Special zur achthundertsten Story | Wohlverdienter Urlaub

Ein Zeppelin verdunkelte die Sonne, deren Strahlen bereits zuvor kaum durch den Smog drangen und Baron von Wulfenhausen hob den Blick, um das angedockte Gefährt zu mustern. Die „Gigantic“ war wahrlich ein grandioses Luftschiff, grösser als alles, das er bislang gesehen hatte. Seine Begleiterin im blauen Kleid, Lady Fairyblossom, hob ihren Schirm und murmelte amüsiert: „Dass wir ausgerechnet jetzt nach Übersee fahren …“
„Wie meinst du „ausgerechnet jetzt“, meine Holde?“, wollte der Baron wissen, klopfte seinen Zylinder ab und steckte das Monokel in die Brusttasche, als sie die Gangway hoch schritten.
Verschwörerisch senkte die Lady ihre Stimme und raffte den langen Rock, damit er nicht im Geländer hängenblieb. „Nun ja, mein Lieber, der Nachtvogel hat schon siebenhundertneunundneunzig Verbrecher hinter Gitter gebracht. Ich hätte jede Wette gemacht, vor dem Urlaub schafft er achthundert.“
„Ach wo“, winkte der Baron ab und ertappte sich dabei, wie er sich sofort umsah, um sich zu vergewissern. Niemand hatte sein Alias als nächtlicher Rächer der Stadt gehört, selbstverständlich war seine langjährige Weggefährtin vorsichtig gewesen, kein Mensch war in Hörweite. „Und wieso zählst du überhaupt die Unholden?“
Die Wissenschaftlerin zuckte demonstrativ mit den Schultern. „Mein Guter, auch ich unterhalte mich in meinen Pausen – zum Beispiel mit Statistik, es kann ja nicht immer Chemie, Physik oder Ingenieurswesen sein. Aber genug Arbeit, für die Nummer Achthundert hast du ja nach unserer Reise noch genug Zeit.“ Wie um sie zu bestätigen, erklang eine laute Pfeife und ein Offizier hinter ihnen brüllte: „Gangway einziehen!“

Nach einem langen Spaziergang auf dem Promenadendeck der ersten Klasse hatte sich Lady Fairyblossom für die Nacht zurückgezogen und der Baron schlenderte ein letztes Mal der Reling entlang und genoss den Wind in den Haaren. Das Wolkenmeer unter ihm war in der mondlosen Nacht kaum zu sehen, einzig das durch die Fenster der Smoking Lounge fallende Licht erhellte das Deck. Mit einem zufriedenen Seufzen lehnte sich der Baron an die Reling, freute sich auf den bevorstehenden Urlaub und darauf, für einige Wochen kein Doppelleben zu führen. Gerade, als er sich abwenden und zurück ins Innere gehen wollte, um in der Lounge an seiner Pfeife zu paffen, vernahm er aus einer dunklen Ecke in der Nähe eine unterdrückte Stimme: „… wir müssen zusehen, Goldbloom vor der Ankunft verschwinden zu lassen, du kennst die Anweisungen.“
„Wenn er an Deck kommt, werfen wir ihn über die Reling, kein Problem“, pflichtete ihm ein anderer Mann zu. „Das wird wie ein Unfall aussehen. Laut dem Auftraggeber macht er oft vor dem Zubettgehen einen Spaziergang, noch sitzt er da drin und pafft.“
Der Baron hatte genug gehört – Jonathan Jeffery Goldbloom, der Multimillionär und bekannte Industrielle, einer der größten Unterstützer der Armen seiner Stadt, sollte ermordet werden? Möglichst rasch, wenn auch unauffällig, machte sich der Baron auf den Weg nach drinnen. Bereits, als er die Tür des Salons öffnete, konnte er Goldbloom erkennen, der Exzentriker hatte ein rotes Band um seinen Zylinder genknüpft und spielte mit dem Monokel, während er einen Roman las. Baron von Wulfenhausen trat neben den Reisegenossen, der überrascht aufsah. „Mister Goldbloom, ich bitte um Entschuldigung. Ich habe eben vernommen, dass auf dem Deck Gauner sind, die Sie zu ermorden gedenken – ich schlage daher vor, Sie bleiben vorerst hier im sicheren Salon, ich informiere die zuständigen Stellen.“
„Ich … wer …?“, begann der andere, musterte den Baron verwirrt und nahm einen Schluck von seinem Whisky, ehe er zum Schluss kam, dies wäre eine gute Idee. „Sicher … und mit wem habe ich die Ehre?“
„Baron von Wulfenhausen, erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Gerne kann ich mich später zu Ihnen gesellen, jedoch muss ich jetzt hurtig handeln, damit Ihre Mörder nicht entkommen.“ Damit hob er seinen Zylinder zum Gruß und hastete in Richtung seiner Kabine. Erst nach mehreren Schritten fiel ihm ein, wie unpassend seine Ausdrucksweise war – die Verschwörer waren noch gar keine Mörder.

