Gaststory | Der Asylant

Er saß in der S-Bahn, die ihn vom Hamburger Flughafen zum Hamburger Hauptbahnhof bringen würde. Der Flieger von Frankfurt war schon früh gestartet, dementsprechend hatte er den Wecker auf vier Uhr morgens gestellt. Nun war es fast halb neun und er war erschöpft. Das frühe Aufstehen war er als Künstler nicht gewohnt. Normalerweise rappelte kein Wecker. Er erwachte, wann es ihm gefiel, meistens zwischen zehn und elf Uhr. Dann begab er sich mit einer Tasse schwarzem Kaffee – nur diese Art von Kaffee liebte er, denn das war nach seiner Ansicht das Urprodukt – an seine Staffelei und war oft nach wenigen Schlucken in der Lage, an seinem aktuellen Werk weiterzuarbeiten. Er war Maler, wie das früher hieß. In seinem Marketingauftritt nannte er sich allerdings Illustrator. Das klang einfach besser. Hamburg betrachtete er nun schon seit über fünfundzwanzig Jahren als seine Heimatstadt. Er hatte sein Heimatland Polen verlassen, weil er dort damals geringe Chancen für eine Zukunft als Illustrator sah. Außerdem fühlte er sich von der Regierung eingeengt. Ein Eindruck, den er überaus hasste. Dass kurz nach seiner Abreise die ersten fast freien Wahlen in Warschau bekanntgegeben wurden, hatte ihn wenig beeindruckt und schon gar nicht zu einer Rückkehr bewegt. Da blieb er lieber ein Fremder in seiner neuen Wahlheimat, ein Asylant, der aber im Laufe der Zeit Fuß fasste. Seine Aufträge heute bestätigten ihm stets diesen Schritt. Er war erfolgreich, gefragt und beherrschte inzwischen auch die schwierige deutsche Sprache in Wort und Schrift perfekt. Momentan arbeitete er an einem Projekt für eine Autorin, die einen historischen Roman schrieb, der teilweise auf der mittelalterlichen Burg Eppstein spielte. Eppstein war eine Stadt im Taunus mit knapp 14.000 Einwohnern und sie verfügte über eine wunderschöne Burgruine, deren Erbauung auf das zehnte Jahrhundert zurückging.
Um sich besser mit der Materie vertraut zu machen, war er vor zwei Tagen nach Frankfurt gereist. Dort hatte er in einem wunderschönen Hotel übernachtet, welches rund wie eine Scheibe war. Am nächsten Tag hatte seine Autorin ihn dort abgeholt und sie waren in ihrem kleinen blauen Fiat 500 zunächst über die Autobahn, später über die Landstraße hinaus in den Taunus gebraust. Das Gebirge erhob sich beeindruckend vor ihnen und die Sonne ließ die Berge bläulich schimmern. Als sie in die kleine Stadt einfuhren, über holprige, asphaltierte Straßen, erblickte er kleine Fachwerkhäuser und kam sich vor, als ob er eine Reise in das Mittelalter unternahm. Kein Wunder, dass diese Kulisse die Autorin zu ihren historischen Romanen inspirierte. Sie stiegen aus dem Auto aus und nahmen einen steilen Pfad hinauf zur Burg, die würdevoll, hoch über der Stadt thronte.
Während er aus dem Fenster der S-Bahn in den trüben Hamburger Regen auf eine hässliche Wohnanlage blickte, erbaut im sogenannten Plattenbaustil, die ihn unangenehm an seine ehemalige Heimat Warschau erinnerte, dachte er wieder daran, wie sehr ihn der Ausblick oben von Burg Eppstein gefesselt hatte. Diese Weite, dazu der Taunus, der in herbstlichen Farben schimmerte. Obwohl er sich in Hamburg eigentlich wohlfühlte, fühlte er sich oft auch von der Stadt eingeengt. Speziell der Unterschied von gut situierten Bürgern und armen Bettlern, die am eleganten Jungfernstieg aufeinandertrafen, schockierte ihn oft und hinterließ ein Gefühl, welches er damals in Polen nicht mehr hatte fühlen wollte. Auch deshalb hatte er vor vielen Jahren seine Heimat verlassen, wegen der harten Gegensätze in der Gesellschaft.
