Rien ne va plus oder: Was tun, wenn nichts mehr geht?

„Scheiße Martin, ich hasse das hier!“, protestierte Sam zum gefühlt tausendsten Mal, während er hinter seinem Kumpel auf und ab tigerte. „Können wir nicht endlich weiter?“ Martin saß vornübergebeugt am Roulette-Tisch und gaffte mit einem Blick auf die Kugel, der sagen zu sagen schien: „Komm schon, jetzt komm schon!“
„Tinu, ich meins ernst, lass uns endlich gehen“, versuchte Sam es abermals und verleitete den anderen zu einer fahrigen Handbewegung.
„Jetzt sei doch kein Spielverderber. Wir bleiben nur noch ein paar Durchgänge.“ Damit war die Angelegenheit für Martin erledigt und sein rothaariger Freund musste wohl oder übel einsehen, dass er es noch etwas länger in der sauerstoffangereicherten Luft dieser Spielhölle würde aushalten müssen. Sicher hatte er die Möglichkeit alleine weiterzuziehen, aber lieber würde er den Ring vom Papst küssen, als sich ohne Begleitung auf die klimatisierte Fußgängerzone Las Vegas‘ zu wagen. Er hatte keine Angst vor Dieben, Schlägereien oder dreisten Prostituierten, sondern einfach überhaupt keine Lust, sich das Elend im Alleingang ansehen zu müssen – und damit auf die Chance zu verzichten, sich bei jemandem darüber auszulassen. Sam war vor einigen Jahren schon einmal hier gewesen, hatte sogar geplant, einige Tage zu bleiben, bevor er nach Seattle weiterreisen wollte. Doch die Stadt der Sünde war ihm noch deprimierender erschienen, als die Psychiatrie in welcher er eineinhalb Jahre seines Lebens verbracht hatte. Alles hier war steril, künstlich und in einem Ausmaß verschwenderisch, dass sogar er, der Papiertüten im Hauskehricht entsorgte und alle sechs Monate ein neues Smartphone kaufte, nicht mehr darüber hinwegsehen konnte. Am schlimmsten mitanzusehen waren wohl die Obdachlosen, die versuchten, sich unauffällig unter die Touristen zu mischen, um in den uhrzeitlosen Kasinos nach liegengebliebenen Münzen zu suchen. Der Kontrast zwischen gedankenlosem Konsum und bitterer Armut war für Sam schlicht zu viel des Schlechten.
„Bitte Tinu, ich habe Hunger.“ Der Angesprochene reagierte nicht gleich, sondern begann erst nach einigen Augenblicken zu lachen und meinte dann: „Klar hast du Hunger, du verfickter Stoner.“
Sam fühlte sich ertappt, wollte aber dennoch nicht lockerlassen und zupfte am Hemdkragen seines besten Kumpels.
„Sag mal, spinnst du?“, maulte dieser sofort. „Jetzt geh dir dort drüben Chicken Wings holen und lass mich in Ruhe.“ Sam linste in die Richtung, in die Martin gestikulierte und entdeckte tatsächlich eine kleine Bar, über der eine Plastikmenükarte in Schieferoptik hing. Er zögerte und überlegte, ob er Martin wohl würde dazu überreden können, für ihn zu bestellen. Eigentlich war sein Englisch gut genug, sodass er im Grunde problemlos eine philosophische Debatte mit der Bedienung würde führen können, aber sein bekiffter Zustand machte ihn skeptisch. Wie schön es doch zuhause war, sinnierte Sam, dort könnte er jetzt ein Tiefkühlsandwich unter dem Gemüse hervorpulen und es in seinen uralten Toaster stecken, währendem auf dem Fernseher irgendwelche 90er Jahre Cartoons liefen. Aber nein, Martin hatte ihn ja unbedingt in die wohl scheusslichste Stadt auf Erden bringen müssen, um sich dort in einem Anflug von naiver Hoffnung zu verschulden bis einfach gar nichts mehr ging.
„Okay, dann komm“, probierte Sam vorsichtig optimistisch. Immerhin war die Bar Martins Idee gewesen, vielleicht also würde er mitkommen wollen.
„Was?“, murrte der Angesprochene und schob sogleich einen weiteren Stapel Spielchips auf sein Lieblingsfeld, die Einunddreißig Schwarz.
„Zur Bar“, erläuterte Sam etwas weniger erwartungsvoll. Martins angenervter Tonfall war Antwort genug, aber noch wollte er nicht aufgeben. „Ich dachte, du willst auch was.“
„Nein. Geh endlich, ich muss mich hier konzentrieren!“ Mit den Worten und einem verärgerten Fuchteln speiste Martin seinen Kumpel ab und fror dann vor Anspannung förmlich ein, als die Kugel ins Rollen kam.
„Soll ich dir was mitbr…“, begann Sam, verstummte aber weil der andere ihm ohnehin nicht mehr zuhörte. Geknickt wandte er sich um und bahnte sich seinen Weg über den übelkeitserregend gemusterten Teppich durch die Maßen aus angetrunkenen Maßen zur Bar.
„Good evening, Sir.“ Die Bardame lächelte ihn charmant an und bedeutete ihm, dass sie gleich seine Bestellung aufnehmen würde, nachdem sie den Herrn neben ihm bedient hatte. Dieser drehte sich kurz zu Sam, nickte höflich und fixierte dann wieder das Dekolleté der jungen Frau. Sam rümpfte die Nase über das Verhalten des Mittvierzigers, obschon er es sich ebenfalls nicht verkneifen konnte, auf die üppigen Rundungen zu starren – aber wenigstens war er nicht gut zwanzig Jahre älter als sie, was für ihn vorläufig als Ausrede durchging.
„Now, what can I get you?“, wollte die Blonde noch immer reizend lächelnd wissen.
