Special zur achthundertsten Story | Willkommen zurück

… Durch einen Fensterrahmen aus dichtem, beinahe schnittfestem Nebel sah er unbekannte Leute. Sie tauchten auf und ab, wie die Killerwale in seinem Lieblingsfilm. Seine Mama erlaubte es ihm, Dokus auf dem iPad zu schauen, Cartoons gab es zweimal in der Woche. Das störte Matteo kaum, Wale waren ihm sowieso lieber als sprechende Tiere in Kleidung. Die Menschen hüpften weiter vor seinem Blickfeld auf und ab, irgendjemand drückte ihn rhythmisch, die Umarmungsperkussion schlug durch seinen Körper. Matteo war unheimlich schläfrig, seine Augenlider wollten sich mit aller Kraft schließen, doch er verweigerte es ihnen. Etwas Spannendes geschah, das erkannte er an den aufgeregten, besorgten Mienen der in Blau, Grün und Lila gekleideten Personen. Die gefalteten Stirnen, tiefgezogenen Brauen und die Panik in ihren Gesichtern machten ihn neugierig. Er wollte unter keinen Umständen einschlafen und verpassen, was vor sich ging. Bunte Lichter flackerten, wie Sterne strahlten ihre Fühler in sämtliche Richtungen ab. Bestimmt war es laut. Papa weinte und wenn Papa weinte, war es nie leise. Matteo hörte nur Rauschen, ein stetiges, angenehmes Rauschen. Ohne dass sein noch so junger Geist die Worte dafür gehabt hätte, dämmerte Matteo, was ihm bevorstand. Es war okay, obwohl er längst nicht genug Walddokus kannte, er Papa gerne getröstet hätte. Die rauchigen Ränder waberten, verengten seinen Horizont und plötzlich schwamm er im Meer, versank in Schwerelosigkeit. Die Welt wurde von einer weißen Reflektion auf dem Wasser abgelöst, der sich rasant auf ihn zubewegte, ihn verschlang.
„Willkommen zurück …“

797

… „Bis morgen“, flüsterte sie ihm zu, streichelte über seine Wange und küsste ihn auf den Haaransatz. „Ich komme in der Mittagspause und bringe den Hund mit. Tamtam freut sich auf dich.“ Sie war eine großartige Tochter, eine ganz wundervolle Frau. „Gute Nacht, Dad.“ Mary löste sich vom Pflegebett, ihre Fingerkuppen verharrten noch ein kleines Weilchen auf Dirks Unterarm. Er zwinkerte ihr langsam zu, gab ihr damit zu verstehen, sie wahrzunehmen. Mehr als das konnte er nicht, auch das Blinzeln fiel ihm zunehmend schwerer. „Schlaf gut.“ Ihre Stimme brach, dennoch wandte sie sich nicht wie sonst, wenn Tränen flossen, rasch ab, hatte aufgehört, ihre Trauer zu verbregen. „Schlaf gut“, wiederholte sie, nickte ihm zu und ging. Seine Krankheit hatte ihn verformt, seinen Leib in einen kalten Kerker mit scharfen Kanten verwandelt. Seine Haut war abgerieben, durchgelegen. Vor einigen Tagen hatte man aufgehört, ihn regelmäßig zu lagern, zu schmerzhaft, zu aussichtslos war es. Die eitrigen Löcher über seinem Steiß, den Fersen und Zehen, dort wo die Decke auf ihm lastete, waren mit dem Morphium vollkommen bedeutungslos geworden, so wie alles. Alles außer seiner Mary und dem Terrier Tamtam. Dirk hatte Zeit gehabt, sich auf das vorzubereiten, was auf uns alle zukommt, mit jeder Stunde Fahrt gewinnt, war zufrieden mit seiner immerzu in Schwärze verschwindenden Vergangenheit. Und er war erleichtert, so erleichtert, als der gleißend helle Kegel vor ihm auftauchte, er wie ein deformierter Klumpen Blei in die weiße Glut taumelte.
„Willkommen zurück …“

798

… Die Sonne ging auf. Sein letzter Mai war der Monat der Beschleunigung, die morgendlichen Strahlen erschienen täglich einige Minuten früher, auf den kargen Matten schossen Schösslinge hervor, auf saftigen Stängeln thronten zarte, farbenprächtige Blüten. Er streckte sich, kostete den Moment aus. Der duftende Wind, die Aussicht über seinen Garten, die Ruhe und das Gefühl frischer Luft, die seine Lungen füllte, beschwingten ihn. Heinrich hatte schon lange nichts mehr genossen, zu lange. Mit jedem Jahr war ihm ein Stück Freude abhandengekommen. Es hatte keinen großen Knall, keinen rabiaten Schicksalsschlag gegeben, lediglich das unnachgiebige Rinnsal der Depression, das ihn glattgeschliffen, ihm jeglichen Grip genommen hatte. Also hatte er den Halt verloren. Darüber sprach Heinrich nicht. Hin und wieder fragte er sich, ob das vielleicht geholfen hätte, ob zwischen ihm und der ersehnten Linderung bloß die Ohren eines anderen standen. Abermals schnaufte er tief durch, lehnte sich auf seinem Schaukelstuhl zurück. Es spielte keine Rolle, es war zu spät. Er war zu spät. Um sich zu heilen, sich zu retten, sein Wunsch nach Leben war mit den ersten Schmetterlingen der Saison weggeflogen. Auf und davon. Die Tabletten wärmten ihn auf, betteten ihn weich, Heinrich war dankbar für ihre Wirkung. Ein Kohlweißling flatterte vor ihm hindurch, landete auf einer Margerite und trank deren Nektar. Seine Augen fixierten das winzige Wesen, es schenkte ihm einen Flügelstoß Magie, da leuchteten seine Flügel auf, umfassten ihn in einer Liebkosung und hüllten ihn in ewiges Weiß.
„Willkommen zurück …“

