Freunde da sein wollen. Also genug mit dem Geschrei nach mehr Nächstenliebe, sucht euch jemanden, der euch wirklich zuhören will. Tief durchatmen, Mädchen. Und lächeln.

„Ich mag Menschen wirklich kein Stück“, fällt mir mal wieder auf, während ich (natürlich!) in der Menschenmaße an der Kante stehe und auf den Bahnersatzbus warte. Na gut, ich mag einzelne Menschen, sehr wenige Menschen, und diese sind mir einen überdurchschnittlichen Effort wert. Wenn man nicht bereit ist für eine Freundschaft alles zu geben, sollte man es am besten lassen. Der erste Bus kommt friedlich angetuckert, viel zu klein, um die ganze Meute zu verladen, also drängeln sich alle vor, stehen vor dem Wagen auf die Straße, sodass er erst nach ewigem Zirkeln an die Kante gelangt und die ganze Aktion doppelt so lange wie notwendig dauert. Ich denke „Kuhherde“ und möchte wissen, ob sich die Leute mit demselben Engagement um einen Platz im Lastwagen zum Schlachthaus prügelten. Selbstverständlich ist diese Überlegung unangebracht, denn ich selbst zu sein gehört sich eigentlich nie. Heilige Scheiße, lächeln, ich darf das Lächeln nicht vergessen! Ein Typ beschimpft den Bahnangestellten, der ihn auffordert, die Straße für den Bus freizumachen. Da keine Videokameras vorhanden sind kann ich unauffällig vorbeistöckeln, mit dem Ellenbogen seine Rippen ein klein wenig anstoßen und in der tosenden Brandung der nicht-so-sprichwörtlichen hunderten Köpfe verschwinden. So trage ich meine Kämpfe aus, als Teil der Bahnhofguerilla, nett lächelnd, bis man mir einen verfluchten Grund gibt, den Klassenkampf zu fechten, den Marx‘ moderne Wohlstands-Wannabe-Anachro-Anhänger nie begriffen haben: Der wahre Klassenkampf ist der immerwährende Kampf von Gut gegen Blöde. Weiter lächeln, ja, sehe ich nicht niedlich aus, wenn ich lächle?
Na super, jetzt haben die Anarchisten einen Platz in meinen neoliberalen Gehirnwindungen, die andauernd Autos anzünden, gegen den „Polizeistaat“ mobilisieren und, wer hätte es gedacht, als Schmarotzer die Häuser von anderen besetzen. „Der Staat, der meine Sozialhilfe, meine Ausbildung und meinen öffentlichen Verkehr, für den ich kein Ticket kaufe, bezahlt, ist böse!“ Wer für den Kommunismus ist, kann sich aus meiner Sicht jederzeit einen Spa-Urlaub in Nordkorea gönnen und wer Gesetzlosigkeit bevorzugt, ist herzlich eingeladen, den kalten Stahl der Klinge meines Küchenmessers zwischen den Rippen zu fühlen, da jeder, der diejenigen Ressourcen wegfrisst, von denen ich selbst profitieren will, im Anarchismus von mir beseitigt werden müsste (was ohne die ach-so-faschistoide Polizei kein Problem mehr darstellen würde). Ha, gegen Logik haben diese Subjekte keine Chance! Glückseliges Lächeln, bei dem Gedanken sogar aufrichtig.

Selbstverständlich reißt mich jemand aus meinen hochrelevanten Betrachtungen, mit, wie soll es auch anders sein, weiterem Gejammer. Die stereotype Tusse, die hochkommunikativ ist und den ganze Bahnhof über ihre Bettgeschichten informiert, teilt ihrer besten Freundin (oder einem Telefon-Stalker, der sie hoffentlich bald umbringen, ausweiden, ihre Haut abschälen und uns damit aus unserem Elend erlösen wird) mit, wie ach-so-traurig sie ist, weil der Typ, in den sie seit einer Woche verknallt ist, eine andere hat. Ehrlich? Eine Steilvorlage für das nächste Ding, das ich aus dieser Welt verbannen möchte: „Hach, ich bin so emotional“, am besten inklusive einer pathetischen Handbewegung zur Stirn und einem nicht minder pathetischen Seufzen. Die Begründung für solches Verhalten: „Du hast mir mir zuzuhören, weil du für sowas Verständnis hast (habe ich?), weil du mir selten den Mittefinger zeigst (was, ich bin höflich!), weil das sich so gehört (leck mich!) oder noch besser, weil du ebenfalls weibliche Genitalien hast (nein, da kannst du mich nicht lecken!).“ Verdammt nochmal, ich erfriere hier fast, bin todmüde und kann mir ihren gequirlten intellektuellen Dünnpfiff anhören? Ich schmiere euch auch nicht Spargel ins Gesicht, um euch belegte Brötchen schmackhaft zu machen, für irgendwas gibt es schließlich Hygienevorschriften. Also hört auf, eure verdammte Gefühlsduselei wie schlechtgewordene Mayo langsam überallhin zu verstreichen, bitte! Wenn man nur weint, sollte man es vielleicht verdammt nochmal nicht in der Nähe von derjenigen versuchen, die sich wirklich viel Mühe macht, sich im Griff zu haben statt dank dieser „alles ist so scheiße“-, „Menschen sind so scheiße“-, „ich bin so scheiße“-, und am besten noch „du bist so scheiße“-Einstellung ihren Kopf an einer Wand blutig zu schlagen. Emotionale Inkontinenz ohne funktionierenden Jammerfilter oder Reziprozität, Leute! Lächeln, Mädchen, deine Hand verkrampft sich um dein Smartphone, du darfst niemandem mit dem Glas des Displays die Kehle durchschneiden, das gehört sich nicht. Man hat dich besser erzogen.

