Valentinstag-Special | Sternschnuppen in Sirrahs Himmel

Sirrahs letztes Leuchten verfängt sich im dichten Blätterwerk der alten Weide. Die Einheimischen nennen den Baum Yggdrasil, verehren ihn regelrecht. Seiner Größe nach zu urteilen war er von den ersten Kolonisten gepflanzt worden, eine direkte Verbindung zu unserer längst vergessenen Heimat.
„An was denkst du gerade?“ Du rückst zu mir, vorsichtig, mit einem milden Lächeln auf den Lippen.
„Ach“, seufze ich. Dein Körpergeruch ist kaum wahrnehmbar, leicht süßlich vielleicht, ohne den üblichen Gestank nach Erbrochenem, den die meisten verströmen. „Eigentlich an nichts.“
„Ah.“ Du streichst dir die Haare aus dem Gesicht, richtest deinen Dutt und schweigst eine Weile mit mir. Das macg ich an dir, du hast keine Scheu vor der Stille. Gemeinsam beobachten wir, wie Sirrahs Licht seine orange Farbe verliert, unsere Sonne unter den Horizont wandert. „Ich kann das nicht“, meinst du schließlich. „An nichts denken.“
„Hm.“ Ich lege den Kopf in den Nacken, warte auf die ersten Sterne. Wir haben unser Lager weit weg von der Siedlung aufgeschlagen, um ungestört in die Vergangenheit zu blicken. Nur in vollkommener Dunkelheit ist das Spektakel zu erkennen. „Nichts ist selten nichts.“
„Das stimmt“, flüsterst du. Du verstehst mich, auch ohne Erklärung. „Macht es dir Sorgen?“
„Was? Das Nichts?“ Du berührst mit deinem Oberarm den meinen, du lehnst dich sachte an mich und ich lasse es geschehen. Deine Nähe ist erträglich, manchmal hüpft mein Herz, wenn ich dich fühle. „Nein.“
„Okay.“ Dein Atem bildet Wölkchen, mit Sirrahs Verschwinden bricht die Kälte über uns herein. Außerhalb des Dorfes Nuovo Zarmarkand gibt es keine Wärmelüfter, weshalb auch. Bloß die Wirtschafts- und Wohnflächen werden beheizt, während uns Sirrah tagsüber mit ihren Strahlen versorgt, zehren wir nachts von ihrer gespeicherten Energie. Sie ist die Grundlage unseres Lebens. „Da bin ich froh.“
„Hm?“ Ich frage mich, wie sich unsere Urgroßeltern die Zukunft vorgestellt hatten. Es wird erzählt, Hoffnung habe sie zu der langen Reise durch die Tiefen des Alls motiviert. Ich befürchte allerdings, es war schiere Panik gewesen, die sie in die Ungewissheit fliegen ließ. „Worüber bist du froh?“
„Dass dir das Nichts keine Sorgen macht“, gibst du zurück, streckst dich ausgiebig und ziehst deine Decke fester um dich. „Das ist schön.“ Einige Minuten betrachte ich das Teleskop, das wir neben unserem Zelt aufgebaut haben, das Zerstörung und Kreation durch Spiegelachsen zu uns bringt. Zumindest eine entfernte Ahnung davon.
„Was ist mit dir?“ Ich bin unwohl, würde gerne aufstehen und ein wenig im Kreis gehen, dennoch bleibe ich bei dir, will dir damit zeigen, wie wichtig du für mich geworden bist. „Bist du besorgt?“
„Wie könnte ich es nicht sein?“ Ich nicke, drehe mich zu dir und versuche mich an einer Umarmung. Sie ist hölzern, körperlicher Kontakt ist mir fremd und du respektierst das. Auch das mag ich an dir, so sehr, dass ich mich für dich überwinden, dir Zuneigung zeigen will. „Danke.“ Ich sage nichts, wir befinden uns am Scheideweg und ich liege falsch mit meiner Unbekümmertheit. Du weilst in Xibalba, dem Ort der Angst, indes schaue ich vertrauensvoll gegen oben auf die nie enden wollende Veränderung.
„Wir werden es besser machen“, will ich dich trösten. „Wir werden uns bemühen.“ Statt einer Antwort, höre ich dich schluchzen, also drücke ich deinen Körper an meinen, wärme deinen Nacken, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun könnte. Ich merke, wie deine Spannung nachlässt, du gegen mich sinkst und ein Teil von mir ist stolz, dir ein wenig Ruhe gegeben zu haben.
Wir liegen auf dem Rücken, die Thermodecken bis unter die Augen gezogen, und starren auf den Himmel. Andromedas Schlieren verschmelzen mit unserer Heimatgalaxie. Es hat begonnen.
„Sie sind nicht mehr“, murmelst du. „Sie sind nichts. Sie sind das Nichts.“
„Unsere Vorfahren sind vor Äonen vergangen, aber wir sind hier.“ Ich schnaufe tief durch, linse zu dir und erschrecke. Du weinst, trauerst um die Menschen, die in unseren Geschichten existieren und meine Seele springt. Wie ist es dir gelungen, eine Beziehung zu Lebewesen aufzubauen, die du lediglich aus zerfledderten Schriften, Ogham-Übersetzungen, mythologischen Versen und etlichen Yotabytes aus sinnlosen sowie sinnhaften Aufzeichnungen kennst? Wo ich doch bereits an der Bindung zu dir, meiner liebsten Person überhaupt, scheitere. „Weshalb vergießt du Tränen für sie?“
„Sie sind wir. Wir sind sie.“ Plötzlich ist deine Stimme monoton, als wäre es meine. „Siehst du es denn nicht?“ Du schiebst die Decke beiseite, kniest dich hin und reichst mir das Teleskopdisplay. Pünktchen verpuffen, ganze Sternsysteme werden ausgelöscht, mein Innerstes bleibt dabei kalt. „Wir wiederholen ihre Fehler! Wir werden zu Nichts.“
„Ich weiß“, gebe ich zu, mein sturer Optimismus für unsere Welt splittert ein wenig. „Ich weiß. Nichts ist selten nichts. Also hab keine Angst.“ Es wird eine Ewigkeit dauern, bis die beiden Galaxien sich gegenseitig einverleibt haben, sie ihren Kollisionstanz beenden und auferstehen.

Autorin: Rahel
Setting: Lager
Clues: Xibalba, Yggdrasil, Zamarkand, Andromeda, Ogham
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