Restrisiko

Neal war Feuerwehrmann mit Leib und Seele; bereits als kleines Kind hatte er davon geträumt, andere aus brennenden Gebäuden zu retten und dabei unbeirrt und mit einer überlegenen Coolness durch das Inferno zu schreiten. Nun hatte er es endlich geschafft, er war ein Lokalheld, der Lebensretter der Stadt, der in seiner relativ jungen Karriere bereits fast einem Dutzend Menschen das Leben gerettet hatte. Wie immer, wenn er seine Schutzkleidung trug und die Axt in den Händen hielt, fühlte er sich völlig entspannt, stolz und beinahe erhaben. Doch es hatte viel Arbeit und Risikobereitschaft benötigt, um dahin zu gelangen, wo er nun war.
Neal rannte durch den rauchgeschwängerten Gang auf die Schlafzimmertür zu, hinter der die junge Frau eingeschlossen war. Frauen in der Mitte ihrer Zwanziger rettete er am liebsten, denn er hatte so das Gefühl, noch mehr als Held wahrgenommen zu werden. Zudem würde es diesmal eine leichte Sache werden, der Brandherd war in der Küche auf der anderen Seite des Apartments und so blieb ihm alle Zeit der Welt. Er atmete dank seiner Sauerstoffmaske tief durch, holte Anlauf und trat die Tür auf; offenbar war sie verschlossen gewesen. Während sie quietschend aufschwang, warf Neal einen ersten Blick in den Raum der vor ihm lag und fühlte sich um einige Jahrzehnte zurückversetzt. Die geblümte Tapete und das verschnörkelte Bettgestell trugen sicher ihren Teil dazu bei, doch die großen Reiseplakate, die Wolkenkratzer und Pyramiden zeigten und die geöffnete Spieldose, die leise vor sich hin klimperte, rundeten das Bild ab. Die junge Frau, welche auch die einzige Bewohnerin des Apartments war, lag auf dem Bauch im Bett, wobei sie teils von der weißen, geblümten Bettwäsche bedeckt wurde. Ihr schwarzes Haar fiel ihr über die Schultern, doch nicht soweit, dass sie das lange, weiße Nachthemd bedeckten, das sie trug. Die Haut ihrer Arme und Schultern wirkte ebenmäßig, beinahe weiß und Neal dachte, dass dies bisher die schönste Frau war, die er retten konnte. Er ging über den alten Perserteppich zu ihren Bett und tippte ihr auf die Schulter, während er durch seine Atemmaske rief: „Ma’am, sie müssen mitkommen, ihr Haus brennt.“ Sie reagierte nicht und er drehte sie rasch auf den Rücken, schließlich könnte sie wegen dem Rauch bewusstlos geworden sein, obwohl die Luft in dem Schlafzimmer noch ziemlich gut zu sein schien. Erschrocken blickte er ihre Augen, die ihn leblos anstarrten.

Neal war alleine in dem Zimmer, seine Kollegen löschten den Brand in der Küche; vielleicht fragten sie sich gerade, weshalb Flammen aus einer Schüssel Kartoffelsalat schossen, die auf der Anrichte stand, doch er rechnete eher damit, dass von dem Salat nicht mehr viel zu sehen war. Neal war vor kurzem über ein Brett, das wie eine Hühnerleiter aussah und im Garten gelegen war, in die Küche eingestiegen und hatte extra viel Öl und Brandbeschleuniger über den Kartoffelsalat gekippt, bevor er einen Feueranzündwürfel hineingeworfen hatte. Wenn man die Schüssel nahe an die Handtücher stellte, ging es nicht lange, bis ein veritabler Brand wütete und seine Einheit gerufen wurde. Und so war er nach kurzer Zeit wieder zurückgekommen, um das Feuer zu löschen, das er wenige Minuten zuvor selbst entfacht hatte.
Neal hatte bisher noch nie Schuld dafür empfunden, dass er die meisten Brände selbst gelegt hatte, durch deren Zäumung er als unerschrockener Lebensretter bekannt geworden war; dafür war das Gefühl, dass ihn beim Betrachten seines Fotos in der Lokalzeitung erfüllt hatte, einfach zu gut gewesen. Doch nun, als er über dem leblosen Körper der jungen Frau stand, erkannte er die Konsequenzen seines kleinen Spiels; die Angelegenheit wurde plötzlich real und er stieß einen lauten, schockierten Fluch aus. Er hätte begreifen müssen, dass es immer ein Restrisiko gab, dass er nicht ewig so hätte weitermachen können, ohne dabei jemanden zu verletzen. Es dauerte einige weitere Sekunden, bevor er wieder zu irgendeiner Handlung fähig war. Dann setzte er sich auf die Bettkante, während er hören konnte, wie seine Kameraden den Brand in der Küche löschten. „Verdammt, du solltest doch nicht verletzt werden“, murmelte er. „Ich wollte bloß der Held sein, der dich rettet.“
Sie lag weiterhin unbeweglich auf dem Bett und antwortete ihm nicht. Neal schüttelte traurig den Kopf und starrte auf seine von dicken Handschuhen bedeckten Hände. Er wusste nicht, mit wem er eigentlich sprach, doch er konnte einfach nicht aufhören und gab sich Mühe, seine Tränen zurückzuhalten. „Wieso musste ich bloß damit anfangen? Was habe ich mir dabei gedacht?“
Wieder antwortete ihm niemand und eine bedrückende Stille lag auf dem schwach beleuchteten Zimmer – die Spieldose hatte auch längst aufgehört, ihre Melodie abzuspielen. „Warum habe ich bloß all die Häuser angezündet? Bloß wegen dem Ruhm?“ Er dachte kurz nach, bevor er murmelte: „Völlig sinnlos, der hält doch keine zehn Wochen an.“
„Die Gefängnisstrafe dauert dagegen mindestens zehn Jahre“, erklang eine ruhige Stimme hinter ihm. Neal fuhr herum und konnte das Grinsen im Gesicht der jungen Frau sehen, die ihn mit ihrem Blick fixierte, während sie einen Polizeiausweis hochhielt.

Autorin: Sarah
Setting: Schlafzimmer
Clues: Hühnerleiter, Pyramide, Lebensretter, Fluch, Kartoffelsalat
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Ein Gedanke zu „Restrisiko“

  1. Hallo, liebe Clue Reader,

    Leider ist beim Publizieren der Story der letzte Satz nicht vollständig geblieben – nun haben wir es doch noch bemerkt und angepasst. Sorry an alle für die entstandene Verwirrung!

    Sarah

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