Special zum 1. April | Tante Luisas Gespür für Gras

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Stefans Bartstoppeln juckten, er kratzte sich mit einem übellaunigen Seufzen am Kinn. Die Jugend musste wahrlich das komplizierteste Alter sein! Er kraxelte die alte, von jungen Trauerweiden bewachsene Trockenmauer hinab, landete mit seinen ausgelatschten Turnschuhen auf den Steinen, er war am Fluss angelangt. Jetzt im Frühling führte dieser besonders viel Wasser, trotzdem fand er eine kleine Steininsel am Rand, auf der er sich niederlassen konnte. Gelangweilt lehnte er sich zurück, sah geistesabwesend auf die Wolken. Bis auf das stete Plätschern gepaart mit Grillenzirpen war nichts zu hören, endlich hatte er seine Ruhe. Außerdem, was sollte man in einem Tal in den Bergen schon anderes tun als Kiffen und am Fluss abhängen? Genau: Nichts.
Mit den Klängen von Nirvana erwachte Stefans Handy, flink zog er das Gerät aus der Hosentasche. Skeptisch musterte er den auf dem aufleuchtenden Display angezeigten Namen, ehe er den Anruf annahm. „Hey, Alter!“ Er lausche der Stimme am anderen Ende und entgegnete schließlich: „Komm nur, ich bin am Fluss.“ Wieder herrschte kurz Stille, sodass die Grillen die akustische Szenerie dominierten, dann verdrehte er die Augen. „Du weißt schon, unten am Fluss, bei den großen Steinen, aber nicht da, wo Tante Luisa ihre Haarschleife verloren hat, sondern dort, wo Frederik sein Moped versenkt hat! Eben am Fluss.“ Warten, diesmal noch weniger lange. „Okay, bis dann.“
Erst hatte Stefan das Handy wegzustecken gedacht, dann hielt er inne und öffnete stattdessen Twitter, nur um ein enttäuschtes Geräusch von sich zu geben sowie das Ding endgültig in seiner Hosentasche verschwinden zu lassen. Die hübsche Chantal, Mädchen seiner Träume, das unbedingt Ballerina werden wollte, hatte ihm noch nicht auf seine Direktnachricht geantwortet. Wie forsch durfte man denn bitte fragen, ob sie was unternehmen möchte, wenn man sich dabei gleichwohl halbwegs anständig aufzuführen gedachte? In diesem Moment schien sie ihm die einzig mögliche Liebe zu sein, die Flamme seines Lebens.

