A.K.R.O.N.Y.M.

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Philipp lehnte gegen das hölzerne Balkongeländer und gönnte sich eine Zigarette. Seit seiner Scheidung wohnte er in dem Häuschen am Waldrand, wo einzig der Postbote, ein paar verirrte Wanderer und unzählige Rehe vorbeischauten. Manchmal begäbe sich Phillip am liebsten mit dem Scharfschützengewehr aufs Dach, um die Reifen des pöstler’schen Mopeds zu zerschießen und auch vor dieser Störung Ruhe zu haben. Dieser Plan war allerdings aus zweierlei Gründen unrealistisch: Einerseits besaß Philipp kein Scharfschützengewehr und andererseits lieferte der Pöstler den Löwenanteil von Phillips Lebensmitteln.
Vor zwei Tagen jedoch hatte die jährliche Konferenz Phillips Leben drastisch auf den Kopf gestellt, denn der Zufallsgenerator hatte seine Residenz als Veranstaltungsort auserkoren. Und so musste er sich wohl oder übel damit abfinden, dass seine Berufskollegen sein unglaublich friedvolles Zuhause in einen Tummelplatz verwandelten. Auf seine Erkundigung, ob man es sich nicht leisten könne, ein Kongresszentrum zu buchen, hatte der derzeitige Präsident ihres Vereins die gleichbleibende Begründung zitiert: Zu auffällig. Was blieb ihm anderes übrig, als nachzugeben? Und jetzt hockten nahezu alle Mitglieder von A.K.R.O.N.Y.M. in seinem Esszimmer am Tisch versammelt und unterhielten sich über die Zukunft ihres kleinen Vereins. Ächzend schnippte Phillip die Kippe auf den Vorplatz hinunter und trat ins Innere. Sofort wehte ihm Zigarrenrauch entgegen, gemischt mit dem Duft nach Kaffee und Brandy, begleitet von lauten Stimmen. Wieso konnten diese Deppen nicht geruchsarme Hühnersuppe essen, fragte er sich und schlurfte widerwillig ins Esszimmer.
„… und genau darum müssen wir uns in einem globalisierten Markt diversifizieren. Unser Geschäft funktioniert nicht so plump und geradeheraus wie früher“, schlug der Herr mit dem schwarzen Cape eben vor, den die meisten Troy Terrible nannten.
Dara Doom schüttelte vehement ihre rote Lockenmähne. „Was ist denn bitteschön dagegen einzuwenden, Australien hochzujagen? Heutzutage sind alle verweichlicht und verstecken sich hinter ihren individuellen Bedürfnissen. Wir sind Superschurken, verdammt nochmal!“
„Ich mag Kängurus“, murrte Mario Massacre und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarre. „Ich denke eher, wir haben ein Markenproblem. Verglichen mit früher fürchtet sich niemand vor Superschurken, weil wir viel zu wenig schlechte Presse haben. Wir sollten uns einen Aufhänger ausdenken.“
Phillip schlenderte zum Schränkchen mit dem starken Alkohol und schenkte sich einen Grappa ein – den würde er, so schleppend wie diese Diskussion dahintröpfelte, zweifelsohne brauchen. Unterdessen meldete sich Troy Terrible zu Wort: „Nun, wir könnten eine Dünger-Fabrik hochjagen, fast alles, was man dazu benötigt, wäre vor Ort. Dann hinterlassen wir unser Logo, simpel.“
Dara stöhnte. „Wir haben kein Logo, jemand hat es versäumt, dem Grafiker zu schreiben. Zudem haben die jungen Leute sowieso längst vergessen, wer sich hinter dem Akronym verbirgt.“
„Hinter welchem Akronym?“, wollte Mario erfahren.
„A.K.R.O.N.Y.M., was denn sonst?“, erklärte Phillip, ehe Dara eine bissige Bemerkung machen, oder schlimmer, auf ihre Superkräfte zurückgreifen konnte. Ihr Temperament sowie ihre Fähigkeit, jedes Material wie Glas splittern zu lassen, hatte ihm schon einmal eine komplett neue Wohnzimmereinrichtung gekostet, damals, als sie noch verheiratet gewesen waren.
