Verfahren

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Wenn es etwas gab, das Mareike echt gut, also so richtig fantastisch, konnte, dann war das sich zu verfahren. Beim Ausflug an die Westküste war sie in Rostock gelandet, das Meeting in Erfurt hatte sie in einem Göttinger Geschäftsviertel vergebens gesucht und der Frankfurter Flughafen war nun mal in Frankfurt, statt Nürnberg gewesen. Ganz zu schweigen von den unzähligen kleinen Extrafahrten, die sie in ihrer Heimatstadt Hamburg bereits getätigt hatte und wohl in Zukunft noch machen würde. Eigentlich, so dachte sie beinahe selbstgerecht, war ihre heutige Spritztour abseits der vorgeplanten Route keinesfalls eine der schlimmsten. Die dänische Grenze lag zwar bis morgen früh außer Reichweite, jedoch bloß deshalb, weil ihr allmählich die Augen zufielen und nicht, weil sie weit vom Weg abgekommen war. Ihre beiden ehemaligen Dozenten hätte gewiss Verständnis für die Verspätung, schließlich kannten sie Mareike, hatten vermutlich ohnehin mit der Verzögerung gerechnet.
Das was aussah wie ein Hauptbahnhof, lag mitsamt seiner verkehrsreichen Ampelkreuzung und den spätabendlichen Bahnfahrern hinter ihr, den Schildern sowie dem allgemeinen Straßenbild nach zu urteilen war sie irgendwo in der Altstadt von Kiel angekommen. Das gefiel ihr überhaupt nicht. Mareike war bisher nie in dieser Stadt gewesen und hatte keine Lust, ihren uralten Volvo geradewegs in ein fußgängerfreundliches Fahrverbot zu manövrieren. Rasch bog sie in eine Seitenstraße ein, an deren Ende sie zu Recht eine breitere vermutete. „Kaiserstraße“, las sie laut vor sich hin, als gäbe ihr diese für sie kryptische Ortsangabe einen Vorteil in der neuerlich verfahrenen Situation. Zu ihrer Rechten dümpelten mächtige Schiffe in der Bucht, deren Zweck, ob Passagierschiff oder Transporter, sie im Zwielicht beim besten Willen nicht ausmachen konnte. „Es muss in der Nähe ein Hotel, ein Bed & Breakfast oder wenigstens eine Rucksacktouristen-Absteige geben“, murmelte sie verzweifelt in die Lichter des Gegenverkehrs blinzelnd vor sich hin.

„Guten Abend, wie darf ich Ihnen helfen?“, flötete eine zierliche Frau hinter der Rezeption hervor. Sie war kaum grösser als Mareikes zehnjährige Tochter, dafür trug sie einen beachtlichen Busen vor sich her, sodass wirklich niemand auf die Idee käme, sie mit einer Grundschülerin zu verwechseln.
„Ich hätte gern ein Einzelzimmer für die Nacht“, erwiderte die unfreiwillige Kielbesucherin.
„Hm, das dürfte schwierig werden …“ Ja, wagte sie ihre schläfrige Stimme zu ignorieren, empörte sich Mareike innerlich. „Einen Moment, bitte.“ Durch die einfachverglasten Fenster der Lobby drang das Kreischen der Möwen an ihr Ohr und verleitete Mareike, die missliche Lage zugunsten einer gedanklichen Ausschweifung zu vergessen; wahrscheinlich freuten sich die Vögel über einen Mitternachtssnack, ansonsten wären sie um diese Uhrzeit sicher still. „Oh“, machte die winzige Rezeptionistin erstaunt und weckte damit Mareikes Interesse. „Wir haben tatsächlich noch ein freies Zimmer. Da haben Sie Glück!“ Wieso ein leeres Zimmer in der Nebensaison ein erfreulicher Zufall, anstelle einer Selbstverständlichkeit, sein sollte, war der Übermüdeten indes egal.
„Das freut mich“, presste sie ein Gähnen unterdrückend hervor, schnappte sich den Schlüssel und machte Anstalten, sich mit ihrem wenigen Handgepäck zu den Aufzügen abzudrehen, als ein männlicher Ruf sie anhielt.
„Warten Sie bitte.“ Hin- und hergerissen zwischen erschöpfter Gleichgültigkeit und entnervtem Schnauben, wandte sich Mareike um. „Meine Kollegin hat einen Fehler gemacht. Sie hat letzte Woche angefangen, daher …“
„Haben Sie nun ein freies Zimmer, oder soll ich weitersuchen?“, unterbrach Mareike den schick angezogenen Herrn, der scheinbar aus dem Nirgendwo aufgetaucht war.
„Naja … Das Zimmer ist frei, ja, aber da ist eine Kleinigkeit, die Sie darüber wissen sollten.“

