Primum non nocere

Die Operationsvorbereitungen waren wie üblich ruhig verlaufen; Caroline hatte den klassischen Längsschnitt mit einer Routine durchgeführt, die sonst nur erfahrenere Chirurgen haben und auch das Herauslösen der linken Arteria mammaria interna aus der Brustwand gelang ihr mit Leichtigkeit. Als sie jedoch den Elektroskalpell an den Gefäßursprung der rechten Brustwandarterie setzte, um das etwa zwanzig Zentimeter lange Gefäß freizupräparieren und zu entfernen, zuckte ein kurzes Zittern durch ihren Oberarm. Instinktiv trat die junge Frau einen Schritt von ihrem Patienten zurück, atmete einige Male tief durch und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass sie lediglich nervös war – schließlich war es für sie das erste Mal, dass sie unter diesen Bedingungen operierte.

„Doktor, brauchen sie etwas?“ Caroline öffnete ihre Augen und sah sich im OP-Saal um, währendem das faustgroße Herz vor ihr rhythmisch weiterschlug und sie erbarmungslos daran erinnerte, dass sie im Begriff war, noch weiter in einen lebenden Menschen zu schneiden. „Nein, es geht schon.“ Sie atmete nochmal tief ein, trat entschlossen an den OP-Tisch und entfernte die Arterie ohne weitere Zwischenfälle, bevor sie zur Sicherheit nochmals die Funktionalität der verbleibenden linken Brustwandarterie kontrollierte, die später alle vier Bypässe mit Blut würde versorgen müssen.
„Den Oktopus, bitte.“ Eine der älteren Schwestern reichte ihr das seltsame Gerät aus Plastik und Stahl in einer sterilisierten Schale, unterdessen versuchte Caroline, sich bis ins kleinste Detail an das Lehrvideo zu erinnern, welches sie sich vor dem Eingriff angesehen hatte. Sie griff nach dem Stabilisator und platzierte dessen Saugnäpfe gekonnt am Ramus interventricularis anterior, welcher innerhalb von Sekunden einigermaßen still und bereit für den Einschnitt vor ihr lag. „Skalpell, bitte.“ Der Einschnitt und das Legen des Stents gelang ihr auf Anhieb, obwohl es für sie sehr ungewohnt war, dass sich das Operationsfeld stetig bewegte und Caroline blickte grinsend in die kleine Runde aus Schwestern und dem Anästhesisten, welcher lächerlich große Kopfhörer trug und sie nicht beachtete, als sie darauf wartete, dass man ihr die Nadel reichte. „Sie machen das hervorragend, Doktor.“ Marie hatte ihre Nervosität wohl bemerkt und lächelte sie aufmunternd an; eine gut gemeinte Geste, die Caroline jedoch nur tiefer in ihre Zweifel stürzte.

Als sie vor sieben Jahren zum ersten Mal in einem OP-Saal gestanden war, war sie von dem, was sie dort zu sehen bekam, dermaßen überwältigt, dass sie nicht einmal im Traum daran gedacht hätte, welche inneren Konflikte sie in Zukunft würde bewältigen müssen. Die Chirurgie war seit jeher ihr Ziel gewesen und währendem sich ihre Freunde auf dem College ins Nirwana soffen, hatte sie gewissenhaft gelernt und ihr Letztes dafür gegeben, irgendwann genau an dieser Stelle, vor einem offenen, schlagenden Herzen, zu stehen. Ihre Kommilitonen, selbst ihre Freunde und Familie hatten sie immer ermahnt, sich nicht vollständig für ihren Traum aufzuopfern, aber für Caroline war es damals immer ein Leichtes gewesen ihre Freizeit zu vernachlässigen und das zu tun, was sie tun musste und nur die wenigsten konnten; ganz so wie Artus, der Excalibur mühelos aus dem Amboss zog. Und so war aus Caroline, der ehrgeizigen Schülerin, eine hervorragenden Ärztin geworden, doch auf das was sie heute Morgen erlebt hatte, war sie nicht vorbereitet worden – weder von ihren Lehrern und Mentoren, noch von all dem Fachwissen, dass sie sich über die Jahre hinweg angeeignet hatte.

