Respekt und andere Torheiten

Warnung: Das in dieser Kurzgeschichte dargestellte Gedankengut könnte auf einige Leser beleidigend wirken. Mehr zu unseren Warnungen sowie wann und weshalb wir sie anwenden, erfahrt ihr in unseren FAQ.

„Oh nein, da kommen wir ja nie durch!“ Lee hatte sich auf eine verbeulte Mülltonne gestellt, um über die unüberschaubare Menge hinwegsehen zu können und winkte ihren Freunden zu, währendem laute Rufe durch die schmale Seitengasse dröhnten. Obwohl sie heute früh damit gerechnet hatte, dass der übliche Stadtverkehr ein wenig behindert werden würde, war die kleine Gruppe vom schieren Ausmaß der Demonstration überrascht worden. Niemand von ihnen hatte vorhergesehen, dass sich dieses Mal dermaßen viele engagierte Freizeitpolitiker am üblichen Versammlungsort einfinden würden, obwohl man eigentlich davon hätte ausgehen können; immerhin mischte das aktuelle Thema seit Wochen alle Schlagzeilen auf und fand seinen Weg auch außerhalb der einschlägigen Aktivisten-Kreise. Nun, auf jeden Fall war der Platz jetzt hoffnungslos überfüllt, sodass sich die Menschenmenge bereits jetzt, am frühen Nachmittag, bis in die Seitenstraßen ausgebreitet hatte und so wie es aussah, trudelten noch immer weitere Transparentträger ein.
Lee konnte mit all der Aufregung nichts anfangen und sie waren nur dank Isabelles schlechtem Orientierungssinn in dem Tumult gelandet, was sie natürlich nur noch mehr aufregte und die Stimmung innerhalb der Gruppe von alten Schulfreunden sollte heute nicht zum letzten Mal auf eine harte Probe gestellt werden. Als eine dritte Welle von Demonstranten auf sie zuzurollen drohte, schlug Margot geistesgegenwärtig vor, über eine vollgestopfte Baumulde zu klettern, um auf den Balkon eines marode wirkenden Hauses zu gelangen und dort das Schlimmste abzuwarten. Flink sprang Lee voran, half den beiden anderen hoch und grinste die beiden Polizisten, welche an der südlichen Quartierskreuzung standen, entwaffnend an.

Fünf gesprächslose Minuten vergingen, während denen Lee den überschwänglichen Worten eines jungen Herrn lauschte, dessen Stimme sie über die professionelle Anlage bis hierhin gut hören konnte. Sein selbstgerechtes Gerede von Gleichheit und Toleranz goutierte sie mit einem theatralischen Augenrollen. Sie konnte ihn sich geradezu bildlich vorstellen, wie er vom pseudo-sozialen Gedanken aufgeblasen auf der Bühne stand, auf welcher sich die verschiedensten Redner abwechselten, unterbrochen von mainstreamtauglichen Punk- und Rockklängen, und das laute Getöse der Zuschauer genoss. Erst als etwas Schotter vom Balkon herunterpolterte, erwachte Lee wieder aus ihrer Trance und blickte aufgeschrocken umher, in der Angst, sie würden gleich den Boden unter den Füssen verlieren. „Ach“, seufzte sie erleichtert, als sie Isabelle sah, die aus schierer Langeweile versuchte den vollgesprayten Bauzaun mit kleinen Steinchen zu treffen.
Margot, der das Schweigen augenscheinlich unbehaglich wurde, lächelte sie nun freundlich an und bemühte sich darum, eine Diskussion über die überraschende Vakanz des Papstamtes in die Gänge zu bringen und Lee hätte sich eigentlich darüber gefreut, die Wartezeit mit leichtem Gesprächsstoff zu überbrücken, aber die Erfahrungen im letzten Jahr hatten sie gelehrt, Margots Motiv rasch zu durchschauen. „Nicht das schon wieder!“ Lees Hand fuhr sofort vor ihren Mund, kaum hatte sie ihren Protest geäußert und sie konnte Isabelles skeptischen Blick fühlen, die sich in ihre Seite brannten. „Wie meinst du das?“, fragte die gute Margot und es gelang ihr nicht ganz, den provokanten Unterton zu verstecken. Die Angesprochene blieb einige Sekunden ruhig und überlegte sich, wie sie die bevorstehende Auseinandersetzung vielleicht doch noch verhindern könnte und vor allem, ob es eine Möglichkeit gab, Margot höflich davon zu überzeugen, dass sie schlichtweg keine Lust darauf hatte, erneut von ihr belehrt und unter dem Deckmantel der Nächstenliebe beschimpft zu werden. Doch als Isabelle eingreifen wollte und sagte: „Ach, wir sind alle etwas gereizt, ich bin sicher, sie hat es nicht so gemeint“, da platze Lee der Kragen.

