Züri-Gschnätzlets

Ab und zu stellte sich Sasha die Frage, wie viele Nächte er seinem Job noch nachgehen konnte, ehe er sein Ende fände. Angebrachte Gedanken für diese stürmische Herbstnacht, in der er auf dem Fahrersitz des schwarzen Geländewagens saß, der mit unauffälliger Geschwindigkeit durch die Lagerstraße rollte. Der Wind blies einige gelbe Blätter gegen die Windschutzscheibe, die sogleich vom Scheibenwischer weggeschoben wurden, während der Mittvierziger kurz routiniert die Ladung seiner Pistole prüfte. Es war bereits drei Jahre her, seit der gebürtige Berliner in diese Stadt, die sich selbst als kleinste Metropole der Welt bezeichnete, gekommen war. Nie hätte er damals gedacht, wie schnell er sich hier heimisch fühlen könnte, obgleich es einige Dinge gab, die er lernen musste: Die lokale Droge war Kokain, gar die schäbigen Ecken sauber geputzt und die Straßenbahnen überall. Sasha hatte sich rasch mit der Architektur (Kirchentürme in der Form von Salzstreuern), den Bräuchen (Leute tanzten um einen brennenden Schneemann) und Gerichten (Geschnetzeltes nach Zürcher Art) angefreundet; letztere führten leider dazu, dass er einige Pfund zugelegte. Nur, auch an diesem scheinbar idyllischem Ort existierte ein Markt für das, was Sasha anbot, denn menschliche Abgründe taten sich überall auf und wenn die tiefsten einen dicken Fisch zu verschlingen drohten, dann wurde er gerufen. Er hatte seine Gründe gehabt, Berlin zu verlassen: Dort herrschte zu harte Konkurrenz und egal wie viele Rivalen er auslöschte, es kamen stets neue dazu. Zürich war bedeutend beschaulicher, er konnte ungestört seiner Beschäftigung nachgehen und zudem war sich Sasha ziemlich sicher, der einzige und somit wohl auch der unangefochten beste Profikiller der Stadt zu sein.

Meistens war sein Job relativ entspannend, kaum jemand hier schien derart blöd zu sein, ein Zeichen setzen zu wollen, Hauptsache die Aufgabe wurde effizient erledigt. Eines musste er seinen Auftraggebern zugestehen: Sie waren so diskret, wie einzig Schweizer es sein konnten. Und so verwunderte es kaum, wie oft eine seiner Zielpersonen rein zufällig vor einen der doppelstöckigen S-Bahn-Züge sprang, selbstverständlich mit etwas Hilfestellung von Sashas Seite. Stets, wenn er diesen Weg wählte, um eines seiner Ziele auszulöschen, wurde er unweigerlich an das Lokalgericht erinnert, dem er den Wohlstandsbauch zu verdanken hatte; derart unterschiedlich von dem, was auf seinem Teller landete, sahen die Opfer danach nicht mehr aus, es fehlten bloß noch die Nudeln und die Rahmsoße.
Doch ab und an gab es einen dieser Fälle, bei denen Sasha die Gelegenheit bekam, zu den Wurzeln seiner Branche zurückzukehren: Zwei Kugeln in den Kopf, abgefeuert aus einer Waffe mit Schalldämpfer. Er mochte diese Jobs am meisten, obschon sie das größte Risiko bargen, logischerweise bestand nach einem Kopfschuss keine Möglichkeit, es wie einen Suizid aussehen zu lassen. Doch sie waren noch richtiges Handwerk, wie man es aus unzähligen Mafia-Filmen kannte.
Vielleicht noch ein weiteres Jahr konnte er in Zürich bleiben, bevor er erneut die Stadt wechseln musste, man wollte in seinem Metier ja schließlich stets unter dem Radar der Ordnungshüter bleiben. Ungarn schien eine gute nächste Wahl, dort gäbe es Gulasch und natürlich Züge, die er für die Ausübung seines Berufs als wahres Geschenk empfand. Vermutlich wären sie weniger pünktlich als jene in der Schweiz, aber wo waren sie das schon? Manchmal musste man auch einen verspäteten Mord verkraften.

