Spiel, Spionage und Kernphysik

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Der junge Herr Sutter fühlte sich unbehaglich, während er die letzte Sicherheitsschleuse hinter sich ließ und als er den hellgrauen Teppichboden des Kontrollraums betrat, geriet er kurz ins Straucheln. Peinlich berührt blickte er sich um, griff sich demonstrativ an seine rechte Hüfte, welche er sich bei einer gewagten Snowboardabfahrt am Wochenende verknackst hatte und versuchte das Malheur mit einem schiefen Grinsen auszubessern. Herr Häberli, ein sehr freundlicher Mann, der trotz seines Alters einen jugendlichen Charme versprühte und mit dem sich Sutter im Vorfeld schon einige Male getroffen hatte, trat mit der zum Gruß ausgestreckten Rechten auf ihn zu. „Herr Sutter! Schön, dass Sie es rechtzeitig geschafft haben. Der Verkehr muss fürchterlich gewesen sein.“ Der Angesprochene nickte beiläufig und bemühte sich darum, die stürmische Begrüßungszeremonie einigermaßen wohlgesittet hinter sich zu bringen. Die vier Männer, die bisher ungerührt auf ihre unzähligen Bildschirme gestarrt hatten, schienen seine Anwesenheit jetzt erst zu bemerken und sahen ihn nun argwöhnisch an – keiner von ihnen machte Anstalten ihn zu begrüßen. „Jungs“, schrie Herr Häberli durch den mit seltsamen Fliesenplatten verkleideten Raum und drehte sich einmal um die eigene Achse, bevor er Sutter vor sich her schob und so alle dazu verdammte, ihm Aufmerksamkeit zu schenken. „Herr Sutter wird uns heute über die Schulter schauen und uns dann mit dem Instandhaltungskonzept für die UVEK helfen.“ Flink umrundete er den Neuankömmling und baute sich wie ein massiver Kleiderschrank vor ihm auf. „Christian, ich darf Sie doch Christian nennen?“, fragte Häberli beiläufig und ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort: „Möchten Sie noch etwas sagen bevor wir weitermachen?“ Die Situation war schlagartig noch unangenehmer geworden, denn nun lagen alle Augen auf dem jungen Ökonomen und Sutter musste sich angestrengt zusammenreißen um sich an die Worte zu erinnern, welche er sich auf der Anfahrt zurechtgelegt hatte. „Ähm“, stammelte er, während er in die ungeduldig wirkenden Gesichter der Kontrolleure blickte. „Nein, ich glaube wir alle wissen worum es geht und ich bin mir sicher, dass wir die Angelegenheit schnell hinter uns bringen können.“ Zufrieden damit, dass er seine kleine Rede lächelnd vorgetragen hatte, nickte er in die Runde und wartete vergeblich darauf, dass die Atmosphäre sich erheitern würde. Der Herr, welcher vor einem Überwachungsgerät für die Kerntemperatur des Reaktors saß, rollte in seinem mächtigen Bürostuhl zum einen Ende der langen Fensterfront und zog den Vorhang ein wenig zur Seite und damit fiel die kleine Arbeitsgesellschaft erneut in geschäftiges Treiben. Sutter, der verloren mitten im Raum stehengeblieben war, suchte sich einen Sitzplatz und kramte seinen nagelneuen Tablet-PC aus der Aktentasche; das würden lange Tage werden.

