Fußmattengeplauder

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Werner Wanze war ein besonderes Käfertier. Im Gegensatz zu seinen Artgenossen, die frischfröhlich und unorganisiert in die Welt hineinkrabbelten, hatte er eine echte Tagesroutine. Jeden Morgen punkt zehn Uhr traf er sich mit Sandra Schabe auf der Fußmatte beim Hintereingang des Wohnhauses zu einer Zigarettenpause. Werner Wanze war ein emsiger Beamtenkäfer, der seine Aufgabe, die Wanzenpopulation zu zählen, todernst nahm. Dass er seinen Job eigentlich satthatte, merkte man kaum. Sandra Schabe hingegen wurde wegen ihres glänzenden Panzers oft Narzissmus nachgesagt. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, sie wäre lieber eine Tänzerin im Schabenballett statt ein Model.
Wie gewohnt winkten sie einander mit ihren Vorderbeinen zu und machten es sich am Rand der Fußmatte bequem. „Ich habe vorhin Greta Gottesanbeterin gesehen“, erzählte Sandra Schabe und zündete ihre Kippe an. „So ein Jesusfreak, die wollte mir tatsächlich ein Gebetsbuch andrehen.“
„Ja, das hat sie bei mir auch dutzendfach versucht“, brummte Werner Wanze. „Als ob Wanzen Gebetsbücher verdauen könnten, von Biologie hat die keine Ahnung, was?“
„Tja“, meinte Sandra trocken und wackelte mit ihrem Chitinpanzer. „Eine andere Neuigkeit: Die Meiers im Nachbarhaus haben neu Fliesendichtungen aus Silikon, da kommt man nicht mehr durch. Nur, damit du Bescheid weißt, falls du dich da im Badezimmer umschauen möchtest.“
„Danke.“ Werner Wanze schwieg kurz und schnippe die Asche auf die Matte, ehe er im grüblerischen Tonfall das Thema wechselte: „Früher, da hatten wir noch Träume, trafen uns hier und besprachen, wie wir irgendwann nach Übersee reisen. Nun diskutieren wir Umbauten oder ärgerliche Nachbarn.“
„Jaja, das Alter“, seufzte sie und blickte zum Horizont. „Trotzdem ginge ich eines Tages gern auf Reisen. Stell dir vor, wir könnten morgen vom großen Schädlingsbekämpfer im Himmel dahingerafft werden.“
„Hm.“ Werner Wanze überlegte einige Zeit, bevor er nuschelte: „Mittlerweile reicht mir als Unterhaltung eine gut geschriebene Kurzgeschichte. Aber ja, es hätte durchaus was für sich, ein bisschen weiter zu kommen als bis zum Haus der Meiers. Erst recht jetzt, wo das Badezimmer dicht ist, das vermindert den Spaßfaktor gewaltig.“
Auf die Matte unter ihnen starrend wandte Sandra ein: „Dieses Ding würde ich vermissen, es war unser Treffpunkt, seit wir Larven waren. Hach, man wird nostalgisch.“
„Ja, schon, aber generell wärst du noch für unseren Plan zu haben?“, erkundigte sich Werner Wanze vorsichtig.
Sandra Schabe fiel auf, wie sehr sich die Stimmung ihres alten Freundes gewandelt hatte. So kannte sie ihn gar nicht, die Nervosität war seinen zuckenden Fühlern anzusehen. „Sag mal, was hast du denn?“
„Na ja“, begann Werner wehmütig. „Ich muss in Kürze verreisen.“
Sie zog erstaunt ein Beinchen zum Mund. „Wieso?“
Werner Wanze druckste eine Weile herum, gab dann allerdings zu: „Ich habe letzte Nacht den Nussbunker von Edmond Eichhörnchen ausgeräumt und möchte mich aus dem Staub machen, ehe der Verdacht auf mich fällt.“
„Du meine Güte!“, rief Sandra Schabe entsetzt aus. Die beiden hatten mehrmals über diesen und ähnliche kriminelle Ambitionen geschwatzt. Nie mit der Absicht, diese je in die Tat umzusetzen. Offenbar hatte Werner weniger Skrupel als sie gehabt. Sich mit Edmond Eichhörnchen anzulegen war gefährlich! Das war ihr genauso bewusst, wie ihm. Das Hörnchen, das musste man wissen, veranstaltete regelmäßig einen Fight Club auf der südlichen Waldlichtung. „Denkst du, er kommt auf dich?“
„Ich will es nicht riskieren. Ich habe die Nüsse gegen gutes Geld verhökert und bin skeptisch, ob Hans Hausmaus die Klappe halten wird. Er ist ein guter Hehler, leider manchmal zu gesprächig, wenn er sich über die vergorenen Früchte hergemacht hat.“
„Verdammt, was hast du dir dabei gedacht?!“, wetterte Sandra los. „Das psychopathische Eichhörnchen wird dich umbringen!“
„Mit dem Geld, das ich bei dem Coup gemacht habe, kann ich mich problemlos in Sicherheit bringen.“ Er machte eine Pause und kratzte sich mit einem Hinterbein am Bauch. „Und dich, wenn du willst. Dieser Raub war schließlich zuerst deine Idee. Ich habe schon zwei Flugtickets nach Übersee bei Zaira Zugvogel gekauft. Sie hebt in ein paar Stunden ab, ich muss rechtzeitig am Gate sein. Kommst du mit?“
Sandra Schabe zögerte, sie wusste, dies war ihre einzige und letzte Chance, von hier wegzukommen und die Welt zu sehen, das Alter machte sich nämlich langsam bemerkbar. Ein Teil von ihr war wütend auf Werner, hatte er sie derart kurzfristig vor die Wahl gestellt, ein anderer hingegen freute sich über das bevorstehende Abenteuer. „Okay, ziehen wir es durch und machen wir uns in der Neuen Welt mit all der Kohle einen gemütlichen Lebensabend.“ Ihre Flügel vibrierten aufgeregt. „Ich gehe rasch meine Siebensachen packen und treffe dich in einer Stunde am Vogelgate.“
Freudig sowie überrascht stimmte Werner Wanze zu. Er hatte nicht damit gerechnet, seine beste Freundin von dem Vorhaben überzeugen zu können und den Abschied gefürchtet. Weil ihm die Gegend endgültig zu langweilig geworden war, musste er den Sprung ins Ungewisse dennoch wagen. Selbst kleine Wanzen wollten die weite Welt entdecken. „Alles klar, bis dann. Und Sandra – danke!“ Damit warf Werner Wanze seine Kippe fort und machte sich auf den Weg, zum ersten Mal das Quartier zu verlassen. Einzig die glimmende Zigarette blieb zurück und fraß ein Loch in die Fußmatte. Was weder Sandra Schabe noch Werner Wanze wussten, war, dass alle inklusive Edmond Eichhörnchen glauben würden, sie seien im folgenden Fußmatten-Brand gestorben. Wie so oft im Leben, war es der Zufall, der dem Pläneschmieden das I-Tüpfelchen aufsetze.

Autorin: Sarah
Setting: Auf der Fußmatte beim Hintereingang
Clues: Narzissmus, Tagesroutine, Silikon, Jesusfreak, Kurzgeschichte
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