Nach einer Weile auf der Burg hatte das Telefon der Autorin geklingelt. Sie sprach eine Zeit, dann beendete sie das Gespräch, kam auf ihn zu und sagte: „Es tut mir so leid, mein Mann rief eben an, wir haben zu Hause im Keller eine Überschwemmung, ein Heizungsrohr ist gebrochen.“ Er hatte ihr versichert, dass dies kein Problem sei, er würde einfach mit der S-Bahn zurück nach Frankfurt fahren. Die Autorin war sehr erleichtert gewesen. Er hatte später die Fahrt mit der Bahn aus dem schönen Taunus in die Großstadt Frankfurt hinaus sehr genossen.
Plötzlich schreckte er hoch und war wieder in der Wirklichkeit, in der S-Bahn zum Hamburger Hauptbahnhof. Ein Mann, der nur wenige Meter von ihm entfernt saß, verweigerte geradezu beharrlich die Kontrolle seines Fahrscheins. Er war klein und sein Teint, leicht braun. Dazu hatte er lange, schwarze Haare, die unfrisiert über seine Schultern fielen. Sein Wutausbruch, in Form von heftigem Schreien, hatte ihn, den Künstler, aufgeweckt, ließ den Kontrolleur unbeeindruckt. Ruhig blieb er neben ihm stehen und wartete. Er und einige Mitreisende verfolgten gespannt die Szene. Als die S-Bahn an der nächsten Haltestelle stoppte, Ottensen, kam ein zweiter Kontrolleur hinzu und energisch führten sie den vermeintlichen „Schwarzfahrer“ aus der Bahn heraus. „Bestimmt wieder so ein Asylant“, kommentierte eine ältere Dame und erhielt zustimmendes Gemurmel. Wieder spürte der Künstler diese Enge, allerdings nicht wegen der Gebäude, sondern wegen der Einstellung seiner Mitreisenden. War denn seit damals gar nichts geschehen? Hatten die Menschen nichts verstanden? Er sehnte sich so nach Freiheit, Freiraum und Gleichberechtigung. Er nahm sich vor, erst nach Hause zu fahren und danach einen Spaziergang an der Elbe zu machen. Es würde ihm guttun, die großen Schiffe zu beobachten, die auf das weite Meer hinausfuhren. Dabei bekäme er bestimmt einen freien Kopf und konnte seine Gedanken ordnen, um vielleicht später am Tag sogar erste Coverentwürfe für die Autorin zu Papier zu bringen. Als er, kurz bevor die Bahn den Hauptbahnhof erreichte, aufstand, sah er einen Zettel auf dem Boden liegen, genau an der Stelle, wo der wütende Mann gesessen hatte. Reflexartig hob er ihn auf und, als er ihn genauer betrachtete, stellte er fest, dass es sich um einen Wahlzettel für die Bundestagswahl am kommenden Sonntag handelte. „Von wegen Asylant“, dachte er. Er lächelte, es ging ihm gleich besser, jedoch fragte er sich selbst, welchen Grund der Mann gehabt hatte, sich nicht kontrollieren zu lassen. Vielleicht ging es ihm genauso wie ihm?

Autorin: Brina Stein
Setting: S-Bahn
Clues: Burg, Staffelei, Wutausbruch, Wahlzettel, Heizungsrohr
Mehr über Brina Stein sowie alle Links zu ihren Seiten findet ihr auf ihrer Gastautorenseite. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

3 Gedanken zu „Gaststory | Der Asylant“

  1. Die derzeitige Problematik dezent erwähnt, ohne den Zeigefinger zu erheben, und doch sehr eindringlich das Gefühl vermittelt was es bedeutet – Freiheit, Gleichheit, RESPEKT und Demokratie zu erleben, ein Teil davon zu sein.
    Super schöne kleine Story. Hat mir sehr gefallen.
    LG Ede-Peter

    1. Hallo werter Ede-Peter,
      besten dank für deinen treffenden Kommentar, dem ich nur zustimmen kann :) Brina hat eine super Story geschrieben!

      Aus der Clue Writing Redaktion verneigt sich und grüsst,
      Sarah

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