Alles wie gehabt, oder: Der Mythos der ewigen Jugend

Es duftete stark nach dem Fondue, das wir gerade aßen und wie immer dudelte aus dem Radio die gleiche veraltete Musik, die im ersten öffentlich-rechtlichen Sender andauernd gespielt wurde. Der Schnee lag wohl etwa einen Meter hoch vor dem Chalet und ich konnte die makellos weiße Fläche, die wegen der vielen fallenden Flocken noch immer anwuchs, trotz der Dunkelheit noch durch das Küchenfenster erkennen. Wie jeden – und wirklich jeden – Winter verbrachten wir unsere Skiferien-Woche in demselben gemieteten Chalet im Berner Oberland. Dass ich nun schon siebzehn Jahre alt war und eigentlich gar nicht in einen Skiurlaub fahren wollte, hatte natürlich niemanden interessiert, denn als richtige Familie musste man wohl oder übel alles zusammen tun.
Ich machte mir schon seit jeher einen Spaß daraus, meinen Angehörigen einen symbolischen Beruf zuzuweisen, um mir selbst bewusst zu machen, wie unsere Familie funktionierte, welche den Rest des Jahres in einem kleinen Häuschen in einem Vorort wohnte.
Papa war der Richter – ruhig, besonnen und sprach selten, doch wenn er sich schließlich trotz allen Widrigkeiten und Diskussionen zu etwas entschloss, dann wurde es sofort zu geltendem Recht in unserem Haushalt. Jedes Mal, wenn jemand nicht auf ihn gehört hatte, war er mit einem Blick gestraft worden, als hätte er gerade die Fahnentreue, das höchste Gut für jeden strammen Patrioten, aufs schlimmste missachtet. Mich hatte das immer, so lange ich zurückdenken kann, in den Wahnsinn getrieben, auf jemanden hören zu müssen, ohne das Recht darauf zu haben, einen Einspruch einzulegen. Es hatte Jahre gedauert bis ich begriffen hatte, dass er das gar nie von uns verlangt hatte, sondern wir bloß immer auf ihn gehört hatten und hörten, weil er so selten etwas sagte. Im wirklichen Leben war er Abteilungsleiter im Büro einer Bank, natürlich der Bank, welcher er noch immer Unmengen von Geld schuldete, um die Hypothek auf unser Haus abzubezahlen.
Meine Mutter war ein Fall für sich. Erst hätte ich gesagt, sie wäre in meiner kleinen Fantasiewelt die Damen-Coiffeuse, weil sie mit allen klatschte, nie aufhörte zu sprechen und sich nur mit anderen Hausfrauen umgab, die genau wie sie, statt zu arbeiten einfache Weiterbildungskurse besuchten. Jedes Mal, wenn sie etwas Neues entdeckte hiess es, dass sie jetzt wirklich töpfern (oder malen, basteln, sticken, schreiben oder was auch immer gerade angesagt war) wolle und der Kurs das Geld wirklich wert sei. Und jedes Mal endete ihr Unterfangen, das wohl mehr gekostet hatte als meine Ausbildung am Gymnasium, wieder in der Garage oder dem Keller, sorgfältig abgedeckt mit einer Kunststoffplane. Darum nannte ich sie insgeheim die Hausfrau aus Überzeugung, die jeder Hängepflanze (und davon hatte sie nun wirklich eine ganze vermaledeite Menge) mehr Aufmerksamkeit widmete als ihren unzähligen Kursen.
Dann gab es noch meinen kleinen Bruder, der mit seinen vierzehn Jahren noch nicht genau wusste, ob er sich nun bei den Machos oder den Strebern der Klasse wohler fühlte – irgendwie war er weder-noch, doch wegen seinen vielen Auto-Postern und der Tatsache, dass er die Marke eines Wagens allein schon an dessen Rücklichtern erkennen konnte, nannte ich ihn den Mechaniker. Wahrscheinlich hätte er eher das Zeug zu einem Autoverkäufer, doch bei der Menge an Marihuana, die er heimlich im Garten rauchte, würde er wohl eher sein ganzes Leben damit verbringen, auf der faulen Haut zu liegen, als eine Karriere anzugehen. Immerhin war er manchmal ziemlich witzig wenn er bekifft war, was Mama immer in Rage versetzte und meinem Vater – wie fast alles – kaum ein müdes Lächeln abrang.
Und zu guter Letzt gab es natürlich noch mich – die Künstlerin. Nicht, dass ich wirklich etwas machte, das man als Kunst bezeichnen konnte, doch ich war der typische Freigeist, rauchte, trank ab und an, hing auf meiner Schule mit den Leuten in Schwarz und den Punks herum, diskutierte zu Metal-Musik über Leben und Tod, Sinn und vor allem Unsinn. Und natürlich hatte ich das Gefühl, dass ich meine unzähligen Pläne alle in die Tat umsetzen könnte und die Jugend niemals endete.