Sasha lenkte den Wagen weiter stadtauswärts, er bog in Richtung Zürich-Oerlikon ab. Heute war es endlich an der Zeit, wieder einen normalen Auftrag auszuführen, keinen von diesen Alibi-Suiziden. Wie immer, wenn er auf einer solchen Mission war, wiederstritten in ihm unterschiedlichste Emotionen: Einerseits herrschte die Freude, welche er verspürte, sein Metier auf die klassische Art auszuüben, andererseits das Bereuen, es diesmal nicht wie einen Unfall aussehen lassen zu können. Der richtige Gewinn bei der Sache war aber, dass Sasha so zumindest sein Geschnetzeltes nach Zürcher Art genießen konnte, ohne an die Arbeit zu denken. Nun, so war das Leben, lenkte sich Sasha ab, um sich zu fragen, wieso jemand aus dem organisierten Verbrechen ausreichend Geld zur Hand nahm, um einen bedeutungslosen Gangster aus Zürich-Seebach von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Er wusste, er würde es nie erfahren und eigentlich hatte es ihn nicht zu kümmern, alles was zählte war die unheimlich generöse Bezahlung nach erfülltem Auftrag.

Mit durch jahrelange Übung antrainierter Ruhe schlich sich Sasha die knarrende Treppe in dem schäbigen Wohnblock hoch, der wohl nicht mehr lange auf seinen Abriss warten musste. Nach unzähligen Treppen, die ihn das Fehlen eines Lifts verfluchen ließen, langte Sasha endlich vor der mit roter, abblätternder Farbe misshandelten Wohnungstür an, die zum Apartment des Gauners gehörte. Der Profikiller zog seine Waffe aus der Jackentasche und drückte die Klinke herunter. Man wäre überrascht, wie oft er im Laufe seiner Karriere bereits auf unverschlossene Türen gestoßen war. Tatsächlich, auch dieses Mal war das Glück ihm hold, die alte Türklinke gab nach und mit einem Quietschen, das jeden Nachbar in einem Umkreis von einigen Kilometern aufwecken musste, trat er sie auf. „Scheiße“, zischend huschte er in die unbeleuchtete Wohnung, bemerkte, dass ein komischer Geruch in der Luft lag, ein chemischer Duft, den er nicht kannte. Er langte nach dem Lichtschalter, das kalte Neonlicht flammte auf, tauche des Meth-Labor in ein unangenehm blendendes Glimmen und enthüllte den Gauner, der wenige Meter vor im stand.
„Tamisiech!“, stieß dieser einen Fluch im besten Schweizerdeutsch hervor und hob seine Waffe. Sasha bot sich keine Gelegenheit, sich die berühmten letzten Worte auszudenken, die der Situation angebracht waren und der Drogenkoch schrie, als er den Finger um den Abzug legte: „Jetz gits Züri-Gschnätzlets!“
Sasha feuerte nahezu zeitglich dreimal, zuckte jedoch zusammen, als ihn eine Kugel in die Magengegend traf und verfehlte sein Ziel. Einer seiner Schüsse zertepperte weit von dem kleinen Gauner entfernt einen Messbecher, dessen Inhalt offenbar exotherm reagierte. In den Hundertstelsekunden, die Sasha vor der großen Explosion, welche den halben Block zerstören würde, noch blieben, fragte er sich, wieso zum Teufel jemand in der Kokainmetropole ein Meth-Labor betrieb. Und er fand Trost darin, dass er gleich nicht der Einzige wäre, der nun zu Geschnetzeltem nach Zürcher Art verarbeitet würde; seinen Auftrag hatte er trotz allem zu Ende gebracht. Das einzige, was ihn nun wurmte, war, nicht der derjenige gewesen zu sein, der die „Geschnetzeltes nach Zürcher Art“-Metapher als Letzter verwenden konnte.

Autorin: Sarah
Titelvorgabe: Züri-Gschnätzlets (Schweizerdeutsch: Geschnetzeltes nach Zürcher Art)
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