Road Trip | Mutters Schande

Dies ist der 3. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Road Trip“.

Mein knochiger Finger berührt den Pause-Button des CD-Players und bringt die Musik zum Verstummen, ehe ich die Scheinwerfer des alten Wagens ausmache und ihn möglichst unauffällig, also durchaus auffällig, mitten auf der Hauptstraße der Geisterstadt zum Halten bringe. Mit einem Knirschen traktieren dabei die Reifen einige kleine Steine, die früher einmal, damals, als es noch Postkutschen gab, zur Wand des „General Store“ gehörten. Seit Äonen lebt an diesem Ort niemand mehr außer einigen Eidechsen und Nattern, die sich tagsüber auf den Ruinen sonnen; ein gutes Versteck. Anders als die Wüstentiere, die Sonnen- der Mondeshitze vorziehen, in erster Linie, weil der Mond alles andere als eine geeignete Wärmequelle ist, sondern vielmehr ein ordinärer, dummer Reflektor ohne Helium. Ich lehne mich auf dem vom Hin- und Herrutschen der verschiedenen Hintern der Vorbesitzer abgenutzten Kunstledersitz zurück und schließe die Augen, nachdem ich den Zündschlüssel gedreht, dann abgezogen habe. Der Wind streicht über die ausgetrockneten Grasbüschel, bringt sie zum Rascheln, erweckt die Dunkelheit zum Leben. Kann Dunkelheit überhaupt leben, ich meine als Ganzes, als eine Einheit? Hat Dunkelheit neuerdings ein Bewusstsein? Oder bist du da draußen?

Würdest du mich hören können, wüsstest du genau, wieso ich hier bin; wenn ich allerdings Recht habe und du ebenfalls hier bist, dann wirst du sicher bemerken, wenn jemand mitten in der Nacht im Nirgendwo anhält. Leider weiß ich kaum, was von dir übrig ist. Ein Fleischpuzzle ist beim besten Willen unvorstellbar. Du wirkst keineswegs so, als könntest du in Stücke gerissen werden, nein, das stünde dir weder besonders, geschweige denn täte es dir gut. Zumindest sagen das die Berge von Informationen, die ich im Laufe der Jahre über dich zusammentragen konnte. Natürlich hätte ich das auch über die anderen behauptet, die ein solches Schicksal ereilte. Zu ihrem Unglück sind sie menschlicher gewesen als wir, unvorbereitet auf derartige Angriffe. Trotzdem bleibt es fraglich, ob Vorbereitetsein von Bedeutung ist, wenn man einem dieser, wie will man sie schon anders nennen, Monster ins Antlitz starrt? Wann hat eigentlich der Schrecken seinen Anfang genommen? Vermutlich habe ich dir bereits verraten, Zeitabfolgen seien nicht mehr meine Stärke, nur bin ich mir dessen unsicher, denn, genau: Zeitabfolgen sind nicht meine Stärke.
Wo war ich? Ach ja, ich sollte nie mit geschlossenen Lidern an einem Ort verweilen, an dem ich mich einer potentiellen Bedrohung stellen werde, erinnere ich mich und schlage sie auf. Hastig durchsuche ich den Müllberg auf dem Beifahrersitz, werfe leere Verpackungen von Eiersalat-Sandwiches auf die Rückbank; wo ist meine Waffe hingekommen? War ich früher ebenso verworren mit den simpelsten Dingen? Vielleicht, wenn ich genug Opiate intus hatte; mittlerweile ist es mein Dauerzustand, ich denke, das gehört dazu. Endlich entdecke ich die Pistole, die ich vor vielen … vor etlichen Zeiteinheiten einem zerfleischten Polizisten abnahm. Es ist zwar nicht unbedingt einfach, in jedem Bundesstaat Neun-Millimeter-Munition zu finden, aber man tut, was man kann.

