Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Sir, die Truppen warten auf Anweisungen.“ Mac brachte kaum mehr als ein heiseres Flüstern zustande. „Sir?“
„Ich habe verstanden, Mac“, unterbrach er den General der Armee. „Wir wissen beide, was zu tun ist. Ich will bloß eine Weile warten, bevor … bevor ich Zweihunderttausend Männer in den Tod schicke.“ Der Präsident wandte sich ab und ging einige Schritte auf das massive Panoramafenster zu. Niemand wollte solch eine Entscheidung treffen, gleichgültig in welcher Lage, dennoch sah er sich nun genau mit dieser schrecklichen Bürde konfrontiert.
„Es sind zu viele“, murmelte er und legte seine Handfläche über sein verfrüht gealtertes Gesicht. Vielleicht, sinnierte er, fiele ihm die Sache leichter, wären es Zweihundert statt Zweihunderttausend, gleichzeitig begriff er, selbst zwanzig Männer würden an seinem Gewissen nagen. Als Pete vor drei Jahren in die höchste Position seines Landes gewählt worden war, hatte er mit turbulenten Ereignissen gerechnet. Alles andere wäre in Anbetracht der globalen Krise naiv, gar dumm gewesen. Er hatte gewusst, dass er schwierige Befehle äußern müsste, die Verantwortung für das Leben anderer zu tragen hätte. Darüber nachzudenken oder tatsächlich in dieser misslichen Situation zu stecken war allerdings eine sehr andere Angelegenheit. Man kann einem Mann einen Titel geben, ihm Pflichten sowie Privilegien übertragen, nur kann man ihn nicht von seiner Menschlichkeit reinwaschen.
„Sir“, wurde er von Mac aus seinen Gedanken gerissen. Sein treuer General klang mitfühlend, er kannte die Last, hatte sie an der Front am eigenen Leib erfahren. „Uns bleibt keine Zeit, Sie müssen … Sie tun das einzig Richtige.“
„Ja. Geben Sie die Leitung frei.“ Mit den Worten drehte er der Aussicht den Rücken zu.
Krieg war so eine Sache, dachte sich der Präsident. Jeder erlebte ihn anders und doch bedeutete er für alle dasselbe. Hunger. Zerstörung. Verlust. Hass. Bislang war die Zweihundertste Etage des mächtigen Regierungskomplexes sicher, zumindest wenn er Mac Glauben schenkte, was er eigentlich immer tat. Ihm war klar, das änderte sich bald, spätestens wenn die ersten Bomben fielen. Die Zivilisation ging zugrunde, lag in ihren finalen Atemzügen. Die Frage war seit beinahe sechzig Jahren nicht mehr „ob“ gewesen, sondern „wann“. Die letzte Chance war endgültig vertan, achtlos verworfen worden von ihren Vorfahren, deren Streben nach Belanglosigkeiten einst wichtig genug erschien, um die natürlichen Ressourcen des Planeten restlos auszuschöpfen. „Sir, Mission ‚Last Resort‘ wurde erfolgreich beendet. Wir sollten für die gefallenen Soldaten beten.“ Der Präsident atmete tief ein und aus, dann schüttelte er den Kopf. „Ihr Gott hat uns längst verlassen.“
Knapp zwei Wochen waren seit der Mission ‚Last Resort‘ vergangen, zwei Wochen eingesperrt im gesicherten Penthouse und obwohl ihre Evakuierung in den Wüstenbunker geplant war, war bis heute kein Hovercopter zu ihrer Rettung geeilt. Die Leitungen waren mittlerweile tot, außer den uralten Generatoren gab es keine Stromquellen, die Solarpanels hatten unter dem stetigen Feuer nachgegeben und der Alarm war vor wenigen Minuten mitsamt der Notbeleuchtung erloschen. „Sir“, sagte Mac, nachdem er sich aus seiner Schlafecke erhoben hatte, „ich befürchte, die Generatoren sind aus.“
„Du wirst mich nie Pete nennen, oder?“, feixte der Präsident, ehe er hinzufügte: „Tja, dann geht es uns nun wie der übriggebliebenen Bevölkerung. Es grenzt sowieso an ein Wunder, dass diese archaischen Maschinen noch funktioniert haben und Diesel werden wir bestimmt keinen finden.“
Mac schmunzelte müde. „Korrekt, Sir. Verbrennen wir das Geld.“ Der Präsident nickte und wunderte sich heimlich, wessen Präsident er überhaupt war, zumal er davon ausgehen musste, sein ganzes Volk sei entweder dem Feind zum Opfer gefallen oder versuchte irgendwo im Hinterland mit kruden Mitteln zu überleben. „Besser ist es, wenn wir auf die Kälte warten, schließlich wissen wir nicht, wann wir hier wegkommen“, wandte er just in dem Moment ein, als Mac eine Zweihunderternote an die Lichtöffnung seines Lasermessers setzte.
„Ja, Sir“, gab dieser zurück, löschte den Papierschein und legte die Plastikplane wieder über den Geldhaufen. Jetzt kam es ihm vollkommen sinnlos vor, dieses Zeug anstelle von zusätzlichen Rationen mitgenommen zu haben, aber vor einem Monat hatte die Welt anders ausgesehen, Schmiermittel hätte sich als nützlich erweisen können.