Das nahegelegene Restaurant hatte zum Mittagessen Schweinsbraten mit Kroketten und verkochtem Gemüse serviert und der junge Herr Sutter fühlte sich während der ganzen Führung überfressen und müde. Herr Häberli hatte ihn nach der Mittagspause mit Frau Sonja Walter alleine gelassen, eine hübsche Kernphysikerin, die noch nicht lange hier arbeitete und wahrscheinlich deshalb die undankbare Aufgabe bekommen hatte, ihm die ganze Anlage zu zeigen. Nichtsdestotrotz ließ sie sich ihren Unmut nicht anmerken und unterhielt sich angeregt mit ihrem Anhängsel über die einzelnen Bereiche des AKWs und Sutter ließ sich nach kurzer Zeit von ihrem sprühenden Enthusiasmus anstecken. Als die beiden auf dem kleinen Betonbalkon standen, die Schutzkleidung anzogen und, an das Geländer gelehnt, auf das Herzstück, den Reaktor, herabblickten, fiel ihm der dezente Duft von Amber in der Luft auf; Sonjas Parfüm. „Jetzt kommt das Beste.“, sagte sie und drückte ihm ein kleines Fernglas in die Hand, währendem der Geigerzähler im Hintergrund gleichmäßig knackte. Ein an gelben Metallträgern festgemachter Kran bewegte sich gemächlich durch die Reaktorhalle, schob den massiven runden Deckel nach links und Sutter schaute gespannt zu, als das blaue Licht nach und nach sichtbar wurde. „Wenn sie genau hinsehen, können Sie die einzelnen Brennelemente erkennen. Sehen Sie?“ Sonja knuffte ihn freundschaftlich in die Flanke und starrte ihn sogleich erschrocken an. Ihre rotblonden Locken wurden von dem abgenutzten Gummiband lediglich mäßig gebändigt und Herr Sutter konnte sich das Lachen nur schwer verkneifen, als sie sich wild gestikulierend für ihr unprofessionelles Verhalten entschuldigen wollte. Er winkte ab und bot ihr das Duzis an. „Um ehrlich zu sein“, begann er, währendem er durch den Feldstecher die Arbeiter beobachtete, welche zielstrebig um den Reaktor herum hantierten, „ich bin froh, neben Herrn Häberli noch ein anderes freundliches Gesicht zu sehen. Ich hatte schon befürchtet, dass man mir feindselig begegnen wird.“ Ein lautes Surren dröhnte durch das hohe Reaktorgebäude und Sutter konnte das schallende Lachen neben ihm kaum noch hören, doch als er die warme, feingliedrige Hand auf seiner Schulter fühlte, merkte er wie die Anspannung, welche ihn den ganzen Morgen seines ersten Arbeitstages im Atomkraftwerk begleitet hatte, von ihm abfiel.

Seine Gedanken kreisten um Sonja, ihre unzähmbare Frisur, ihre stechend grünen Augen und um die feinen Sommersprossen, die ihre Nase zu einem Kunstwerk machten, als er die Sicherheitskontrolle hinter sich ließ und zum großen Tor lief, hinter welchem sein neuer Firmenwagen auf ihn warten würde. Kurz bevor er den Maschendrahtzaun erreichte, vor dem regelmäßig bunt gekleidete Demonstranten campierten, die es sich offenbar leisten konnten unter der Woche gelbe Aufkleber zu verteilen, zog er sein Smartphone aus der Tasche und wählte die Nummer seines Auftraggebers. „Sutter hier, stellen sie mich durch.“ Die Wintersonne brannte ihm grell in die Augen und obwohl er die Aare hinter dem mächtigen Gebäude nicht sehen konnte, verriet ihm das Rauschen, dass wie wohl gerade viel Gletscherwasser führte. „Chef?“, fragte er überflüssigerweise als sich eine vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung meldete. „Ich wollte Sie nur kurz informieren, dass ich raus bin. Sie müssen ihren Mann im UVEK nochmals schmieren, dann wird er sicher einen anderen als Inspektor reinschleusen.“ Noch bevor sein Vorgesetzter etwas hätte sagen können, riss der junge Herr Sutter den Akku aus seinem Telefon, entnahm die SIM-Karte und warf sie durch die Schlitze des Gullideckels in die Kanalisation. Auf der Kofferraumabdeckung des hellblauen Nissan Micra, welcher neben seinem Dienstwagen parkiert war, lag ein abgeschossener, alter Teddybär und auf dessen herzförmiger Brust stand in geschwungener, gestickter Schrift: „Herzlichen Glückwunsch, Sonja.“

Autorin: Rahel
Setting: Atomkraftwerk
Clues: Kleiderschrank, Teddybär, Kroketten, Vorhang, Metallträger

Obwohl sich diese Kurzgeschichte an einem realen Handlungsort abspielt, sind die Geschehnisse und die handelnden Personen frei erfunden.
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2 Gedanken zu „Spiel, Spionage und Kernphysik“

  1. Im Kern jeder wahren Geschichte liegt die Wahrheit. Im Kern eines AKW’s liegt der Anfang und das Ende des Alls. Am Ende der Story die Wende. Mit Humor und Witz. Und Herz. :-)

    1. Werter Clue Reader,
      Wie immer freue ich mich sehr über so freundliches Feedback.
      Wessen Herz von Kernspalterei nicht erwärmt wird, muss manchmal auf die Heizkraft eines Plüschtiers vertrauen – selbst wenn dessen Energieeffizienz in Frage gestellt werden darf.
      Rahel

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