Ich streckte mich, als ich mein altes Tagebuch beiseitelegte, aus dessen wirren Inhalt ich eben meine Erinnerungen an Jungend und Familie rekonstruiert hatte; insgeheim fragte ich mich, ob ich mich wirklich an jedes Detail richtig erinnerte und nicht das eine oder andere weggelassen oder überzeichnet hatte. Ja, das waren noch Zeiten, damals, vor mehr als fünfzehn Jahren (bald würden es zwanzig sein). Ich erhob mich und ging durch das unbeleuchtete Haus die Treppe hinunter zum Kühlschrank, um mir etwas Wurst abzuschneiden und damit ein Brot zu belegen, schließlich bereiteten mir meine schlaflose Nächte meist einen ziemlichen Hunger. Ich musste amüsiert lächeln, während ich durch das Chalet ging, in dem meine Familie bis vor zehn Jahren jeden Skiurlaub verbracht hatte und in dem es jetzt nicht mehr oft nach heißem Fondue roch. Nun gehörte es ausgerechnet mir, derjenigen, die diesen Ort wie die Pest gehasst hatte. Bloß durch einen glücklichen Zufall und eine Wirtschaftskrise war es mir möglich geworden, das Haus verhältnismäßig günstig zu kaufen und nun gehörte es mir ganz allein. Die Skier standen im Keller, wo sie meiner Ansicht nach hingehörten, und auf dem Dach hatte es nun Solarpaneele, sonst war das Meiste genauso wie in meiner Jugend. Vor einiger Zeit hatte ich gar eine Hängepflanze gekauft, das absolute Symbol der Bürgerlichkeit, eine Handlung, mit der ich mir das Ende meiner Jugend metaphorisch eingestanden hatte. Dass ich damals bereits über dreißig Jahre alt gewesen war, verdrängte ich bei dem Gedanken nur allzu gern.
Mit dem Messer in der Hand stand ich nun da, vor meiner Wurst, und grinste bei dem Gedanken daran, was aus meiner Familie geworden war. Meine Eltern – Papa war wegen Sparmaßnahmen frühpensioniert – lebten noch immer in ihrem kleinen Reihenhaus in der Vorstadt und taten so, als ginge es ihnen blendend. Nicht einmal ich wusste, ob dem in der Tat so war und was sie den lieben langen Tag eigentlich taten. Er bastelte viel und sie hatte tatsächlich nach all der Zeit einen Handarbeitskurs gefunden, für den sie sich schon seit längerer Zeit begeisterte. Mein Bruder war nicht etwa Autoverkäufer geworden, sondern Banker, gar bei der gleichen Gruppe wie mein Vater, bloß in einer anderen Stadt in einem Nachbarland. Ob er noch immer seine Joints rauchte, wollte er mir nicht verraten, doch er schien mit seinem Leben zufrieden zu sein, jedenfalls beschwerte er sich nicht.
Und ich – nun ja, das war wohl das Beste an der ganzen Geschichte – habe mich kaum verändert. Ich war tatsächlich eine mittelmäßige Künstlerin geworden und hielt mich damit einigermaßen über Wasser. Wie alles, was ich tat, steckte darin mehr Träumerei als Pragmatismus und nicht selten ertappte ich mich in einem schwachen Augenblick dabei, dass ich so tat, als wäre mein Werk wirklich tiefsinnig, bedeutsam und wichtig. Vielleicht hatte ich doch einige Gene meiner Mutter abbekommen, auch wenn ich eher wie mein Vater aussah. Doch in dieser Nacht dämmerte mir eine weitere, viel bedeutsamere Erkenntnis als die, dass ich manchmal etwas angeberisch war: Ich war niemals erwachsen geworden. Nichts hatte sich verändert, alles Wichtige war noch genauso, wie es bei mir schon seit jeher gewesen war. Ungläubig stellte ich den leeren Teller, in dem mein Wurstbrot seine letzten Minuten erlebt hatte, beiseite und lehnte mich an den Schüttstein. In den nächsten Minuten rasten mir unzählige Fragen durch den Kopf: Sollte es tatsächlich so enden? War das alles, was ich in meinem Leben wollte? Oder ging es nicht vielmehr allen Erwachsenen so, dass sie tief in ihrem Inneren noch immer unsichere, unreife und träumerische Teenager waren? Eine dumpfe Angst breitete sich in mir aus, die von mir Besitz ergriff und mich lange nicht mehr loslassen sollte. Es dauerte einige Zeit bis ich begriff, dass meine Fragen keine Rolle spielten, dass ich darauf keine Antworten finden würde, die mich zufriedenstellten. Wichtig war wahrscheinlich bloß, dass ich, wenn ich eines Tages auf mein Leben zurückblicken werde, nicht allzu viel bereuen müsste – und so, wie ich mich kannte, glaubte ich nun genau zu wissen, was ich dafür tun musste.

Autorin: Sarah
Setting: Chalet
Clues: Solarpanel, Wurst, Fahnentreue, Rücklicht, Hängepflanze
Für Bettina – Danke für die Einladung zum Schreiburlaub in deinem Ferienhaus, das für diese Geschichte als Setting hinhalten musste.
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