Special zum zehnjährigen Jubiläum | Das Manuskript | Constantin

Dies ist der 3. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Das Manuskript“.

Constantin schlurfte durch den langen Gang, der zum Backoffice der altehrwürdigen Pizzeria führte. Zwar wurden aus den Räumlichkeiten Geschäfte geführt, aber bereits seit langem nicht mehr diejenigen der Pizzabäcker, sondern der Familie. Unruhig nestelte Constantin an seiner Lederjacke herum, denn mit der Matrone, die den Mafiaclan seit nahezu zwanzig Jahren leitete, war nicht zu spaßen. Die Nonna hatte mehr Morde befohlen als jedes andere Familienoberhaupt der Stadt, dessen war sich Constantin sicher – nur erwischt hatte die Polizei sie bislang nicht. Gar er selbst, der sich noch im Laufe seines Aufstiegs in die inneren Kreise der Handlanger als Informant vom FBI rekrutieren ließ, hatte sie nie wörtlich etwas Illegales befehlen hören. Nein, die Nonna war vorsichtig und klug, sämtliche Pläne, sie zu Fall zu bringen, scheiterten regelmäßig. Seine Nervosität möglichst versteckend klopfte er an die abgeschossene Holztür und trat ein.
„Constantin“, begrüßte ihn die alternde Frau mit einer ausladenden Geste – er wusste, hinter ihrer freundlichen Fassade lauerte ein berechnendes Raubtier, das jeder Konkurrenz gewachsen war. Sie bedeutete ihm, sich zu setzen und er machte es sich auf dem alten Ledersessel bequem.
„Marisol, weshalb habe ich die Ehre?“
„Du erinnerst dich noch an Max Moreno? Der FBI-Agent im Ruhestand, der als Autor bekannt wurde? Er ist vor einigen Wochen verstorben, traurige Geschichte.“
Constantin nickte und schluckte, dies klang nach einer Chance, die ihn endlich aus den Klauen der Feds befreien könnte, ihm genug Beweise lieferte, diese Sache zu Ende zu bringen. Marisol fuhr derweil fort: „Ich habe erfahren, dass in seinem letzten Manuskript ein Code versteckt sein soll, er hat angeblich die Namen aller Informanten der letzten fünfzig Jahre in diesem Buch versteckt. Keine Ahnung, wieso, vielleicht wurde er auf seine alten Tage sentimental, vielleicht vergesslich, vielleicht plante er ein großes Enthüllungswerk, wer weiß das schon.“ Sie erhob sich, schritt langsam um den Schreibtisch und legte ihre knochige Hand auf seine Schulter. „Constantin, du musst dieses Buch finden, noch heute Nacht. Du bist der Einzige, dem ich vertraue.“

Der alte Wagen rumpelte durch die Innenstadt, Constantin steckte sich eine Zigarette an und trommelte mit der Hand aufs Armaturenbrett. Was sollte er tun? Wenn die Alte dieses Buch in die Finger bekam, wäre es aus für ihn. Moreno war erst vor kurzem in Rente gegangen, die Chancen, seinen eigenen Namen in diesem Manuskript zu finden, standen gut. Wenn die Familie den Code knackte, würde sein bedeutungsloses Leben als Spitzel mit einer Fahrt in den Wald im Kofferraum enden. Nein, er durfte nicht auffliegen, musste in seinem Vorhaben scheitern! Er konnte das Buch einfach von einer Brücke in den Fluss werfen und die Sache als erledigt betrachten – lieber fiele Constantin für einige Monate als Versager in Ungnade, als den ultimativen Preis zu bezahlen.
Entschlossen, das Beweisstück für seinen Verrat verschwinden zu lassen, setzte er den Blinker und hielt in einer Parkbucht vor dem Museum an, wo das unveröffentlichte Werk im Archiv liegen sollte. In der Pizzaboten-Uniform, die er für solche Fälle hatte, bekäme er leichter Zugang, mit etwas Glück war der Nachtwächter hungrig sowie dumm und ließ ihn sofort ein, statt erst zur Tür zu gehen. Constantin nahm eine leere Pizzaschachtel zur Hand, prüfte die 45er unter seiner Jacke und trat aus dem Wagen in die Nacht hinaus. Gerade, als er klingeln wollte, wurde die Tür hart aufgestoßen und er stand einem jungen Mann, der in seinen Bart „Sowas hab’ ich als Bruder, na toll!“ brummte, gegenüber. Der andere fuhr erschrocken zusammen, starrte Constantin für eine Sekunde verwirrt an und hielt ihm dann die Tür auf. „Bitte.“
„Danke“, erwiderte der Mafioso, machte von der unverhofften Gelegenheit Gebrauch und trat ein. Sehr zu seiner Freude ließ die Security in diesem Laden scheinbar zu wünschen übrig. Problemlos durchquerte er die Eingangshalle und machte sich auf den Weg in Richtung Keller, wo er das Archiv vermutete. Geschickt wich er den Überwachungskameras, die viel zu auffällig montiert waren, aus, während er sich weiter in das Gebäude vorschlich.