Apropos Inkontinenz, ich sollte seit geschlagenen dreißig Minuten aufs Klo und nähere mich langsam aber sicher dem Punkt, an dem meine Blase zu explodieren droht. Der zweite Bus kommt herbeigeeilt und mit der Grazie einer Zombieherde stolpern die übermüdeten Leute los, noch ehe er zum Halten kommt, die Tür diesmal tatsächlich fast direkt vor meiner Nase (Mit Glück hat das wenig zu tun, wenn man statt sich zu beschweren den Aufbau der Bushaltestelle anschaut, weiß man nämlich, wo die Tür sein wird). Die Frau vor mir beginnt sich natürlich sogleich mit dem Busfahrer zu zanken, weil sie ach-so-lange warten musste und wieder dürfen wir länger warten weil jemand nicht warten mag. Ich frage mich manchmal, wie solche Individuen durch den Tag kommen, ohne vom Schwarzen Loch in ihrem Hirn verschluckt zu werden. Ich habe vom Warten genug und nutze meine Körpergröße, um die nörgelnde Trulla mit der Effizienz eines Schneepflugs einfach weiter ins Innere des Busses zu schieben, bis sie sich hinsetzt und die Klappe hält. „Mission Accomplished“, wie George Bush nun sagen würde.
Die Hoffnung auf ein Ende der Querelen verpufft, da uns volkstümliche Technomusik (so einen Müll gibt es wirklich!) uns aus den Lautsprechern berieselt. Der Fahrer wird bedeutend tauber sein als ich, denn wenn das ein Beweis seines nonexistenten Musikgeschmacks sein soll, sehe ich schwarz für die Menschheit. Die Maschine wird gestartet und zu meiner Freude wird die Horror-Akustik nun von Busmotor übertönt. Rettung in allerletzer Sekunde, bevor nebst meiner Blase ebenso mein Denkapparat explodiert wäre. Dafür lausche ich nun den mannigfaltigen Entschuldigungen des Platznachbars, der gerade seinen Telefon-Gesprächspartner davon zu überzeugen versucht, „es“ sei nicht sein Fehler. Nach drei Kilometer Busfahrt entsprechendem unfreiwillig belauschtem Telefonat wird klar, dass diese Intelligenzbestie zum hundertsten Mal denselben Fehler gemacht hat und sich hinter Ausreden zu verstecken zu. Jeder macht mal was falsch, auch ich, nur kann ich wenigstens dazu stehen und sage nicht, der Hund habe meine Hausaufgaben gefressen. Dagegen ist gar Seppuku eine ehrenvollere Option als Leugnen, die Welt wäre ein besserer Ort, wenn …
„Endstation!“, erlöst mich der Busfahrer, ich springe wie von der Tarantel gestochen auf und schiebe meinen fülligen Hintern ohne zu warten vor der Versager-Visage durch, um der intellektuelle Todesfalle zu entrinnen. Eine Stufe, zwei, der nasse Asphalt ist unter meinen Absätzen und ich stakse fluchtartig in die Nacht davon. Beim tiefen Durchatmen scheint die Welt vorerst in Ordnung, Ruhe und Friede kehrt ein und ich darf mir das Lächeln für einen Moment sparen, bevor ich meinen Körper ins nächste Pendlergetümmel werfe. Ja, ich fürchte den Zeitpunkt, an dem ich nicht mehr lächeln werde. Das Einzige, was ich nicht wirklich weiß ist, ob ich ihn für mich oder für die anderen fürchte – und ob ich ihn noch fürchten möchte, denn dass er kommen wird, ist klar. Und bis dahin gilt: Lächeln. Daran erinnere ich mich immer von neuem proaktiv, manchmal muss man einfach gottverdammte Purzelbäume schlagen!

Autorin: Sarah
Titelvorgabe: Manchmal muss man einfach Purzelbäume schlagen
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2 Gedanken zu „Manchmal muss man einfach Purzelbäume schlagen“

  1. Heilige Scheisse, meine Fresse :D.
    In irgendeinem Paralleluniversium telefoniert der Busfahrer mit der Tussi, die ihm schwört, wie Leid „es“ ihr tut, während der eigentliche Telefonist auf den Nebensitz laute Horror-Akustik zu geniessen scheint und der ganze Bus sich mit Vollkaracho in den nächsten Busbahnhof schmeisst, um ihn zu besetzen und gegen das Magie-Defizit der Bahngesellschaft zu rebellieren.

    1. Lieber Ishtar,

      in diesem Universum möcht ich leben
      Wenn auch nicht an des Busses Reifen kleben
      Denn dann wäre alles vergeben!
      Ich möcht nur wagen
      Hier zu sagen
      Über deine Theorie kann ich mich nicht beklagen!

      Es verneigt sich und grüsst,
      die sehr friedfertige Sarah :)

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