Beinahe vorsichtig mache ich die Fahrertür auf und mein Fuß berührt den Grund, der einstmals versprochenes Land war, wie ausschließlich eine Goldgräberstadt es sein konnte. Diese staubige Straße, die zerfallenen Holzplanken des Bürgersteiges müssen unzählige Geschichten in sich aufgesogen haben! Ganz Amerika ist gepflastert mit zerbrochenen Träumen.
Ich tue einen Schritt, einen zweiten und da sehe ich es, direkt vor mir, auf einer Mischung aus Düne und Schuttberg, der in prosperierenden Epochen ein Haus gewesen ist. Ein Schatten vor dem nunmehr bewölkten Himmel, mächtig und unheilschwanger. Überall wo ich hingehe, sind diese Scheißdinger bereits da oder folgen mir. Ich könnte schreien, das muss Absicht sein!
Hastig versuche ich meine Waffe aus der Tasche meiner Trainerjacke zu nesteln, in welcher sie sich verhakt, ausgerechnet jetzt, ich weiß ja, wie schnell die Biester sind. Egal, wie fest ich reiße und zerre, die halbautomatische Pistole weigert sich herauszukommen um zu spielen, da setzt sich das Vieh in Bewegung. Diesmal ist mein Glück ausgegangen.

Das Echo einer Gewehrsalve hallt noch zwischen den Ruinen, als ich nahezu in Zeitlupe statt meinem unvermeidlichen Ende beobachten kann, wie der Schemen auf halbem Weg zu mir zusammensackt und auf dem Schutt liegenbleibt. Ich benötige einen Moment, bis mir einleuchtet: Bloß eine Person wäre wahnsinnig genug, mir das Leben zu retten, ein anderes Unding von meiner Sorte. Meine Stimme scheppert ungewohnt rau und tief, wenn man lange genug stumm bleibt, erschrickt man ab seinen eigenen Geräuschen: „Bist du das? Habe ich dich wirklich gefunden?“
„Wer auch immer du bist, hau wieder ab, du lockst die Monster an! Bevor du herkamst, herrschte friedliche Ruhe!“ Du klingst männlicher und erwachsener, als ich mir dich vorgestellt habe, im Prinzip logisch, bist du doch älter als ich. In meiner Phantasie bist du stets das Kind unserer Eltern geblieben.
„Ich kann noch nicht gehen“, stelle ich klar und deutlich fest, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Zuerst brauche ich meine Antworten, komme, was wolle, ich habe dich ewig gesucht. „Ich bin keins von denen, ich bin deine kleine Schwester.“
Stille folgt, ich kann es dir kaum verdenken, diese Nachricht erst mal verdauen zu müssen, schließlich gaben unsere Eltern dich zur Adoption frei, bevor sie mich überhaupt zeugten. Wäre mit der Welt nicht das passiert, das alles veränderte (wie lange ist das wohl schon her?), hätte ich nie erfahren, dass es dich gibt, nie Unterlagen und Datenbanken nach anderen durchstöbert …
„Okay, ich komme heraus. Steck die Waffe weg.“