Das Knattern eines Mopeds erklang aus der Ferne, kam schnell näher und übertönte bald, zusammen mit den unter den Reifen prasselnden Kieselsteinen, das immergleich dahinplätschernde Schmelzwasser. Stefan sah auf, warf den rötlich gemusterten Stein, den er betrachtet hatte, äußerst lässig in die Wellen. Für wen tat er das nur? Bislang war Marcel nicht da, doch wahrscheinlich war es sowieso besser, seine Gestik stets gut im Griff, all die Bewegungsabläufe verinnerlicht zu haben. Er wollte sich keine dummen Sprüche von seinen Kumpels anhören, er sei uncool und all der Quatsch. Ein Ständer wurde ausgeklappt, dann brach sein Bruder durch die Büsche und stolperte ungelenk über die Trockensteinmauer nach unten. „Hey“, machte er, während er sich hinsetzte. „Was läuft?“
„Nicht viel“, kommentierte Stefan mit der Gleichgültigkeit, die bloß jemand in seinem Alter an den Tag legen konnte. Vage auf den Fluss zeigend, fügte er hinzu: „Ich schaue der mächtigen Gießkanne namens Mutter Natur zu.“
Marcel lachte, ganz und gar nicht wie ein cooler Macker – kein Wunder, war er auf dem Schulhof ständig verprügelt worden. Stefan mochte seinen großen Bruder gerade deswegen, er schien andauernd entspannt zu sein, bemühte sich nicht darum, sich zu verstellen. Plus, und das war noch viel wichtiger: Mit ihm ließ es sich stets kiffen.
„Na, was läuft mit deiner Ballerina-Schnalle?“
Ausgerechnet jetzt, wo er etwas Positives über ihn dachte, musste sich dieser Vollpfosten nach Chantal erkundigen! Schneller konnte er sich seine Bonuspunkte wohl kaum verballern. „Eigentlich nix“, antwortete Stefan schulterzuckend und wechselte sogleich das Thema: „Lass uns lieber einen rauchen.“
„Auch gut.“ Marcel suchte den bereits gedrehten Joint aus der Jackentasche. In einem misslungenen Versuch, heroisch zu wirken, fuchtelte er in der Luft herum. „Ta-Daaaa, Tante Luisas bester Stoff!“
„Denkst du, es ist an der Zeit, dass du mal aufhörst, unserer Tante Gras zu klauen, sondern selber welches besorgst?“
„Ach was, Tante Luisa ist Künstlerin, so einem Freigeist sind Konzepte wie ‚Besitz‘ fremd“, winkte Marcel ab, fügte jedoch nach kurzem beschämt hinzu: „Außerdem hat sie mich erwischt.“
„Na?“, verlangte Stefan begierig zu wissen, insgeheim um künftigen Nachschub für die brüderlichen Ausflüge zum Flussbett fürchtend.
„Sie hat mir diesen schon gedrehten Joint geschenkt und dann summend weitergemalt. Vielleicht ist sie verrückt, dafür kennt sie verdammt viele Dealer, die ihr angeblich nichts verrechnen. Du kennst ja die Gerüchte.“
„Ist ja cool“, meinte Stefan, ergänzte aber sogleich, das schwarze Schaf ihrer Familie in Schutz nehmend: „Gib mal weniger auf Gerüchte. Und zünd‘ das Ding endlich an, statt hier blöd rumzulabern!“
Marcel schnippte sein Zippo auf, hielt die Flamme unter den Joint und nahm einen tiefen Zug. „Ah, na also. Komm schon, im Ernst, was läuft mit Chantal?“
„Nichts, himmelarsch!“, gab Stefan genervt zurück. „Soll ich dir einen verfluchten Agendaeintrag schreiben, wann du mich das nächste Mal daran erinnern sollst?“
„Ist ja okay, chill, Mann“, murrte Marcel, ihm den Joint reichend. „Du brauchst dringend etwas von meinem Wundermittel, du musst deinen Liebeskummer vergessen!“
Vermutlich hatte Marcel Recht, immerhin war er nicht nur Gymnasiast, sondern auch ein wahrer Klugscheißer. Sich beruhigend nahm Stefan einen tiefen Zug, der Geschmack des guten Stoffs breitete sich in seinem Schleimhöhlen, das Brennen in seinem Hals aus. Was dann geschah, überraschte die beiden Brüder: Mit einem lauten Knall explodierte der Joint und hüllte sie in eine grüne Wolke. Panisch ließ Stefan die Überreste des Filters los, robbte auf seinem Hintern weg: „Scheiße, was war das?“
Marcel wedelte vor seinem Gesicht, um den grünen Staub (was war das für ein Zeug?) zu vertreiben, starrte Stefan mit offenem Mund an und brach dann in unkontrolliertes Gelächter aus.
„Was hast du?“, erkundigte sich Stefan, dem der Schock tief in den Knochen saß, verwirrt. Marcel deutete grölend auf sein Gesicht, was in Stefan eine böse Vorahnung weckte. Unzählige unrealistische, dennoch höchst beunruhigende Vorstellungen schossen Stefan durch den Kopf: Hatte er seine ganze Haut verbrannt? Hing sie in Fetzen herunter? Würde das schmerzen? Leicht panisch fingerte er nach seinem Handy und hielt es so, dass er sein Spiegelbild auf dem dunklen Display sah. Die Frühlingssonne erleuchtete alles gut, jedes Detail war zu erkennen, sogar der widerborstige Pickel auf der Wange – aber alles komplett grün!
„Ich bin ein verkackter Außerirdischer!“, wetterte Stefan los und fuhr sich mit seinen grün gesprenkelten Fingern durch die Haare, grüne Pigmentschuppen regneten auf sein ergrüntes T-Shirt. Dabei bemerkte er, wie das grüne Licht, das eine neue Nachricht verkündete, an seinem Handy blinkte. Gereizt entsperrte Stefan das Display und musste erst auf das grüne Icon von WhatsApp (Gott, wie er Grün hasste!) tippen, um zu sehen, wer ihm geschrieben hatte. Es war Tante Luisa: „April, April, ihr Knallköpfe! P. S.: Ihr schuldet mir mittlerweile ungefähr 300 Euro.“
Wortlos hielt Stefan seinem Bruder das Gerät unter die Nase, damit dieser die Nachricht lesen konnte. Sehr trocken kommentierte Marcel: „Na, ich hoffe mal, Chantal steht auf Marsmännchen oder Umweltschützer.“

Autorin: Sarah
Setting: Unten am Fluss, bei den großen Steinen, aber nicht da, wo Tante Luisa ihre Haarschleife verloren hat, sondern dort, wo Frederik sein Moped versenkt hat.
Clues: Agendaeintrag, Ballerina, Twitter, Gießkanne, Bartstoppeln
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