Tief gesunken

Diese Story ist auch als Hörgeschichte und in einem Sammelband erschienen.
Diese Geschichte spielt im erweiterten Universum der „Promise“-Reihe.

„Sir, wir haben die maximale Tiefe erreicht. Wir sind auf dem Meeresboden.“
Captain Delacroix wandte sich dem ersten Offizier zu und nickte zufrieden. „Gute Arbeit, Wilson. Aktivieren wir die Systeme.“
Stille legte sich über das Kommandodeck, einzig unterbrochen von dem gleichmäßigen Summen des nuklearen Antriebs und der Klimaanlage. Der Captain genoss diesen Augenblick, wohl wissend, wie kurz er andauern würde. Geistesabwesend musterte er das bunte Deko-Einhorn, das auf Wilsons Konsole stand – billiger Flitterkram vom Markt, dennoch ein Stück Individualität, das zum Charme des antiquierten U-Boots beitrug. Mit einem gleichmütigen Seufzen lehnte Delacroix sich zurück und zündete eine Zigarre an, man gönnte sich ja sonst nichts. Leises, durch das Schiff gedämpfte Brummen erfüllte die Brücke nun, die Geräte fuhren hoch, die Spannung stieg. Dem Captain war klar, dies war die kritischste Phase ihres Einsatzes – wenn eine der Maschinen versagte, zu einem Kurzschluss führte, könnten sie hier unten festsitzen, ohne Hoffnung auf Rettung. Hinter den beiden Männern zischte es, dann erklangen Stiefelschritte. Delacroix musste sich nicht umdrehen, nach all der Zeit erkannte er Voltaires Gang problemlos. Sie trat neben ihn, schüttelte ihre rot gefärbte Lockenmähne und machte es sich auf dem freien Sessel neben ihm bequem. „Na?“
„Na, was?“, wollte er wissen, seine Frau frech angrinsend – er konnte ein bisschen Ablenkung gebrauchen. Schon als Kind war sie seine Sandkastenliebe gewesen, damals, vor gefühlten Äonen. Jetzt alterten sie gemeinsam und obschon von der Welt, in der sie aufgewachsen waren, kaum etwas geblieben war, hatte sich zwischen ihnen nichts verändert. Wenn sich zwei Menschen, die Beständigkeit mögen, finden, werden sie durch keine äußeren Umstände aus ihrer Routine gebracht, auch nicht von untoten Monstern, die das Festland überrennen. Sie beugte sich vor, um auf die Instrumente zu linsen, bevor sie fragte: „Na, wie lange noch bis wir alle sterben, ich meine: Bereit sind?“
Wilson, der mit den Vorbereitungen beschäftigt war, verkündete: „In anderthalb Minuten, Sir.“
„Gut.“ Der Captain hatte zeitgleich mit Voltaire geantwortet, was ihm den Anflug eines amüsierten Lächelns entlockte. Das ursprünglich ungewohnte „Sir“ fiel ihm kaum noch auf, er hatte längst aufgegeben es Wilson auszutreiben, die Befehlskette war dem Ex-Soldaten in Fleisch und Blut übergegangen, gab ihm vermutlich das Gefühl von Geborgenheit. Sie waren ein fabelhaftes Team, ja, gar gute Freunde, wieso sollte er sich also an einem Titel stören, der ohne Militär sowieso nicht die geringste Rolle spielte? Als alles vor die Hunde ging, hatte er dieses U-Boot geklaut und in der neuen Weltordnung machte ihn das zum Captain. Anfangs benötigte er eine Eselsbrücke, um sich manche Funktionen des Schiffes zu einzuprägen. Aber seine Faszination und Begeisterung für Technik machten sich bezahlt, er kannte die „DSV Blowfish“ nun in- und auswendig, ganz so, als sei sie ein Teil von ihm. Er schnippte die Asche seiner Zigarre ab und meinte, seine Unruhe möglichst verbergend: „Bestens. Heute wird ein langer Tag, wird schon klappen.“
„M-hm“, nuschelte Voltaire, konzentriert ihre Anzeigen beäugend. „Hauptsache, wir kriegen die Reparaturen hin.“
„Tun wir doch meistens.“ Langsam kribbelten Delacroix’ Fingerspitzen vor Ungeduld, nichts zu tun war für ihn eine Plage sondergleichen. Dinge konnten ihm nie schnell genug erledigt werden, wenn er seinen Verstand erstmal auf eine Sache fokussiert hatte, verursachte jede Verzögerung Anspannung. Auf dem Display des Scanners entdeckte Delacroix eines der Beine der künstlichen Insel, einer der letzten Bastionen der Menschheit auf diesem Planeten. Eine Plattform weit entfernt vom Festland, weit entfernt von den Monstern, die alles eingenommen hatten – ihre kleine Idylle. Bis heute war unbekannt, was die Pandemie verursacht hatte, die Natur, Spinner mit dem Wunsch nach Weltherrschaft, ein Chemieunfall oder schlichtweg Dummheit und Nachlässigkeit. Bloß eines wusste er: So lange das Festland von wandelnden Toten, oder „Jiāngshī“, wie die Einheimischen sie nannten, besiedelt war, würde niemand von seiner Gruppe die Sicherheit der schwimmenden Stadt verlassen. Selbst wenn sie Risiken eingehen mussten um Reparaturen an einem der Beine vorzunehmen, war es das wert. Er beobachtete die Anzeigen, der Moment der Wahrheit rückte näher und ein Knarren dröhnte durch den Rumpf. Das war nicht ihr erster Ausflug in die Tiefe, die marode Plattform musste ständig gewartet werden und der Druck, der auf das U-Boot einwirkte, war nicht zu unterschätzen. Endlich war es so weit, ein Piepsen ertönte und Wilson meldete scheinbar ungerührt: „Sir, alle Systeme bereit.“
„Bestens, dann beginnen wir das Tageswerk. Aktivieren.“ Es knarrte erneut, mehrere Klappen öffneten sich und dutzende Drohnen schwärmten aus, die sich als Punkte auf dem Sonar manifestierten.
„Drohnen sind weg“, berichtete der einstige Soldat das Offensichtliche, ehe er nach seiner Wasserflasche griff und einen Schluck trank. „Alle Systeme im grünen Bereich.“
„Verstanden.“ Der Captain erhob und streckte sich. Nun war der heikelste Teil der Operation hinter ihnen, der Druck ausgeglichen und die Drohnen verfügten über ausreichend künstliche Intelligenz, um die heutige Aufgabe größtenteils selbstständig zu verrichten. Delacroix versuchte sich die Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Es war ihr dreiundfünfzigster Einsatz – ja, Delacroix zählte sie heimlich mit – bei dem sie ihr Zuhause für ein paar weitere Monate vor dem Versinken retteten. Einen letzten Zug von seiner Zigarre nehmend, machte es sich Delacroix gemütlich. Voltaire, die Bastlerin, hatte bei der Wartung der Drohnen ganze Arbeit geleistet, er konnte sich nun entspannen, auf ihr Können und sein Glück vertrauen.

Autorin: Sarah
Setting: Meeresboden
Clues: Weltherrschaft, Flitterkram, Einhorn, Sandkastenliebe, Eselsbrücke
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