Beeindruckt blickte sich Mareike in der Hochzeitssuite um, betastete die sagenhaft teuer wirkende Spitzenbettwäsche und ließ sich dann, vollkommen unelegant, auf das Bett fallen. Sie hatte genügend Erlebnisse mit spontanen Trips in Städte, in die sie im Prinzip gar nicht wollte, gesammelt, ein unverhofft feudales Domizil verblüffte sie dementsprechend nur vorübergehend; Mareike hatte auf ihren irregeleiteten Ausflügen edle Gemächer wie auch versiffte Hostel-Verschläge bewohnt, da passte dieses Zimmer perfekt in den bunten Strauß aus versehentlichen Übernachtungen. Das bislang schönste Zufallszimmer hatte sie in einer Pension in der Lüneburger Heide gefunden. Es war vollgestopft mit Büchern, praktisch eine Bibliothek. Sie hatte vor für ein einsames Wochenende dorthin zurückzukehren, um aus all den Wälzern eine Bücherbrücke zu bauen, bloß hatte sie sich, na klar, verfahren und war in einer Absteige in Bremerhaven gestrandet.
Eine Weile saß sie, ihre Tasche auf den Laken auspackend, da, schaute fern und überlegte sich, ob sie gleich jetzt oder morgen vor der Weiterfahrt duschen sollte. Ein erneutes Gähnen beantwortete die Frage, Mareike fuhr sich durchs Haar, lachte ein todmüdes Lachen und entledigte sich unsagbar langsam von ihrer Kleidung. „Schlafen!“, posaunte sie schlapp, ehe sie sich unter den weißen Decken vergrub. Auf das Erscheinen des Gespenstes, vor dem sie der hektische Hotelier gewarnt hatte, wollte sie nicht warten, denn sie war Unwillens, auf das Schlummern zu verzichten; ganz bestimmt liefe es genau darauf hinaus, zumal sie keineswegs an astrale Wesen glaubte.

Gegen vier Uhr schreckte Mareike hoch. Ein Summen, ähnlich dem Geräusch, welches die Drohnen ihrer unverschämten neugierigen Nachbarin machten, zischte durch das Zimmer. Zuerst war es Mareike unmöglich, den Ursprung des Surrens ausfindig zu machen, sie begriff allerdings bald, dass es aus dem Badezimmer kommen musste. „Sicher die Lüftung“, brummte sie, schlug die Decken zurück, stellte ihre nackten Füße auf den Teppich … Ein Scheppern war zu vernehmen. „Was war das?“ Kaum hatte sie das gesagt, flackerte das Licht im Badezimmer auf. Nun von der Neugier anstelle von Ärger getrieben, packte sie die Lampe vom Nachttisch, zog den Stecker heraus und wandelte auf leisen Sohlen in die Richtung des Lärms. Trotz der ungewöhnlichen Geschehnisse zweifelte Mareike noch immer an der Geistergeschichte; ein dreister Eindringling, verirrtes Hotelpersonal, ja sogar Zombies hielt sie für realistischer als körperlose Wesen, die sich partout dem Jenseits verweigerten. Nochmals ertönte ein Klirren, kurz bevor sie der angelehnten Tür zum Badezimmer einen Stups gab. Was sie sah, ließ sie vor Entsetzen einfrieren. Da stand, direkt vor der luxuriösen Badewanne, ein waschechtes Gespenst. Aufgeregt fuchtelte Mareike mit ihrer Lampe, stieß einige ungläubige Flüche aus, rutschte anschließend, wie üblich tollpatschig, auf dem Badezimmerteppich aus und schlug mit dem Kopf gegen die harten Fliesen.

