Todesstrahlen: Ursache und Lösung aller Probleme

Eines Tages werde ich hier im Freibad beim See abkratzen und meine angesengte Leiche wird als abschreckendes Beispiel dafür herangezogen werden, wieso die Sonne ein tödlicher Feind sein kann. Doch vorerst sitze ich noch im Schatten der dichten Ahornbäume, an einen knorrigen Stamm gelehnt und beobachtete die Kinder beim Spielen mit demselben Interesse, das ein durchschnittlicher Akademiker für das Nachmittagsprogramm von Privatfernsehstationen aufbringt. Immerhin steckte heute bisher niemand sein Kind mitsamt Windel in den See, das ist schon ein großer Fortschritt zum letzten Mal. Doch wo bin ich gewesen? Ich lenke mich immer selbst von meinen eigenen Gedankengängen ab. Ach genau, Todeszone Freibad: Mein ewiges Leid ist, dass ich nicht wirklich für die Sonne gemacht bin. Ich habe zwar keine richtige Allergie, aber mir wird überdurchschnittlich rasch schwindlig und übel, was am Ende in einem Sonnenstich oder gar Hitzschlag gipfelt. Gerne würde ich jetzt sagen, dass ich den vermaledeiten Feuerball am liebsten in eine andere Galaxis katapultieren wollte, doch offen gestanden ist mit ein intaktes Sonnensystem dann doch zu wichtig. Ganz zu schweigen von der Fotosynthese und dem Sauerstoff, den braucht man schließlich zum Atmen. Und wieder habe ich mich mit offensichtlichen Belanglosigkeiten abgelenkt, die bestenfalls an der Oberfläche von nervtötenden und impertinenten Alltagsphilosophien kratzen. Von „Impertinenz“ rast mein Gedankenzug, zweifellos ein InterCity, durch den stillgelegten Bahnhof der „Inkongruenz“ und hält, sehr zu meinem Missfallen bei „Inkontinenz“, während mein Blick all die badenden Leute streift. Igitt, nichts wie weg hier, schnell, ein neues Wort, „In-“, hat ausgedient, was ist die nächste Silbe? Irgendwas mit „Ko-“, bitte, ich muss das Bild aus meinem Kopf verdrängen, bevor ich weiter darüber nachdenke … „Ko… Koitus?“ Nicht viel besser. „Koala?“ Lahm, daran können auch Schulkinder denken. „Koaxialkabel?“ Ja, das ist ein schönes Wort, eines, das glücklich macht, eines, das auf der Zunge vergeht wie Pistazieneis und ein Lächeln auf mein Gesicht zaubert. Vielleicht sollte ich mir Schnurrhaare zulegen, wie eine Katze, würde sicher zusammen mit dem Lächeln bezaubernd wirken, oder?
„Hör auf damit!“, tadle ich mich selbst und bemerke natürlich erst, als es schon zu spät ist, dass ich das nicht bloß gedacht, sondern auch gesagt habe. Die Mutter, die einige Meter neben mir sitzt, hat sich umgewandt und starrt mich verwirrt an. „Keine Sorge, ich habe nur eine kleine Party in meinem Kopf“, rufe ich ihr lächelnd zu, stecke mir eine Zigarette an und überlege, ob ich mich nachher ins Wasser wagen soll und ob der Pool oder der See verlockender ist.
Wahrscheinlich würde ich mehr Platz haben, wenn ich erst neben den See stehen und möglichst laut und panisch „Shit, Hai-Angriff!“ rufen würde. Nicht das vernünftige Menschen glauben würden, ein Hai könnte in einem Süßwasser-See leben, aber etwas Paranoia scheint bei vielen dann doch übrig zu bleiben. Hauptsache es gibt mehr Platz. Eigentlich könnte ich auch etwas Natrium in den See werfen, das würde wenigstens richtig abgehen und die vielen Leute vertreiben. Aber wenn ich Natrium werfe, würden sicher gleich alle Enten kommen, weil sie es für Brot halten, die würden dann ihr blaues Wunder erleben! Ein ganzes Geschwader Enten läuft ins Freibad ein, voller Vorfreude auf das Brot, nur um dann zu sehen, wie es das vermeintliche Futter, sobald es das Nass berührt, zu brennen beginnt und über die Wasserfläche davonzischt … Wer muss bei dieser Vorstellung bitte nicht laut loslachen?
Die Mutter neben mir hebt ihr Kleines auf, faltet die Decke zusammen und trottet von dannen, offenbar ist ihr mein Glucksen ungeheuer. Kommt halt davon, dass sie keine Telepathin ist, dann versteht sie meinen Humor nicht. Ist aber nicht mein Problem. Und wieder habe ich den Faden verloren, wie um alles in der Welt bin ich auf Enten gekommen? Ich weiß es nicht mehr, aber Tiere mit ins Freibad zu nehmen ist eine gute Idee: Eine große Schildkröte anstelle des Schwimmreifens und eine Ziege, welche die Wiese mäht und dabei, wie bei jedem anderen Minijob auch, fürstlich bezahlt wird. Perfektes Geschäftsmodell, ich muss mir bei Gelegenheit ein paar Mäh-Ziegen zulegen. Ob die Schildkröte wohl untergehen würde, wenn man sich auf sie draufsetzt?