„Warten sie!“ eine der OP-Schwestern sah sie schockiert an, gerade als sie die kreisförmige Naht schließen wollte. „Der Stent, sie haben den Stent vergessen.“ Caroline fühlte wie das Blut in die Kapillaren in ihren Wangen schoss, entfernte hurtig das kleine Plastikröhrchen und bedankte sich gespielt verlegen für die Warnung. „Ok, das sieht soweit gut aus. Wir können das Herz jetzt drehen.“ Als die Schwestern die Kompresse zum Heben des Herzens vorbereiteten, sah die junge Chirurgin zu, wie ihr Kollege die rechte Brustwandarterie, die wie ein toter Regenwurm in einer Nierenschale lag, einschnitt und präparierte. Nun würde sie drei weitere Anastomosen an der Hinter- und Seitenwand des Herzens platzieren und ein kurzer Blick auf den Monitor verriet ihr, dass sie gute Chancen hatte, den Eingriff planmäßig abzuschließen. Der Blutdruck blieb stabil, sogar nachdem sie das Organ aus dem Herzbeutel gehoben hatten und Carolines Besorgnis darüber, ob ihre Einwilligung richtig gewesen war, wurde grösser. „Ich brauche eine Minute.“ Begleitet von den irritierten Blicken ihres Operationsteams, verließ sie den Saal, um sich im Vorbereitungsraum einen Schluck Wasser zu gönnen und das Ganze nochmal in Ruhe zu überdenken. Als sie zurückkam, hatten die Schwestern bereits die letzte LAD für die Anastomose vorbereitet und es war Marie, die ihr entgegenkam und fragte, ob sie bereit wäre weiterzumachen. „Ja, ich tue das, was getan werden muss.“, entgegnete sie monoton.
Gerade als sie den Stent aus der Schnittstelle entfernte und die Verbindung zwischen der Brustwandarterie und der Ramus diagonalis Herzkranzarterie beenden sollte, stieß sie unauffällig mit ihrem Fuß an den Beistelltisch, auf dem das Operationsbesteck lag, welcher mit einem lauten Scheppern zu Boden ging und alle Anwesenden in ein lautes Durcheinander stürzte. Schnell, so dass es niemand sehen konnte, schob sie den kleinen Tupfer, den sie vor der Operation unter ihrer Maske versteckt hatte, in die Öffnung und beendete dann ihre Naht und damit auch ihre Karriere. „Der neue Wagen kommt gleich. Wollen sie bis dahin etwas trinken?“ Marie sah sie besorgt an und begleitete sie in den Vorraum, um ihr gut zuzureden. Als die beiden alleine waren, legte die Schwester ihre Hand auf Carolines Rücken und bat sie darum, Ruhe zu bewahren. „Noch ist es nicht zu spät, lass es uns abbrechen und den Eingriff richtig zu Ende bringen.“ Caroline erschrak, als sie an beiden Schultern gepackt und sanft geschüttelt wurde und stolperte beinahe über einen der Poller, die bei der Tür zum OP-Saal angebracht worden waren, um das Einstellen von Beistellwagen und Tischen zu verhindern. Maries Tonfall war eindringlich und forsch: „Nein! Du darfst jetzt nicht aufgeben, nicht jetzt wo es schon fast vorbei ist.“ „Und was tun wir, wenn sie es herausfinden?“ Die Schwester seufzte genervt, kurz bevor sie versuchte entwaffnend zu lächeln – was ihr jedoch nicht gelang – und sagte: „Was wollen sie denn herausfinden? Die werden denken, dass du einen Fehler gemacht hast, genauso wie wir es geplant haben und mit dem Geld, das das ich dir gebe, wirst du dich absetzen und genau das tun können, was du willst.“

Als Caroline die letzten Stiche an der Verbindung zwischen der rechten und linken Arteria mammaria interna setzte, begann das Alarmpiepen des Herzmonitors. Das Team wurde unruhig, selbst der Narkosearzt legte seinen uralten Nintendo auf die Seite und über dessen Kopfhörer konnte man die unverkennbare Tetris-Melodie hören, währendem das Herz vor ihr langsamer wurde und irgendwann regungslos liegenblieb.

Autorin: Rahel
Setting: OP-Saal
Clues: Nirwana, Excalibur, Tetris, Kopfhörer, Poller
Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

2 Gedanken zu „Primum non nocere“

  1. Hallo liebe Rahel
    Mit dem Setting hätte ich mit einer Geschichte gerechnet, die angelehnt an diese Frauenserien, eher langweilig wird aber du hast doch tatsächlich einen Krimi daraus gemacht, der in der kurzen Zeit sogar den inneren Konflikt der Heldin aufgreift. Wirklich eine schöne Kurzgeschichte die mich sogar zum Fachbegriffe-googeln gebracht hat.

    1. Hallo werter Clue Reader

      Ha! Das Prädikat „Kein Material für Frauenserien“ macht mich schon beinahe ein wenig stolz. Aber wenn man ehrlich sein will, lässt sich mit genügend Weichzeichner, Haarspray und etwas Honig alles in eine Frauenserie verwandeln, selbst blutsaugende Vampire sollen davon nicht verschont geblieben sein ;)

      Und ich liebe es ja grundsätzlich andere zum googeln zu bringen; wie schön es doch ist sich kurz vorgaukeln zu können, dass man ein Fünkchen schlauer ist als der andere ;)

      Liebe Grüsse und die besten Wünsche
      Rahel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Clue Writing