„I…“, holte Sam aus und erkannte dann schockiert, dass er sich in ihren Bann hatte ziehen lassen, ohne sich auch nur einmal zu überlegen, was er wollte. „I don’t know.“ Er grinste schief und war umgehend davon überzeugt, dass die Bardame ihm mit Sicherheit ansah, dass er high war.
„I can recommend something, if you’d like.“ Sam brummte bejahend und war froh, dass sie ihn nicht mit Fragen bombardierte, so wie das in einigen Kaffeehäusern üblich war. „Well, you look hungry, so how about a toasted club sandwich?” Für einen Moment war es um Sam geschehen. Die hübsche Bardame schien seine Gedanken gelesen zu haben und genau zu wissen, was er jetzt brauchte.
„That sounds wonderful“, entgegnete er nun mit einem strahlenden Grinsen.
„What do I want to drink with that?“ Er stützte sich auf die Theke und bemühte seine neckische Seite, obwohl ihm durchaus bewusst war, dass seine Flirtversuche meistens in einem kompletten Desaster endeten. Sie lachte hell auf, knotete ihren Pferdeschwanz zu einem Dutt und sagte dann verschwörerisch: „You want a Long Island Iced Tea and …“ Sie lehnte sich zu ihm nach vorne, sodass Sam ungehinderte Sicht in ihren betörenden Ausschnitt hatte und flüsterte: „… hide your reefer before a security guard sees it.“
„Shit!“, fluchte Sam und tastete mit beiden Handflächen seine Hemdbrusttaschen ab. Er hatte ganz vergessen, dass er im Hotel eine Hanfzigarette eingesteckt hatte. Paranoia überkam ihn und er prüfte auch seine Hosensäcke, ob er womöglich auch das ganze Päckchen mitgenommen hatte – in Las Vegas konnte das neben Heißhunger und trockener Kehle auch noch ganz andere Konsequenzen haben, zwanzig Jahre im Gefängnis zum Beispiel. „Thanks“, murmelte Sam dann und fühlte, wie ihm die Schamesröte ins Gesicht stieg, so wie damals in der zweiten Klasse, als er das Cembalo seiner Musiklehrerin unabsichtlich zerstört hatte.
„No worries Tiger, we gotta stick together.“ Sie klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter, zwinkerte ihm zu und ging dann zur Kühltruhe.
Peinlich berührt aber erleichtert entspannte sich Sam wieder und beobachtete seine neue Bekanntschaft dabei, wie sie sein Essen vorbereitete. Wahrscheinlich sollte er ihr ordentlich Trinkgeld geben, immerhin hatte sie ihn gerade vor einem Füllhorn aus Problemen gerettet und da er schon dabei war, sich Vorsätze zu machen, entschloss er, sie auch gleich zu einem Drink einzuladen. Wer weiß, dachte er still schmunzelnd, vielleicht gab es in Las Vegas doch etwas, das ihm zusagte.
„There you go.“ Sam nahm das Sandwich entgegen und biss sofort ein großes Stück ab. Mit vollem Mund bedankte er sich und stellte sich der freundlichen Bardame vor: „By the way, I’m Sam.“
„Nice to meet you, Sam. My name’s Jenny.“ Die beiden unterhielten sich eine Weile über dieses und jenes, während Jenny immer wieder kurz wegging, um die anderen Gäste zu bedienen, bis plötzlich Martin auftauchte.
„Sag mal, bist du geschwindigkeitsbehindert?“, keifte er Sam an. „Wie lange hast du, um deinen verteufelten Kifferhunger in den Griff zu bekommen?!“
„Jenny, that’s my very agitated friend, Martin.” Selbstzufrieden machte Sam einen Schritt zur Seite und fügte an: „Das ist Jenny, sie hat mir den Arsch gerettet.“
„Aha“, machte Martin desinteressiert und blickte sich nervös im Kasino um. „Schön, jetzt lass uns gehen!“
„Vergiss es, Mann, ich bleibe hier.“ Jetzt, da er endlich einen Grund gefunden hatte diese vermaledeite Stadt ein Bisschen weniger zu hassen, kam es für Sam überhaupt nicht in Frage, zurück ins Hotelzimmer zu gehen und sich dort mit seinem Reisegefährten zum Einschlafen eine Sitcom anzusehen – nicht wenn auch nur eine winzige Chance bestand, dass er genau das auch mit Jenny würde machen können.
„Echt jetzt, Sam, wir müssen sofort hier weg!“, drängte Martin und weckte damit einen Verdacht in Sam.
„Tinu, was hast du getan?“ Die Dringlichkeit in der Stimme seines Kumpels gefiel ihm ganz und gar nicht.
„Nichts. Und jetzt komm endlich!“ Martin begann an seinem Handgelenk zu zerren, was nun auch Jenny zu irritieren schien.
„What seems to be the problem?“, erkundigte sie sich und stellte ein großes Trinkglas beiseite. „Everything alright?“
„I have no idea“, erwiderte der Rothaarige, ehe er sich aus Martins Klammergriff befreite und diesen auffordern wollte, sich zu erklären. Doch bevor er dazu kam, sah er drei große in schwarze Anzüge gekleidete Männer, die zackig auf die Bar zumarschierten.
„Du hast doch nicht etwa …?“, stotterte Sam und deutete mit seinem zitternden Zeigefinger auf die Security-Leute.
„Rien ne va plus!“, meinte Martin, bevor er sich umwandte und in Richtung des Ausgangs davonhechtete. Jenny und Sam sahen sich verwirrt an, bis sie fragend mit den Schultern zuckte und wissen wollte: „Don’t you want to help your friend? I think they’re going to arrest him“
Sam zog einen der Barhocker zu sich heran und ließ sich zufrieden darauf fallen. Das Blatt hatte sich gewendet und er würde es vorläufig dabei belassen. „Yes, but that can wait until tomorrow.”

