Schrankenwärter

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Seit mehr als achtundvierzig Jahren stand Hans jeden Tag um halb fünf Uhr auf, ging ins Badezimmer, saß dort ein Weilchen im Halbschlaf auf der Toilette, wusch sich das Gesicht und trottete danach in die Wohnküche, wo er den Herd anmachte, um Kaffee zu kochen. Das Ritual hatte sich nie geändert, bloß die Zeit, die er zum Pinkeln benötigte, war etwas länger geworden, aber das war einem Mann seines Alters nachzusehen. Auch heute […] Weiterlesen

Underdog

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Baron Freiherr von und zu Wuffens hatte schon viele Abenteuer erlebt und nun das stolze Alter erreicht, in dem seine Wanderungen kürzer wurden und er länger am Fußende des Bettes schlief. Doch jedes Mal, wenn sich der Baron vor seinen Futternapf setzte, hatte er noch immer den Eindruck, dass die Wiederbefüllung bestenfalls schleppend erfolgte, ganz so als wollten ihm die Menschen auch im hohen Alter nicht den Spaß erlauben, […] Weiterlesen

Endstation

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Kata-kata, kata-kata. Sie konnte sich noch nicht so richtig entscheiden, ob sie das monotone, doch gleichzeitig aufregende Geräusch mochte, während der Zug gemächlich durch die Landschaft tuckerte und sie ihr Herzklopfen ignorierte. Die Erste Klasse war leergefegt, da war nichts anderes außer das stetige Kata-kata, kata-kata und ab und an ein Ruckeln. Debora war vor wenigen Tagen dreiundsechzig Jahre alt geworden, hatte so […] Weiterlesen

Unverschämtheiten in AABBA

Ich war einmal schweigsam, ganz apart
Hab mir Frechheit, Zynik und Spott gespart
Doch dann irgendwann
Keine Ahnung wie‘s begann
Da wurd mir‘s Schweigen zu hart

Es ist doch eigentlich eindeutig klar
Und völlig unumstößlich wahr
Dass niemand mehr weiß
Was er soll, dieser Scheiß […] Weiterlesen

Heute

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Tag 1:
Heute haben sie mich vom Hospiz hierhin verlegt und mich gleich in eine kleine Kammer geführt, wo meine wenigen Habseligkeiten in einem grauen Schrank verstaut wurden. Ich weiß nicht, wo genau man mich hingebracht hat, geschweige denn, wie lange ich hierbleiben muss und alle scheinen mir nur sehr vage, oder gar keine Auskunft geben zu wollen. Das Ganze macht einfach keinen Sinn, niemand scheint so richtig zu wissen, was man mir sagen darf und was nicht, einige behaupten sogar, ich solle meinen Aufenthalt hier als Urlaub betrachten. […] Weiterlesen

Unerwartete Kundschaft

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Die alte Bahnhofsuhr, die seit Jahrzehnten hinter dem Tresen hing und deren gusseiserne Schnörkel noch nie einen Putzlappen gesehen hatten, zeigte dreizehn Minuten nach sechs an. Christoph Hugentobler, dessen Name in großen Lettern das Schild über dem Eingang zierte, pickte abwesend ein gelbes Gummibärchen aus dem Einmachglas und kaute geräuschvoll darauf herum. Er hatte seiner Frau gesagt, dass er die Naschereien für die Kinder […] Weiterlesen

Silberner Herbst

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Saftig waren sie, die Wiesen und Hügel, bevor mit dem Sommer auch das Strahlen ihres Grüns verschwand und sich Tristesse und Regen über die neue Farbgewalt der Bäume legte. Durch die Lautsprecher des altersschwachen Radios ist Rachmaninows Prelude in G-Moll zu hören und für einen flüchtigen Augenblick fühlt sich Mona wie in einem Konzertsaal, so als könnte sie das Vibrieren der kurz angeschlagenen Töne des Flügels auf ihrer […] Weiterlesen

Ich wünschte, ich wüsste wie es sich anfühlt, frei zu sein

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Das Gras ist feucht und die abgebrannte Stelle, auf der bis letzten Sommer immer unser Grill gestanden hatte, verströmt den Geruch von nasser Pappe. Gestern ist meine Frau gestorben und hinter Messners lieblos zusammengezimmerten Schuppen sehe ich eine rote Mütze auf und ab wippen; ein Kind, das sich durch den Regen nicht vom Schaukeln abhalten lässt. Ich sammle den letzten Gartenzwerg auf und werfe ihn, zusammen […] Weiterlesen

Alles wie gehabt, oder: Der Mythos der ewigen Jugend

Es duftete stark nach dem Fondue, das wir gerade aßen und wie immer dudelte aus dem Radio die gleiche veraltete Musik, die im ersten öffentlich-rechtlichen Sender andauernd gespielt wurde. Der Schnee lag wohl etwa einen Meter hoch vor dem Chalet und ich konnte die makellos weiße Fläche, die wegen der vielen fallenden Flocken noch immer anwuchs, trotz der Dunkelheit noch durch das Küchenfenster erkennen. Wie jeden – und wirklich jeden – Winter verbrachten wir unsere Skiferien-Woche in […] Weiterlesen

Jane Doe

Das Postamt war ein niedriger und alter Backsteinbau, der seine besten Tage schon längst hinter sich hatte. Die Fugen schienen zu bröckeln, wahrscheinlich waren sie vom nach brackigem Wasser riechenden Meerwind über Jahrzehnte hinweg angegriffen worden, und die Fassade war mit grauschwarzem Dreck bedeckt. Niemand wusste, warum das kleine Dorf in Südengland, dessen Namen ich hier nicht nennen will, überhaupt noch ein Postamt hatte – zur nächsten Stadt wären es mit dem Auto bloß […] Weiterlesen