Verdammt, manchmal ist es einfach so, als hätte ich mir im Gehirn was gerissen! Egal was ich tue, meine Gedanken machen einfach nicht das, was sie sollten, sondern reisen an die verrücktesten Orte, an mehrere zugleich und die Theorien, die ich dabei aufstelle, sind auch nicht viel besser als meine aktuelle: Vielleicht habe ich mir den Trigeminusnerv gerissen oder eingeklemmt, ein sogenannter „Trigeminusnervenriss“? Nein, da oben kann man sich nichts zerren, oder? Und schon habe ich mich selbst paranoid gemacht, großartige Arbeit, ja wirklich! Wieso bin ich nicht Neurologin geworden, dann könnte ich mich jetzt wegen meiner dummen Ideen selbst verspotten.
Doch vorerst stehe ich vor einer anderen Alltags-Knacknuss, die nicht minder ernst ist: Ich mag es nicht, wenn so viele Leute auf einem Haufen sind. Ich muss dabei immer an jeden je erschienenen Zombiefilm denken; es fehlt nicht viel und sie sind alle infiziert. Und dann kommen sie alle auf mich zu, sabbernd und stöhnend, mit ihren zerfledderten Gesichtern … Moment mal, da muss ich mich doch glatt unterbrechen, wieso gehe ich davon aus, dass ich das überhaupt erleben würde? Dass ich schon zu den ersten Infizierten gehöre und abkratze ist viel wahrscheinlicher. Doch hey, ich will mir meine Tages-Albträume nicht verderben, also setze ich mich jetzt einfach mal frech wie ich bin in die Mitte des Universums und behaupte, dass ich überlebe, wir sind ja schließlich alle die Helden unserer Geschichten. Jetzt bleibt nur noch die Frage, was ich denn gegen all die Zombies tun würde. Und wieder breitet sich ein glückseliges Lächeln auf meinem Gesicht aus, das manch ein anderer nur nach einer erfolgreichen sexuellen Eroberung an den Tag legen würde. Doch nicht ich, denn jetzt kommen wir zu meinem Lieblingsthema: Todesstrahlen. Nichts ist besser, um eine Horde gefräßiger Zombies zu stoppen, als Todesstrahlen. Und schon beginnt in meinem Kopf das Leitmotiv für meine heroischen, wichtigen Gedanken zu spielen; eine Hintergrundmusik, die es schafft, sowohl die Gravitas als auch die unleugbare Wichtigkeit meiner Überlegungen zu unterstreichen. Und in bester Vortragsmanier, ganz so, als würde ich wie eine Kriegerin mit wehendem Mantel auf einem Hügel vor meiner Armee stehen und die Stimme heben während sich am Himmel über mir ein Gewitter zusammenbraut, spricht meine Gedankenstimme: „Sehr geehrtes Publikum, es gibt sie, die einzig wahre Konstanz in diesem Universum. Etwas, das man mit Sicherheit behaupten kann und auch schon früher hätte behaupten können, wenn man das nötige Wissen gehabt hätte: Todesstrahlen sind Ursache und Lösung aller unserer Probleme. Sie sind es, die uns gegen Zombies schützen, gegen die Angriffe von Außerirdischen, gegen Hausierer und Kommunisten! Und sie sind es auch, die in den Händen eines jeden Superschurken zur Zerstörung ganzer Städte, ja ganzer Welten, führen! Liebe Freunde, wir müssen an die Macht der Todesstrahlen glauben!“ Brausender Applaus meiner imaginären Armee begleitet das Ende meines leidenschaftlichen, wenn auch höchst sinnlosen, Plädoyers und langsam aber sicher tauche ich wieder in der Realität auf. Kinder schreien, Eltern rufen und Wasser spritzt. Es gibt keinen schöneren Ort für meine Tagträume als das Freibad, weil man immer von neuem in die wirkliche Welt zurückkehrt, zumindest bis zu dem Tag, an dem man versehentlich den eigenen Todesstrahl-Generator ins Bad mitnimmt und aktiviert. Dann heißt es fertig, Schluss, aus mit Familien, Ziegen, Enten, Schildkröten und Haifischen!
Und mal wieder denke ich an die unzähligen Gelegenheiten, an denen mir vorgehalten wird, dass ich einen Dachschaden habe. Okay, vielleicht bin ich manchmal ein wenig sonderbar. Aber offen gestanden bevorzuge ich, davon auszugehen, dass die Leute sonderbar sind, die mich für sonderbar halten. Das ist ja schließlich genauso logisch.

Autorin: Sarah
Setting: Freibad
Clues: Windel, Hai, Trigeminusnerv, Schnurrhaare, Schildkröte
Für Setting und Clues zu dieser Story bedanken wir uns bei Petra Arentzen. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

4 Gedanken zu „Todesstrahlen: Ursache und Lösung aller Probleme“

    1. Liebe Petra,
      ich hoffe schwer, du hast von mir nichts Sinnvolles erwartet :D
      Doch im Ernst: Ich gebe dir einen Skalpell und lege mich auf den Tich, dann kannste nachsehen, ob ich mir den Trigeminusnerv gezerrt oder gerissen habe – Deal? ;)
      Liebe Grüsse aus Sarahs Hirn,
      Sarah

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