Extremophil macht nicht mobil

„Wo ist Karlheinz?“, schrie Roger schnaufend über den ohrenbetäubenden Lärm der Artillerie. „Oh Gott, ist er …?“ Augustus setzte zum Sprung an und erreichte als letzter den Bucheinband. Noch nie hatte er sich so weit vom Feuchtgebiet entfernt und als er die staubtrockene Umgebung sah, glaubte er, ersticken zu müssen.
„Sir“, hörte Augustus einen seiner Kammeraden belegt sagen, „Karlheinz ist dem Feind zum Opfer gefallen.“ Der kleine Trupp schwieg eine Weile in Gedenken an den Gefallenen, doch allzu lange konnten sie sich nicht ihrer Trauer hingeben. Die Schlacht hatte gerade erst begonnen und sie würden sich an Verluste gewöhnen müssen. Mitten in der Nacht und vollkommen überraschend waren die Giganten aufgetaucht und hatten beißenden Rauch in ihre Quartiere gesprüht. Niemals zuvor in der Geschichte ihrer Kolonie waren sie mit chemischen Waffen konfrontiert worden und demensprechend überfordert waren sie nun auch.
„General Tardigradus, wie sollen wir vorgehen?“, verlangte einer der Männer zu wissen, doch der Angesprochene reagierte nicht.
„General?“, versuchte es nun Augustus, der sich in erster Linie darüber Sorgen machte, wie lange seine Haut wohl noch feucht genug zum Atmen bleiben würde. Er wusste, dass die Giganten diese gebundenen Blätter benutzten, um Informationen zu sammeln. Solche Dinge herauszufinden war Teil seiner Aufklärungsarbeit gewesen, die eigentlich dem Erhalt des Friedens hätte dienen sollen. Mittlerweile hatte Augustus jedoch den Verdacht, dass ausgerechnet die Erkundungsmissionen dazu geführt hatten, dass die Giganten nun angriffen. Wahrscheinlich hatten sie ihre Absichten falsch verstanden und geglaubt, ihre Armee würde territoriale Ansprüche erheben.
„Was ist los?“, fragte Augustus verwundert, weil der General noch immer stumm am Rand des tunnelähnlichen Gebildes saß und sich nicht zu seinem Trupp umblickte. Eigentlich sollte er nicht so formlos mit seinem Vorgesetzten sprechen, doch angesichts der aktuellen Lage fiel es ihm schwer, die Fassung zu wahren. Er mochte sich gar nicht erst vorstellen, wie verwirrend und beängstigend das alles für einen jungen Soldaten sein musste.
„Shellschock?“, gab einer der anderen zu Bedenken, während Augustus sich nachdenklich mit einem seiner Stummelbeine über seine harten Lamellen fuhr und mit sich haderte, ob er die Situation ausnutzen und einfach weglaufen sollte. Der Kampf gegen die Giganten war ohnehin aussichtslos, da machte er sich im Gegensatz zu seinen Kameraden nichts vor. Er kannte diese meterhohen Neulinge schon eine ganze Weile und hatte die wildesten Geschichten über sie gehört. Diese Wesen waren mitnichten zimperlich und so etwas wie Gnade existierte in ihrem Wortschatz nicht. Diese Art von blutiger Verbissenheit war schlussendlich wohl auch der Grund dafür, dass sich die Giganten den Planeten innerhalb weniger Jahrmillionen hatten unterwerfen können. Augustus seufzte tief und machte einige langsame Schritte auf den Ranghöheren zu, welcher sich weiterhin nicht rührte.
„General, wir warten auf ihre Anweis…“, Augustus stockte, sah ungläubig zu ihrem Anführer und konnte sich dann nicht zurückhalten. „Dieses Arschloch!“, fluchte er und boxte in die Pappwand.
„Was?“ Aufgewühltes Rufen hallte durch den Bucheinband und einige der Soldaten husteten heftig, als eine Rauchschwade in ihre Richtung geweht wurde.
„Kryptobiose“, murrte Augustus schließlich verärgert und kickte dem scheintoten General in die dorsale malpighische Drüse. „Ein Arschritt für das feige Arschloch“, goutierte er seine Handlung und war sich nicht sicher, über was er sich gerade am meisten ärgerte; die Tatsache, dass ihr Truppenführer sich tot stellte oder dass er nicht selbst auf die Idee gekommen war. Augustus ächzte, ließ den Kopf hängen und verfluchte den Tag seiner Beförderung. Lange konnte er jedoch nicht in seiner Resignation verharren.
