Der Regen peitschte gegen die dicken Gläser des Wintergartens, während ich einen Schluck von meinem nach Kräutern duftenden Rum-Tee nahm und mich dann wieder auf dem mit Decken ausgelegten Liegestuhl zurücklehnte. Dieser herbstliche Sturm schien besonders heftig zu sein, jedenfalls konnte ich trotz der Spiegelungen im Glas und der draußen herrschenden Dunkelheit erkennen, wie die Fichten im nahen Wald stark wankten, sich hin- und herbewegten wie wenn sie von Geisterhand geschüttelt würden. Ich fragte mich, ob ich mich wohl auf einen Stromausfall vorbereiten musste, immerhin war mein Haus ziemlich abgelegen und die Leitungen nicht unter den Boden verlegt. Ein schauriges, knarrendes Geräusch aus dem nahen Wald ließ mich zusammenfahren, doch ich konnte in der Dunkelheit, die wegen dem wolkenverhangenen Himmel herrschte, nichts erkennen. Unvermittelt fiel mir das Gedankenspiel ein, ob ein im Wald umstürzender Baum, den niemand hören konnte, wirklich ein Geräusch machte. Natürlich wusste ich die Antwort darauf, doch trotzdem fand ich es manchmal lustig, über unser Erleben und das ganz persönliche Verständnis von Realität nachzudenken. Bevor meine sinnbefreiten Überlegungen jedoch zu Schrödingers Katze abdrifteten, schüttelte mich ein Hustenanfall und weil ich mich ruckartig aufsetzte, fiel mir die Brille von der Nase und landete auf dem Rock von meinem Tweed-Kostüm. „Verfluchte Erkältung“, grummelte ich heiser, griff nach meiner Brille und setzte sie wieder auf, ehe ich wegen meinem verschwommenen Gesichtsfeld noch ganz die Orientierung verlor.
Bevor ich mich wieder in meine wirren Gedankengänge versenken konnte, begann das Tablet auf dem Beistelltisch mit der unverkennbaren Melodie zu läuten, die einen Anruf über Skype ankündigte. Etwas tollpatschig und unkoordiniert lehnte ich mich gefährlich weit zur Seite und grapschte nach dem Gerät, bevor ich es schließlich an einer Ecke zu fassen kriegte und zu mir hinüber zog. Mit Erstaunen konnte ich sehen, dass der Anruf nicht von meinem Kunden aus Übersee kam, für den ich mich überhaupt erst vernünftig angezogen und geschminkt hatte, sondern von jemand ganz anderem. Eine Sekunde überlegte ich mir, ob ich ihn wirklich annehmen wollte, denn die Person am anderen Ende war nicht meine Kollegin; schon lange nicht mehr. „Ach, scheiß drauf“, murmelte ich und fuhr mit meinem Zeigefinger über den Touchscreen des koreanischen Geräts, bis sich ein etwas verpixelt wirkendes Bild aufbaute. Janine sah wirklich übel aus, ich hätte vor Schrecken beinahe das Tablet fallen lassen, denn damit hatte ich nicht gerechnet. Sie hatte zwar einige Falten mehr, doch das war es nicht, was mich nach ungefähr fünfzehn Jahren erstaunte; es waren die dunklen Ringe unter ihren Augen, die schon beinahe wie aufgemalt wirkten und das offensichtlich ungekämmte Haar, das ihr in alle erdenkliche Richtungen abzustehen schien. „Ja?“, fragte ich trotzdem beherrscht und wartete drauf, was sie sagen mochte. Sie schwieg kurz und starrte offenbar auf das Bild von mir, das sie mittlerweile zweifellos sehen würde. Sie stockte kurz und wirkte etwas eingeschüchtert, bevor sie zögerlich zu sprechen begann: „Ich – es tut mir leid, Liv.“
Erstaunt schwieg ich einen Moment, denn damit hatte ich am wenigsten gerechnet. Schließlich seufzte ich, um etwas Zeit zu schinden, denn ich wusste beim besten Willen nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Schließlich erwiderte ich ungläubig, doch mit einem bissgieren Unterton als geplant: „Jetzt plötzlich, nach all den Jahren – wieso?“
Janine seufzte. Ich konnte deutlich sehen, dass es ihr schwer fiel, sich mit mir zu unterhalten und ein Teil von mir, der rachsüchtige, den ich insgeheim Athene nannte, genoss es, doch ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen. Doch trotz allem begriff ich nicht ganz, wie meine frühere Mitschülerin vom Gymnasium von der vorbildlichen Mutter und Hausfrau zu dem hatte werden können, was ich jetzt ruckelnd auf meinem Display sehen konnte. Geknickt erklärte sie: „Ich habe Fehler gemacht, Liv. Ich habe es versaut und jetzt…“ Sie stockte und fuhr dann fort. „Sorry, ich bin ein wenig durcheinander. Jedenfalls habe ich in den letzten Monaten begriffen, dass ich mich bei vielen Leuten entschuldigen muss.“