Mario Massacre kratze sich nachdenklich am Kinn. „Ich weiß nicht mal mehr, was es bedeutet.“
Phillip war sofort hilfsbereit zur Stelle. „‚Antihelden, Killer und Renegaten Ohne Nachsicht – Yachtklub Mittelmeer‘, logisch.“
„Wer auch immer dieses Branding gemacht hat …“ Dara unterbrach sich und knurrte verächtlich. „Ich war nie am Mittelmeer. Nein, das ist zu siebzigerjahre-superschurkig, wir sollten das optimieren.“
Troy brummte erst etwas Unverständliches, sagte dann: „Und wer macht das alles? Logo, Rebranding, Naming, eine neue Webseite …? Wir haben nicht einmal eine Geschäftsstrategie festgelegt.“
„Halt, halt, halt“, wetterte Mario. „Wir sind ein Verband, wir brauchen gar keine Geschäftsstrategie. Wir sind Einzelgänger, wie es sich für Superschurken gehört, diese Treffen dienen lediglich dem lateralen Wissenstransfer. Steht so in unseren Statuten.“
„Wir haben Statuten?“
„Wir hatten Statuten“, präzisierte Mario trocken. „Hatten. Bevor sich ein gewisser Herr, der auf Feuerstürme spezialisiert ist, aufgeregt hat, danach hatten wir ein Häufchen Asche. Ja, ich sehe dich an, Troy!“
„Leute, bitte, das ist nicht produktiv“, beschwichtigte Phillip, der sich bereits Sorgen um sein Mobiliar machte. Dreihundertdreiundsechzig Tage im Jahr war sein Leben so friedlich, aber diese vermaledeiten Konferenzen mussten es verderben. „Kommt, beruhigen wir uns, okay?“
„Da hast gut reden, werter Herr Exmann“, spottete Dara. „Als einziger von uns hast du keine Superkräfte, Phillip Proton, du bunkerst nur Atombomben im Keller, was für einen Ruf hast du überhaupt zu verlieren?“
Sein Geduldsfaden riss: „Ach ja?! Zu deiner Information: Die werde ich auch einsetzen!“
„Bitte, das sagst du schon seit zehn Jahren. Bislang ist einzig die hochgegangen, an der eine Ratte genagt hat und die hat mir bloß den Hintern versengt.“
Phillip seufzte, verdrehte demonstrativ die Augen und wünschte sich, ihr Speedball in den Drink gemischt zu haben. Er wäre wirklich froh, wenn diese Amateure endlich abhauten und überlegte, ob er den Verein vielleicht verlassen sollte. Auf lange Sicht wollte er die Weltherrschaft ohnehin für sich alleine haben, ohne sie mit fliegenden, feuerspeienden oder schockgefrierenden Deppen teilen zu müssen. Bevor er weitergrübeln konnte, riss die stets gutgelaunte Sara Slayer die Tür auf und rief: „Ich bin wieder da-haa!“
„Du warst echt lange auf dem Klo“, lachte Troy und hob sein Glas. „Willkommen zurück.“
Sara nickte ihm zu, ehe sie sich an Phillip wandte: „Du, sag mal, wieso ist die Spülung deiner Vakuumtoilette im Keller dermaßen laut?“
Verständnislos starrte Phillip sie an. „Ich habe keine Vakuumtoilette im Keller, da ist mein geheimer Superschurken-Bunker und mein Sportequipment.“
„Also ich hab da jedenfalls ein Klo gefunden und benutzt“, meinte sie gleichgültig. „Egal. Aus der Kloschüssel, aus dem Sinn.“
„Da ist kein …“ Mit aufkeimendem Schrecken begriff Phillip, was soeben geschehen sein musste. „Du hast in meine Mittelstreckenrakete gepinkelt und dann die Triebwerke gezündet?!“
„Es war dunkel“, verteidigte sich Sara, als sich der Boden des Vorplatzes mit lautem Knarren öffnete. Die fünf Halunken sprangen auf, hasteten auf den Balkon und beobachteten gemeinsam mit einem höchst verwirrten Postboten, wie eine riesige Rakete aus ihrem Silo in dem Himmel schoss.
„Ihr seid unmöglich!“, schrie Phillip. „Da ist nicht mal ein Sprengkopf dran, habt ihr irgendeine Ahnung, wie viel mich das kostet?“
„Komm, wir geben dir einen aus“, versuchte Dara die Situation zu entschärfen und nahm eine Flasche seines besten Whiskeys zur Hand. „Es ist nicht immer einfach, Superschurke zu sein, damit muss man leben.“

Autorin: Sarah
Setting: Häuschen
Clues: Hühnersuppe, Scheidung, Speedball, Dünger, Akronym
Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Clue Writing