„Ach du meine Güte!“, schrie das Gespenst ganz außer sich, ließ die Shampoo-Flasche fallen und rannte zu ihr. Mareikes Schädel dröhnte; ihr war, als würden Frau Messmers Drohnen sie umkreisen. „Ich muss meine Dozenten anrufen“, plapperte sie aufs Geratewohl los. „Ich komme zu spät!“ Ohne nachzudenken ergriff sie die ihr dargebotene Gespensterhand und wollte sich daran hochziehen. Dann, plötzlich, komplett unerwartet, kniete sie einem Penis gegenüber. Schockiert prustete sie: „Penis!“
„Oh Gott, Verzeihung!“, ereiferte sich das Gespenst und drehte sich, inklusive Penis, beiseite. „Das tut mir schrecklich leid. Oh Gott“, wiederholte es, sich von seinem geisterhaften Laken befreiend. Verwundert beobachtete Mareike, wie durch den Nebel ihrer Kopfverletzung aus dem Gespenst ein junger Mann mit Handtuch wurde, dessen äußerst ungelenke Versuche, seine Blöße zu bedecken, mit jeder Sekunde amüsanter wurden. „Oh Gott, das ist mir ehrlich sehr unangenehm, bitte, entschuldigen Sie, das ist fürchterlich peinl… Oh Gott, geht es Ihnen gut?“
„Sie sind kein Gespenst“, stellte Mareike nüchtern fest, rappelte sich hoch und musste sich sogleich am Waschbecken festhalten, um nicht vornüberzukippen. „Oder haben Gespenster einen Penis?“
„Nun, ähm. Vielleicht. Gibt es denn Gespenster? Also jedenfalls bin ich keines.“ Sie konnte der gestammelten Erklärung kaum folgen, kicherte stattdessen ununterbrochen. In der Zwischenzeit führte sie das vermeintliche Gespenst mit Penis sachte ins Zimmer und setzte sie dort aufs Bett. „Ich hole Ihnen sofort Wasser … Ein Arzt, ja, ein Arzt wä…“
„Nein, nein, lassen Sie das mit dem Arzt. Das Wasser nehm‘ ich gern.“ Nach und nach lichtete sich der Schleier, der ihre Sicht verzerrte, auch der Schwindel begann nachzulassen. „Wer zum Teufel sind Sie?“, forderte Mareike, nachdem der andere ihr das versprochenen Wasserglas offerierte.
„Ich bin der …“ Er zögerte, tippelte von einem Fuß auf den anderen, druckste herum, knetete auf seinen Händen und spurtete daraufhin abrupt zum Ausgang los. Perplex starrte Mareike ihn an, während er ungeschickt am Schloss herumhantierte, ehe er, nackt, mit Penis aber ohne Geisterhandtuch, in den Hotelflur entschwand.
„Okay, es reicht“, sagte sie zu sich selbst. „Ich kaufe mir gleich morgen ein Navigationsgerät!“

Autorin: Rahel
Setting: Kiel
Clues: Zombies, Dozenten, Möwen, Drohnen, Bücherbrücke
Für Setting und Clues zu dieser Story bedanken wir uns bei Alexandra Lei. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

2 Gedanken zu „Verfahren“

    1. Heya Lexa
      Ach, es freut mich sehr, deine Clues würdig vertextet zu haben und bedanke mich für die Worte wie das Lob.

      Mit lieben Grüssen und grandiotastischen Wünschen
      Dein bewollsockter Clue Writer
      Rahel

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