„Sir?“ Macs Stimme war eindringlich, hektisch. „Sir, möglicherweise sind es nicht die Generatoren.“ Keiner von ihnen hatte auch nur eine entfernte Ahnung davon, wie lange solche Geräte Strom lieferten, Himmel, bis vor kurzem waren sie nie in Kontakt mit fossilen Brennstoffen gekommen.
„Gut mitgedacht“, lobte Pete. „Ich gehe nachsehen was los ist. Bei der Gelegenheit wechsle ich gleich die Kondensationsbehälter, bevor darin zweihundert Millionen Mikroben rumschwimmen. Du kennst mich und mein … Schritte!“
„Mekpla, die Herren“, grollte einer der Feinde heiter. Sie waren lediglich zu viert, gleichwohl verhieß ihr Auftreten nichts Gutes. „Würden Sie sich freundlichst ergeben, Ihre Waffen niederlegen, damit …“, begann das Biest mit zu einem grausigen Grinsen gefletschten Zähnen und starrte Pete plötzlich musternd an. „Sieh mal einer an, na wenn das nicht der Präsident der Erde ist. Schau mal, Kpola, das ist er doch?“
Die Angesprochene beugte sich vor und stimmte zu: „Ja wirklich, der Präsident.“ Es war schwer sich vorzustellen, dass diese Wesen Menschen waren. Ihre von der brutalen Sonnenbestrahlung ausgedörrte Haut war stellenweise in eitrigen Wunden aufgerissen und es war in der Tat ein Leichtes, sie als etwas Bestialisches zu betrachten, sie zu fürchten. „Ja, ich bin Peter Crowley“, verkündete dieser so selbstsicher, wie es ihm die aufsteigende Panik erlaubte. „Lassen Sie meinen Freund gehen. Ich werde mich nicht wehren.“ Die vier Angreifer brachen in Gelächter aus, ehe einer von ihnen seine Waffe zog und die Sicht des Präsidenten in Schwärze versank.
„… langsam. Das Ding fliegt keine zweihundert Stundenkilometer, wie zum …“ Durch das stetige Rauschen seines eigenen Herzschlags vernahm er Gesprächsfetzen. „… für die Aufgabe. Egal. Lass uns den Schmerzmittel-Tropf …“ Er war bereits mehrmals aufgewacht, nur um danach erneut in Ohnmacht zu sinken. Die Schmerzen waren einfach zu viel für ihn, brannten überall, so als wäre sein Fleisch an jeder Stelle seines Körpers abgerissen worden. „… das Besteck? Nein, das ander… Hey, er hat die Augen offen!“ Sein Puls beschleunigte sich und er versuchte vergeblich aufzustehen, da schob sich eine vertrocknete Fratze in sein Gesichtsfeld. „Mekpla, Präsident. Sie beehren uns gerade rechtzeitig zum Event des Jahres.“
Die Flüssigkeit, in welcher sie ihn getränkt hatten, sei eine PH-neutrale Elektrolyt-Lake, perfekt geeignet, um freigelegtes Muskelgewebe frisch zu halten. Der Schock war groß gewesen, als sie ihm einen Blick in den Spiegel genehmigten, denn das Gefühl, jeder Zentimeter seines Leibes sei geschunden, hatte sich schmerzlich bestätigt. Bloß seine Augenlider und Lippen waren noch mit Haut bedeckt, alles andere war freigelegt worden. Er lag wie ein geschlachtetes Tier in einem weißen Container. „Wo ist Mac?“, verlangte er abermals zu erfahren und dieses Mal erhielt er die stundenlang ersehnte Antwort: „Ach wissen Sie, Ihre Freund macht sich wunderbar als Teil unserer Bio-Stromanlage.“
„Er … Er ist tot?“ Nahezu misslang es ihm, seine Wut und Trauer zu unterdrücken. Pete schluckte, konzentrierte sich auf die zermürbenden Schmerzen, welche seinen Verstand trotz dem intravenös zugeführten Morphins aufzufressen drohten, in der Hoffnung, seine Emotionen in Schach zu halten. „Was habt ihr mit mir vor?“
„Oh, Sie werden sich freuen, Herr Präsident“, flötete das menschliche Biest an seiner Seite.
„Ich bin kein Präsident mehr.“ Es war einerlei, wie er die Fakten auslegte, sein Volk war verloren, sein Titel nichts weiter als eine Erinnerung an eine längst vergangene Ära und die Leben, welche er widerwillig einem grösseren Ziel geopfert hatte, umsonst ausgelöscht.
„Papperlapapp, Herr Präsident, Sie sind heute unser Ehrengast. Als solcher sollten Sie frohen Mutes sein“, erklärte sein Gegenüber mit einem durchweg fröhlichen Tonfall. „Kommen Sie, wir putzen Sie für das Festmahl heraus.“
„Festmahl?“, krächzte Pete und würde bald lernen, dass die Rohheit dieser Kreaturen seine schlimmsten Vorahnungen überträfe. Offenbar konnte man einen Mann durchaus von seiner Menschlichkeit reinwaschen, wenn nicht durch seinen Titel, dann durch die bittere Verzweiflung des Krieges.