„Eine wahrlich grandiotastische Nachricht, meine Liebe“, grüßte der Baron seine Gefährtin, die im Spitzen-Nachthemd über mehreren Blaupausen ihrer neuesten Apparate und Erfindungen brütete. „Hm?“, machte sie, eine für sie unübliche Reaktion, außer, wenn sie bei ihrer Arbeit gestört wurde.
„Es hat Halunken an Bord, wir werden die Achthundert knacken, bevor wir im Urlaub sind!“
„Das ist aber schön“, murmelte sie abwesend, gefolgt von „Der Schlafgasbombenwerfer braucht mehr Dampf, wenn dieses Gerät je funktionieren soll.“
Wie jedes Mal, wenn es ihm bewusst wurde, fasziniert davon, wie wenig Interesse die Frau an seiner Seite für die eigentliche Verbrecherjagd aufbrachte, kramte der Baron sein Nachtvogel-Anzug aus der Reisetruhe. Nein, Lady Fairyblossom interessierte die Technik dahinter, die Wissenschaft, die neuen Erfindungen. Er dagegen war der geflügelte Rächer seiner Stadt und würde auch dieses Mal für Recht und Ordnung sorgen, selbst hier oben im Himmel. Noch als er die letzten Schnallen festmachte und die Maske aufsetzte, öffnete er das Bullauge, um gleich nach oben gleiten zu können.

„Grundgütiger, nein – zu Hilfe!“, brüllte Mister Goldbloom, als die zwei Halunken ihn auf die Reling zu zerrten. Sie kamen denkbar langsam voran, scheinbar hatten sie das Körpergewicht des korpulenten Herren unterschätzt. Noch ehe sie sich versahen, schoss ein schwarzer Schemen mit metallenen Schwingen aus dem Abgrund, der eine der beiden brüllte „Vorsicht, der Nachtvogel“ und der andere machte rechtsum Kehrt. Der Nachtvogel ließ sie nicht weit kommen, den flüchtenden Unhold erledigte er mit einem gezielten Betäubungspfeil von seinem dampfgetriebenen Handgelenkwerfer, den anderen packte er an der Kehle und hielt ihn an die Reling über den Abgrund. „Wer hat euch angeheuert, Halunke?“, donnerte der Held, neben dem sich Mister Goldbloom aufraffte, das Schauspiel fasziniert beobachtend.
„Der verzogene Neffe des Herrn Goldbloom“, keuchte der Gauner. „Er hat uns fünf Prozent des Erbes versprochen.“
„Gut.“ Damit feuerte der Nachtvogel einen zweiten Betäubungspfeil ab und ließ den Schurken wie ein Sack Kartoffeln auf die Deckplanken fallen. Da die Gefahr gebannt war und der Nachtvogel die herbeieilenden Stewards der Transatlantiklinie sah, wandte er sich an Goldbloom. „Ein kleiner Rat, der Herr: Wenn Ihnen jemand rät, nicht an Deck zu gehen, weil sich Mörder herumtreiben, hören sie auf ihn. Nun ist das Deck aber sicher für Ihren Spaziergang – einen schönen Abend, der Herr.“ Damit wandte er sich ab, sprang in den Abgrund und glitt dem Luftschiff entlang, bis er außer Sichtweite war und auf das Bullauge ihrer Kabine zuhalten konnte. Gerade, als er sich im letzten Anflug befand, begann der kleine Boiler-Rucksack auf seinem Rücken zu knistern und zischen, durch ein Überdruckventil entwich Dampf. „Du grüne Neune!“, stieß der Baron aus, als er den Antrieb verlor und sich nur mit einer Hand am offenen Fenster halten konnte. Der Rucksack zischte nun gefährlich, weswegen er ihn abstreifte und in die Tiefe fallen ließ, bevor er angestrengt begann, sich durchs Bullauge in seine Kabine hochzuziehen. Unter ihm donnerte eine Explosion durch die Wolken, laut genug, um alle an Bord des Luxusliners aufzuwecken. Ohne nennenswerte Eleganz purzelte der Baron in die Kabine und kam neben Lady Fairyblossom zu liegen, die kurz von ihrer Arbeit aufsah: „Wieder eine Boiler-Explosion bei der Landung?“
„Ja“, keuchte er, was sie mit einem desinteressierten „M-hm, werde ich mir mal genauer ansehen müssen“ quittierte. Plötzlich hielt sie inne und fragte: „Und, haben wir die Achthundert geschafft?“
„Ja, achthunderteins“, meinte der Baron, froh, nun endlich in den wohlverdienten Urlaub zu fahren.

Autorin: Sarah
Themenvorgabe: Achthundert
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