799

„… in der Realität. Simulation siebenhundertneunundneunzig wurde erfolgreich beendet.“
„Fuck!“ Keuchend richtete er sich auf, erbrach sich beinahe und fluchte: „Fuck! Dave! Dave, komm her, verflucht nochmal!“ Das grelle Licht brannte auf seinen Retinae, die klebrige Substanz unter den Elektroden juckte ekelhaft und seine Gliedmaßen pressten unangenehm in die Polster des VR-Pods. Doran hasste die Sinnüberreizung nach dem Übergang, wenigstens hatte er sich mittlerweile so daran gewöhnt, dass er statt Stunden Sekunden benötigte, um in die Realität zurückzufinden. „Dave!“
„Ich komme ja“, meinte der Techniker mit vollem Mund und einer angebissenen Ecke Früchtekuchen in der Hand. „Was brüllst du wieder so rum?“
„Was glaubst du, du Genie?“, keifte der Forscher ungehalten, zupfte an den Kabeln und riss sich die Elektrodenhaube vom Kopf. „Das Licht, Dave, das verkackte Licht, verdammt!“
„Ich habe dir gesagt, wir arbeiten daran.“ Schulterzuckend streckte Dave seinem Mitarbeiter die Hand hin, half ihm aufzustehen und lächelte schief. „Willst du auch Zwetschgenwähe? Geraldine hat für alle mitgebracht. Sie hat sich sehr über die Geburtstagsdekoration im Pausenraum gefreut.“
„Nein, danke.“ Doran seufzte, wackelte in seinen Turnschläppchen mit den Zehen und gähnte ausgiebig. „Ich bin echt fertig. Hatte heute wieder ein Kind.“ Er strich sich über die Glatze, bemerkte einen flaumigen Belag und machte sich die mentale Notiz, sich vor dem Zubettgehen zu rasieren. „Die sind immer besonders scheiße.“
„Ja“, murmelte Dave. „Kinder sind die schlimmsten.“
„Völlige Zeitverschwendung.“ Die ersten Kindstode hatten ihn noch mitgenommen, einmal war er sogar krankgeschrieben worden, um das Trauma zu bewältigen. „In sechs Jahren komme ich zu gar nichts, da könnten wir es auch gleich lassen.“ Die Arbeit härtete ab, zwangsläufig.
„Naja, so ist das eben bei randomisiert generierten Simulationen“, wiegelte Dave ab und knabberte mit den Zähnen an der Kuchenkruste herum.
„Igitt, Dave. Du frisst wie ein Schwein.“ Er hatte sein letztes Leben bereits weit hinter sich gelassen, die Daten wurden automatisch in das System eingespeist und es gab keinen Grund für Doran, sein Gedächtnis mit künstlichen Erinnerungen zu belasten.
„Wie ein Meerschwein“, korrigierte Dave lachend und raffelte ein weiteres Flöckchen des Blätterteigs ab. „War diesmal was dabei?“
„Vermutlich nicht.“ Er schlenderte zur Hauptkonsole, ließ sich auf den Stuhl fallen und tippte einige Befehle auf dem Bildschirm ein. „Nope. Keine Weltformel. Nur das übliche Leiden, Lachen – Leben halt.“ Sie waren täuschend echt, Doran fühlte jede Emotion, jede Empfindung, als wären sie seine. Er liebte, stritt, verzweifelte, jauchzte und starb stets aufs Neue. Trotzdem, die Leben gehörten nicht zu ihm, er war bestenfalls ein Fremder, der ihnen auf der Suche nach der einen Simulation, die alle Fragen beantwortete, beiwohnte.
„Schade.“ Dave verspeiste den Rest seines Gebäcks und begann damit, den VR-Pod für die nächste Sitzung startklar zu machen. „Willst du heute noch eine Runde drehen? Könnte knapp reichen bis Büroschluss.“
„Ne, lass mal“, winkte Doran ab. „Die Achthundert spare ich mir für morgen auf. Command Center“, aktivierte er den Computer, der sogleich piepste. „Herunterfahren.“
„Prima, dann kommst du jetzt in den Pausenraum und feierst mit uns Geraldines Geburtstag?“ Dave war ein netter Kerl, das musste man ihm lassen, für Dorans Geschmack allerdings ein wenig zu gesprächig.
„Von mir aus.“ Ungeschickt streifte er seine Fußbekleidung ab und rubbelte den Elektrodenkleber von seiner Schläfe. „Du bleibst aber hier und flickst gefälligst das verdammte Licht!“ Damit klopfte er seinem Kollegen aufs linke Schulterblatt, haute ihm mit seinem Schlappen auf den Hinterkopf. „Ich will mir nicht bei jedem Tod die Augen abbrennen, weil du Vollidiot zu faul bist, einen Dimmer zu reparieren.“
„Ja, ja“, stöhnte Dave. „Ich mach ja schon.“
Als Doran die Durchgangsschleuse erreichte, sank er in sich zusammen, ein stechender Schmerz zuckte durch seinen Schädel, seine Sicht flimmerte, er übergab sich und da breitete sich ein weißes Strahlen von seinem Nacken her aus und …

800

„Willkommen zurück in der Realität. Simulation achthundert wurde erfolgreich beendet.“
„Was?“

Autorin: Rahel
Themenvorgabe: Achthundert
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