„Augustus, Sir, was machen wir jetzt?“ Ein sehr junger Soldat blickte hoffnungsvoll zu ihm auf und knetete dabei vier seiner Hände. Offensichtlich hatte er Augustus‘ Ausbruch nicht bemerkt oder ihn als Zeichen des Tatendrangs verstanden. „Sollen wir angreifen?“
Augustus steckte demonstrativ seine Ahle und den Hammer ins Holster, bevor er mit Nachdruck antwortete: „Nein! Wir greifen niemals die Giganten an, habt ihr das verstanden?“ Simultanes Nicken ging durch die winzige Kompanie von Bärtierchen, was ihm etwas Mut machte. Vielleicht war es noch nicht zu spät und sie würden flüchten können, sobald die Rauchmaschine gefüttert werden musste. Zugegeben, er hatte noch nie so ein Ding gesehen, aber soweit er informiert war, mussten alle Apparaturen der Giganten früher oder später über einen Schlauch gefüttert werden, wieso also nicht auch diese?
„Das oberste Ziel ist Feuchtigkeit“, begann er nun lautstark und selbstbewusst. „Wir werden diesen Krieg ausharren, so wie wir bisher jeden Krieg ausgeharrt haben, aber dazu müssen wir atmen können.“ Er stellte damit lediglich das Offensichtliche fest, aber es klappte, denn das heillose Durcheinander der Soldaten verwandelte sich sogleich in eine Diskussion.
„Ich habe noch etwas Magerquark“, meinte einer der jüngeren und kramte plötzlich nervös in seinem Beutel. Tatsächlich hatte er eine Ration Quark dabei, diese war jedoch nicht für eine ganze Kompanie, sondern lediglich für einen einzelnen gedacht. Nichtsdestotrotz lobte Augustus den Jungen, dessen Mundkegel ihm nicht bekannt vorkam.
„Sehr gut, verteilen sie die Ration. Und sie“, Augustus deutete auf eine Gruppe von drei Bärtierchen, die mit schockgeweiteten Augenpunkten aus der hochgelegenen Öffnung des Buchrückens starrten, „sie präsentieren dem Feind gefälligst nicht ihre Köpfe!“ Sofort begann das junge Bärtierchen damit, seine Kameraden sorgfältig mit dem wenigen Feuchthaltemittel einzureiben, während die anderen drei nur langsam in die Gänge kamen und von der Öffnung wegkrabbelten.
„Und dann?“ Die Worte waren zaghaft, doch Augustus ließ sich davon nicht täuschen. Roger war bekannt dafür, dass er sich nur zu gerne gegen Vorschriften auflehnte und in der augenblicklichen Situation war diese Tendenz alles anderes als vorteilhaft.
„Wir warten bis zum Abendrot, dann versuchen wir im Schutz der Dunkelheit über die Außengrenze zu flüchten.“ Ihm war absolut klar, dass dieser Plan nicht auf großen Zuspruch stoßen würde, immerhin hatten die meisten hier Familie und Freunde in der Siedlung.
„Wie bitte?!“, keifte Roger wie erwartet. „Die Kolonie einfach so aufgeben?“
„Ja, dieser Krieg wird mit Geduld und Opferbereitschaft gewonnen“, wollte Augustus ausführen, doch Roger fiel ihm wütend ins Wort: „Ach ja? Dann erklär mir doch mal, wie viele wir noch opfern müssen, bis diese Monster endlich verschwinden?“ Der Hitzkopf stapfte sichtlich aufgewühlt auf und ab und kam, zum Amüsement einiger seiner Kameraden, ins Straucheln, weil sich ein Stiefelsohlennagel aus seinem Schuhwerk gelöst hatte.
„Ruhe!“, ermahnte Augustus, ohne über Rogers Missgeschick zu schmunzeln; mit solchen Albernheiten konnte man nämlich ganz schnell den Respekt der Truppe verlieren. Roger hingegen zerbrach sich darüber nicht den Kopf, sondern tobte und fluchte ohne Punkt und Komma weiter. Er konnte es ihm nicht übelnehmen, hatte er doch selbst einmal so gedacht. Ja, bevor er auf die Erkundungsmissionen geschickt worden war, hätte er sich ebenfalls laut brüllend ins Gefecht stürzen wollen. Doch damals hatte er die Giganten noch nicht so gut gekannt wie heute. Als Augustus seinen Befehl wiederholen und Roger wenigstens zu einem Semikolon-Verschnaufer bringen wollte, vernahm er ein schrilles Quietschen, gefolgt von unverständlich donnernden Stimmen. Danach war es still.
„Sind sie weg?“, flüsterte das junge Bärtierchen, das die anderen vorsichtig mit Magerquark einrieb.