„Weißt du was? Ich habe es so gemeint und ich habe es satt, ständig auf dich und deinen Glauben Rücksicht zu nehmen!“ Die beiden anderen sahen sie erschrocken an und Lee atmete einige Male tief durch, bevor sie überzeugt fortfuhr; jetzt war es ohnehin zu spät. „Ernsthaft, was soll der verfluchte Mist eigentlich? Du glaubst uns bemitleiden zu können, weil wir noch nicht eingesehen haben wie wundervoll das Leben mit Gott ist, wie sehr wir alle gesegnet wurden und wie blind wir für die Wunder der Welt sind, ja glaubst du tatsächlich, dass wir nicht merken wie verlogen das ganze Theater eigentlich ist? Du nennst dich einen guten Menschen, währendem du einfach davon ausgehst, dass wir in die Hölle kommen, dass wir ignorant und verblendet sind, nur weil wir nicht an die beschissene Zahnfee glauben!“ Jetzt wurde Isabelle wieder aktiv, kniff Lee schmerzhaft in den Oberarm und sah sie eindringlich, beinahe flehend an. „Lee, sei doch nicht so respektlos!“

„Respektlos? Weißt du überhaupt, was respektlos ist? Es ist verdammt nochmal eine bodenlose Frechheit, von der gesamten Menschheit zu erwarten, Rücksicht auf so lächerliche Ansprüche zu nehmen, währendem eben diese, welche sich ständig Respekt und Toleranz wünschen, nicht einmal ansatzweise in der Lage sind, ihre antrainierten, anerzogenen, eingebildeten Hirngespinste zu hinterfragen, oder sie wenigstens für das Wohl aller zurückzustellen!“ Noch bevor Margot etwas dazu sagen konnte, schmiss Lee ihre Tasche wutentbrannt in die Ecke des Balkons, so dass die abbruchreife Tür zu wackeln begann. „Respekt bedeutet, jemanden nicht wie ein Kleinkind zu behandeln, ehrlich zu sein und ihm die Fähigkeit zuzugestehen, damit klarzukommen. Du kannst noch lange davon reden, dass du der Meinung bist, jeder habe ein Anrecht auf seine eigene Wahrheit, wir beide wissen, dass das nur eine feige Taktik ist, sich nicht mit hoffnungslosen Fällen auseinandersetzen zu müssen und das, liebe Isabelle, ist im Grunde genommen herablassend.“ Isabelle und Margot verstummten und blickten schockiert auf die abebbende Menschenmaße unter ihnen, währendem Lee aufstand, sich rücklings ans Geländer lehnte und etwas leiser, gutmütiger fortfuhr: „Es tut mir leid Margot, aber ich habe wirklich die Nase gestrichen voll, von dir und jedem anderen pseudo-Gutmenschen der sich einbildet die moralische Überhand zu haben, nur weil er einer kindlichen Unwahrscheinlichkeit nachhängt, sei es nun dein Gott, Allah, Jehova oder irgendein längst vergessener Inka-Gott. Du bist der Meinung, nur Gott habe das Recht über uns zu richten? Himmel, hast du die Bibel überhaupt gelesen, weißt du eigentlich was für einen zutiefst sadistischen Bastard du zu deinem Erlöser ernennst?“

Sich die Stirn knetend versuchte sie die Rufe der Leute, die von ihrer Rede angelockt wurden, auszublenden und sich daran zu erinnern, dass sie bis heute ein anständiger, zuvorkommender und zurückhaltender Zeitgenosse gewesen war. „All die Leute hier tun so als wären sie am Frieden interessiert und schreien ein Plädoyer für Toleranz und Gleichheit. Was für eine nutzlose Zeitverschwendung, wenn wir nicht bereit sind das Kind beim Namen zu nennen, Tacheles zu reden und wahrhaftigen Respekt vor unserem Gegenüber zu zeigen. Du magst deinen Glauben moderat ausleben, aber genau da fängt es an, exakt diese Verweigerung sich der Realität zu stellen führt am Ende dazu, dass sich Israelis und Palästinenser gegenseitig in die Luft jagen, dass Menschen verfolgt, ausgestoßen werden und dass so viele, so unendlich viele die wahre Schönheit, die unwahrscheinliche Großartigkeit unserer Welt nicht erkennen können.“ Als Isabelle Lees befreiten Ausdruck erkannte und sah, wie sich Margot langsam erhob, ahnte sie Unheilvolles und streckte beschwichtigend ihre Hand aus. „Du willst, dass ich deine religiösen Gefühle respektiere?“, holte Lee erneut aus: „Das könnte ich nur tun, wenn ich dich als Menschen nicht ernst nehmen würde und da ich dich für eine wertvolle, wunderbare junge Frau halte, weigere ich mich das zu tun. Anstelle dessen sage ich dir, aufrichtig und gleichberechtigt, dass es Dinge gibt die man sich nicht aussuchen kann, dass es Wahrheiten gibt die nicht zur Debatte stehen und dass es mir unendlich leid tut, dass du das nicht einsehen kannst oder willst und dass ich diese Torheit gleichzeitig für inakzeptabel und unermesslich dumm halte.“

Die restliche Wartezeit verbrachten die drei Freunde wortlos und währendem Lee sich gleichermaßen frei und beschämt fühlte, weil sie widersprüchlich zu ihrem sonst so höflichen Wesen ungefiltert gesprochen hatte, bemühte sich Isabelle so zu tun, als hätte sie sich das Geschehene nur erträumt. Margot sprach erst wieder mit den beiden, als sie die verdreckte, mit Plakatschnipseln übersäte Seitengasse verließen: „Gehen wir noch zu Luigis?“ Lee lächelte und wusste, sie hatte sich nicht in ihrer Freundin getäuscht.

Autorin: Rahel
Setting: Seitengasse
Clues: Inka-Gott, Israeli, Schotter, Vakanz, Baumulde
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