Autorin: Rahel
Setting: Spielhölle
Clues: Tiger, Toaster, Cembalo, Papst, Psychiatrie
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3 Gedanken zu „Rien ne va plus oder: Was tun, wenn nichts mehr geht?“

  1. Hallo du leckeres Morgen- Mittag- und Abendessen
    Vielen Dank für deinen Kommentar :)
    Tja, so ist es eben manchmal… Freunde bringen dich dazu, Dinge zu tun, die man sonst niemals tun würde – Toll
    Ab und an tun sie aber auch selbst Dinge, die man echt nicht tun sollte ;)
    Und nein, Martin hat nicht Chips geklaut, Martin hat… Oh, sorry, der Doktor Hund will raus :P

    Mit lieben Grüssen und grandiotastischen Wünschen
    Rahel

    1. Hallo du leckeres Morgen- Mittag- und Abendessen
      Vielen Dank für deinen Kommentar :)
      Tja, so ist es eben manchmal… Freunde bringen dich dazu, Dinge zu tun, die man sonst niemals tun würde – Toll
      Ab und an tun sie aber auch selbst Dinge, die man echt nicht tun sollte ;)
      Und nein, Martin hat nicht Chips geklaut, Martin hat… Oh, sorry, der Doktor Hund will raus :P

      Mit lieben Grüssen und grandiotastischen Wünschen
      Rahel

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