„Verfluchte Kacke“, zischte Constantin und warf einen der unzähligen Kartons im Archiv zu Boden. „Das kann doch nicht sein!“ Erst hatte es lange gedauert, bis er mit seiner kleinen Taschenlampe Max Morenos Nachlass überhaupt gefunden hatte, und nun das: Keine Spur von einem Manuskript. Unzählige Briefe an Freunde und eine Geliebte, ein Tagebuch, aber das, wofür er gekommen war, war weg. Es fühlte sich an, als zögen sich seine Eingeweide zusammen – wenn er das Buch nicht hatte, wer denn? Jemand, der es vernichtete oder jemand, der er der Nonna brächte, gar veröffentlichte? Constantin wusste, er verbrächte den Rest seiner Zeit bei der Mafia mit einem Damoklesschwert über seinem Kopf, müsste stets damit rechnen, im nächsten Moment umgebracht zu werden. Nahezu eine Minute verharrte er in dieser Position, verfluchte innerlich sein Leben und hoffte auf ein Wunder, das nicht eintrat. Erst dann packte er alles wieder in die Kisten und stellte sie an ihren Platz im Regal zurück, ehe er sich resigniert auf den Weg nach oben machte.

Was sollte er nun tun? Diese Frage ließ Constantin nicht los, als er wie ein begossener Pudel durch einen Gang des Museums schlurfte. Er war bereit, jeden umzubringen, der dieses Buch besaß, nur um es zu vernichten, alles zu tun, um … Sein Gedankengang wurde abrupt unterbrochen, da er mit jemandem zusammenstieß. Der Fremde gab ein überraschtes Geräusch von sich und plumpste, samt erlöschender Taschenlampe, wie ein Sack Mehl zu Boden. Das musste er sein, der Dieb! „Wo ist das verdammte Buch? Sing schon, Mann!“, fuhr er den Kerl an und zog dazu seine Pistole. Die Antwort des anderen enttäuschte ihn sogleich, als dieser stammelte: „Ich kann nicht singen, ich bin Nachtwächter.“
Damit hatte Constantin nicht gerechnet und er wollte sich keineswegs unnötig mit diesem Kerl anlegen, Zeugen waren genauso riskant wie unnütze Morde. „Es tut mir sehr leid, Sie angerempelt zu haben“, sagte er stattdessen und der Nachtwächter antwortete tatsächlich verwirrt: „Keine Ursache.“ Constantin huschte davon, damit dem anderen keine Zeit blieb, sich eines Besseren zu besinnen und am Ende gar auf ihn zu schießen. Er musste hier raus und das so schnell wie möglich, alles andere konnte warten.

Etwas außer Atem nach der Treppe langte Constantin wieder im Erdgeschoss an und sah sich schon beinahe in vorläufiger Sicherheit. Er bog um eine Ecke in die schwach beleuchtete Halle hinter dem Eingang, da sah er sich einem uniformierten Polizisten gegenüber, der seine Waffe auf ihn richtete. Wie zum Teufel kam die Polizei schon hierhin? „Stehenbleiben, Polizei!“, brüllte der Cop, klang dabei aber nahezu genauso erschrocken wie der Mafioso und Constantin machte kehrt, rannte in die Deckung einer Statue, als der Polizist tatsächlich einen Warnschuss abfeuerte. „Stehenbleiben, oder ich schieße!“, blaffte er nun bestimmter und Constantin hechtete los, rannte um sein Leben. Würde er verhaftet, flöge er als Spitzel auf und sein Deal mit dem FBI, straffrei auszugehen, wenn er die Familie ausspionierte, wäre hinfällig. Ein weiterer Schuss hallte durch das Museum, verfehlte ihn aber und Constantin konnte eine unglaubliche Erleichterung verspüren, als er im Gang verschwand und in Richtung des Lieferanteneingangs rannte. Sie würden ihn nicht kriegen, nicht heute. Dieses kurze, triumphierende Gefühl gönnte er sich, wohl wissend, wie sehr ihn die Angst über seine Zukunft in den nächsten Tagen auffräße.

Ein Tag zuvor

„Niemand darf von unserem Treffen erfahren, Nora“, wiederholte Marisol ihre Aufforderung und stützte sich neben ihre Tochter auf die Hafenmauer.
Nora spielte mit ihrer dünnen Zigarette, an der ihr Lippenstift bereits einen roten Abdruck hinterlassen hatte, und nickte. „Du weißt, kannst du mir vertrauen, Mama.“
„Gut, kommen wir zur Sache – du kennst doch Constantin?“
„Der, der die Callahan-Sache erledigt hat?“ Die Tochter nickte und lehnte ihren grazilen Körper gegen einen Laternenpfahl. „Loyaler Mann, der ist schon lange in der Familie.“
„Ich vertraue ihm nicht“, murmelte Marisol. „Ich glaube, er ist ein Spitzel und hat Morenos Buch gestohlen oder plant, es zu stehlen.“
Nora zog die Augenbrauen zusammen und musterte ihre Mutter überrascht. „Das Buch?“
„Ja. Und wenn er tatsächlich für die Feds arbeitet, können wir nichts machen, ohne den Verdacht gleich auf uns zu lenken. Kannst du einen Privatdetektiv beauftragen, das Buch zu finden? Auf dich käme Constantin nicht und es gibt keinen Grund, dass er von einem Detektiv wüsste, so bekommen wir unser Manuskript, ohne den Cops Hinweise zu liefern. Wenn Gras über die Sache gewachsen ist, kann Constantin noch immer einen Unfall haben, sollte sich mein Verdacht bewahrheiten. Ich werde so lange ein wenig am Baum schütteln und sehen, was herausfällt.“
„Sicher, Mama. Du weißt, du kannst dich auf mich verlassen.“ Nora zwinkerte ihrer Mutter verschwörerisch zu und diese legte eine knochige Hand auf ihre Schulter. „Du bist die einzige in dieser Familie, der ich vertraue, Nora. Die Einzige.“

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