„Ich bezweifle es, so schnell geben sie in der Regel nicht auf.“ Seine Kenntnis vom Feind war das einzige, das zwischen seiner klitzekleinen Kompanie und dem Tod stand; das einzige, was zwischen Augustus und vollkommener Verzweiflung stand. Er wusste von ihren Schwächen und hatte eine Idee, wie er sie würde ausnützen können, aber dafür brauchte er den Rückhalt seiner Männer. Skeptisch ließ er seine roten Augen auf Roger schweifen, der nun mit verbissenem Gesicht die Öffnung fixierte.
„Hört zu“, holte Augustus aus und wusste, dass er nur eine einzige Chance haben würde, die Meute von seinem Vorhaben zu überzeugen. „Wenn wir jetzt zurückkehren, werden wir alle getötet. Ich will, dass ihr das versteht.“ Der neue Truppführer ließ eine kurze Pause verstreichen, um seinen Worten Gewicht zu verleihen, ehe er fortfuhr: „Die Giganten sind uns in fast jeder Hinsicht überlegen, aber im Grunde sind sie schwach, das dürfen wir nicht vergessen.“
Nun hatte Augustus endgültig die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen. Er stütze sich nonchalant mit drei seiner Stummelbeine an der Pappwand ab und wartete, bis der Magerquark-Soldat aufgehört hatte zu husten, dann deutete er vielsagend in die Richtung, in der er die Giganten vermutete.
„Kälte, Hitze, Strahlung, all das können diese Biester nicht aushalten, wir hingegen trotzen jeder Witterung.“
„Was willst du damit sagen?“ Roger blieb stur. Er hätte sich in diesem Moment wohl bereitwillig seinem Kumpel Karlheinz angeschlossen und schien nur dazubleiben, um sich über Augustus‘ Plan lustig zu machen.
„Ganz einfach.“ Augustus stieß sich von der Wand ab, krabbelte nach oben zur Öffnung und ließ den Rauch über seine Haut diffundieren. Es war unangenehm und er musste sich räuspern, aber er konnte dennoch keine Erstickungssymptome feststellen. „Seht ihr? Wir können ihre Anschläge lange genug aushalten, bis sie sich schlafen legen und wir über die Grenze flüchten können.“
„Das hast du schon gesagt und nun sage ich nochmal, dass ich nicht einfach die Kolonie zurücklassen werde!“, schnaubte Roger wutentbrannt, bevor er auf seinem beschädigten Stiefel kehrt machte und ins Freie marschierte.
Die anderen blieben verdattert zurück, offensichtlich unschlüssig, wem gegenüber sie sich loyal verhalten wollten. Als die drei Bärtierchen, die vorhin dem Fein ihre Köpfe präsentiert hatten, Roger hinterherlaufen wollten, schrie Augustus: „Es gibt keine Kolonie mehr, zumindest nicht unsere. Die Giganten sind gründlich und lassen keine Überlebende zurück. Aber“, wieder machte er eine dramatische Pause, solange bis ihn alle anblickten. „Aber es gibt unzählige Kolonien, überall auf der Welt und wir können und werden diese Monster überleben, solange wir uns zurückhalten! Denn wir sind extremophil und extremophil macht nie mobil!“ Augustus war hoffnungsvoll, dass er die zwergenhafte Gruppe mit diesem alten Slogan für sich gewinnen konnte. Leider weit gefehlt. Ein Raunen ging durch den Trupp, danach verlies einer nach dem anderen den Bucheinband. Augustus rieb sich über sein Kopfsegment.
„Also gut“, raunte er mehr traurig als genervt, während er sich neben den General setzte und sich auf die Kryptobiose vorbereitete.

Autorin: Rahel
Setting: Bucheinband
Clues: Magerquark, Stiefelsohlennagel, Abendrot, Semikolon, Ahle
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2 Gedanken zu „Extremophil macht nicht mobil“

  1. Danke für diese Geschichte. Gänzlich unerwartet. Rahel ist ja eine eher kämperische Natur :-) Ich habe sie in einem Rutsch runtergelesen.

    1. Hallo Rosen
      und vielen Dank für deine Clues. Ich hoffe, mein Versuch den winzigen Krieg in einen Bucheinband zu bringen, hat dir Lesespass beschert.
      Diese Schlacht haben unsere Bärtierchen nun verloren, aber wir alle wissen, dass sie uns am Ende dann doch überleben werden ;)

      Mit lieben Grüssen und den besten Wünschen
      Deine Clue Writer
      Rahel

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