Da stehst du vor mir auf den Planken und wie jeder Road Trip in der Filmgeschichte, so führte auch dieser unweigerlich zur Familie, oder besser dem, was davon übrig ist. Nach einem schüchternen „Hey“ habe ich dir einiges erklären müssen; wer ich bin (na, ich eben), woher ich stamme (Harlem), wie ich hierhinkomme (mit einem kotzenden Auto, gibt es noch andere Möglichkeiten?), weshalb ich so viel über dich weiß (Stalking, wahlweise Recherche, wie man es nennen möchte) und dich suche. Soweit ich das in der Dunkelheit beurteilen kann, bist du nahezu ein phänotypisches Spiegelbild von mir, groß, dieselbe Haarfarbe, schlaksige Statur, dasselbe Timbre der Stimme, lediglich braungebrannter. Bist du ein Nature-Boy und ich ein Weißbrot? Du nimmst dir einige Momente, bis du sprichst, wer kann es dir verübeln? Du glaubtest bis heute, du seist ganz alleine, ohne Unterstützung, ohne jemanden, der …
„Da sind wir also.“ Eine Feststellung in der ich eine gewisse Ratlosigkeit annehme, was du mit dieser Situation anfangen sollst. „Aber wieso bist du wie ich? Wieso bist du infiziert und nicht eines von denen?“
„Genetik ist naheliegend“, entgegne ich schulterzuckend. Zu Beginn, als ich ziemlich normal war, versuchte ich das Geheimnis dahinter zu lüften. Wenn mir keiner Glauben schenkt, dass die Welt voller Monster ist, dann wird mich leider auch niemand in einen MRI stecken. Schade, so hätte ich wenigstens eine Weile schlafen können, während sich zur Abwechslung mal die anderen mit dem Grauen beschäftigen. „Ich wollte wissen, ob es stimmt.“
Du nickst stumm, verstehst, was ich meine, bist zugleich wehmütig. „Es gibt einen kleinen Unterschied: Dich jagen sie, mich lassen sie in Ruhe, wenn ich mich verberge. Außerdem bin ich weniger wirr als du und richte bedeutend weniger Chaos und Schaden an.“
Bin ich tatsächlich wirr? Vielleicht manchmal etwas schrullig, leicht wegetreten, okay. Doch wirr? Dennoch begreife ich, was du mir damit mitteilst, ich soll weiterziehen, wenn ich dein Leben schützen will. Dagegen gibt es nichts einzuwenden, ich bin gerne allein unterwegs und habe gerne einen lebendigen Bruder, der sich irgendwo in der Einöde verschanzt. Ich bin selten wirr, oder?
Ich zünde mir eine Zigarette an, brauche sie dringend. Das Flackern des Feuerzeugs erhellt deine Gesichtszüge, offenbar bist du wesentlich trauriger darüber, mich ziehen zu lassen, als ich es je sein könnte. Da ich einfallslos dem Schweigen verfalle, sprichst du zuerst: „Es ist gut zu wissen, dass jemand da draußen ist, Mutters einzige Schande zu sein ist bedrückend.“
Jetzt lache ich, ohrendbetäubend, richtiggehend monsteranlockend. „Vertrau mir, verlassen zu werden macht dich nicht zur Schande. Zudem sind unsere Eltern längst tot, wen kümmert es noch?“
„Haben diese, was sind sie, Viecher sie erwischt?“
„Nein“, ich schüttle gleichgültig den Kopf. „Ich.“
„Okay“, bleibt dir dabei zu sagen, du willst darauf keine genaue Antwort kennen. Irgendwie verständlich, denn wenn einer von uns hart an der Grenze davon ist, Mutters Schande zu sein, dann wohl ich. Nur kann ich schon lange nichts mehr dazu empfinden, diese Gefühle sind vor Ewigkeiten verschwunden.

Ich schlage die Autotür zu und drehe den abgegriffenen Zündschlüssel. Einmal winke ich aus dem geöffneten Fenster, mit Abschieden bin ich seit jeher schlecht gewesen. Das spielt keine Rolle, wir werden uns vermutlich wiedersehen und bis es so weit ist, werde ich dir weiterhin erzählen, was ich zu sagen habe, folglich alles, was mir so durch den Schädel kriecht. Ich weiß, du findest mich komisch, traust mir nicht so ganz über den Weg und ich kann es dir kaum vorhalten. Wir sind ungleich, jedoch sind wir beide etwas Neues in einer neuen Welt, du etwas mehr Mensch, ich etwas mehr Monster. Während ich den Wagen zurück auf die Straße lenke, die gefräßigen Viecher von dir wegführe, drehe ich die Musik auf und singe in den kühlen Fahrtwind hinaus.

Autorin: Sarah
Titelvorgabe: Mutters Schande
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