„Aber wieso?“, fragte ich noch immer verwirrt. Das Rauschen in den Bäumen war lauter geworden und der Wind pfiff um das Holzhaus, dessen Gebälk unter der Belastung knarrte. Ich versuchte durch die Fenster des Wintergartens etwas zu erkennen, doch ich konnte nur einige stark wankende Baumwipfel sehen, während Janine zögerlich und etwas chaotisch ihre Antwort formulierte. Ich konnte ihr die Unsicherheit regelrecht ansehen. „Bei Schritt fünf sollte man seine Fehler eingestehen…“ Wieder unterbrach sie sich und hoffte darauf, dass ich endlich begriff und diesmal verstand ich wirklich und fragte nach: „Du bist bei den Anonymen Alkoholikern? Das letzte Mal, als ich dich gesehen habe, hast du noch nicht mal getrunken!“
„Ja“, entgegnete sie geknickt und fügte dann hinzu: „In meinem Leben ist einiges durcheinandergeraten, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.“
„Okay…“, begann ich gedehnt, denn der größere Teil von mir war alles andere als bereit, ihr zu verzeihen. „Und was genau hat dein Alkoholproblem jetzt mit deiner Entschuldigung zu tun?“
„Ich habe auch schon vorher Fehler gemacht“, sagte sie ruhig und wirkte wieder entspannter, bevor sie fortfuhr, ganz so als ob sie den Text einstudiert hätte und ihn nun endlich aufsagen konnte: „Und ich möchte gerne mein Leben aufräumen und von vorne anfangen. Darum bitte ich dir, mir zu verzeihen.“
Für einen Augenblick saß ich wie erstarrt da. Dinge, die ich längst vergessen hatte, holten mich wieder ein und gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass nun von mir erwartet wurde, sie einfach zu vergeben und vergessen. Ich holte tief Luft, um etwas Zeit zu schinden, selbst nicht wissend, was ich als nächstes sagen würde. „Nein“, erklärte ich schließlich entschieden und war über die Heftigkeit meiner Reaktion selbst schockiert.
„Wieso?“, wollte Janine flehend wissen. „Es tut mir wirklich leid und es ist schon so lange her, dass…“
„Einfach nein“, unterbrach ich sie und hatte das Gefühl, mich damit gegen alle sozialen Konventionen und Erwartungen aufzulehnen, denen ich seit Jahren gefolgt war. „Du kannst nicht nach all den Jahren anrufen und von mir erwarten, dass du mit etwas Kommunikationspsychologie von allen Leuten, denen du etwas angetan hast, Absolution erhalten wirst. Nur weil du bei der erstbesten Gelegenheit versuchst, mein Apell-Ohr mit einigen leeren und einstudierten Worten zu überlisten, kannst du nicht allen Ernstes glauben, dass ich dazu jetzt einfach ‚ja und amen‘ sage. Also nein, ich werde dir nicht vergeben.“
„Aber wieso nicht?“, fragte Janine schon beinahe flehentlich, mit einem kindlichen Unterton in der Stimme. Ich hatte mich längst in Rage geredet und so fuhr ich mit einem sarkastischen Unterton fort: „Vielleicht weil du mehrere Jahre lang aufs Schlimmste Gerüchte über mich verbreitet hast, die meine ganze Klasse am Ende tatsächlich geglaubt hatte? Doch vielleicht auch, weil ich zwar überzeugt bin, dass Menschen sich verändern können, das aber noch lange nicht bedeutet, dass ich ihnen eine zweite Chance geben muss.“ Ich machte eine kurze Pause, bevor ich kalt weitersprach. „Wenn du also glaubst, dass du nur mit meiner Vergebung weiterkommen wirst, ist das dein Pech. Und wenn du dich wirklich verändert hast, dann gib dir einen Tritt in deinen selbstgefälligen Allerwertesten und lern damit zu leben, dass du nicht immer bekommst, was du willst. Deine Entscheidung.“
Ich konnte erkennen, dass Janine kurz vor dem Weinen war, doch es war mir egal, freute mich gar ein wenig. Die Schuldgefühle, die ich eigentlich hätte haben sollen, weil ich gerade etwas getan hatte, das gegen alle Konventionen verstieß, blieben aus, ich war sogar ziemlich zufrieden und erleichtert. Sie setzte dazu an, etwas zu sagen, als ich ein schauriges Knarren hören konnte, gefolgt von einem lauten Knall, der mich zusammenfahren ließ. Das Licht erlosch und der Anruf wurde getrennt, als der Strom ausfiel. Der Wintergarten war nur noch von einigen Teelichtern erhellt, in deren flackerndem Schein ich verwirrt auf das Tablet starrte, bevor ich es mechanisch weglegte. Ich streckte mich, lehnte mich zurück und fragte mich für einen kurzen Augenblick, ob mein Verhalten wirklich in Ordnung gewesen war. „Wie auch immer, nicht mehr mein Problem“, murmelte ich schließlich, griff nach meinem Tee und lauschte dem Sturm, der um das Haus peitschte.