Special zum vierjährigen Jubiläum | Jahr Drei

Dies ist der 3. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Vier Jahre“.

„Glaubst du, das war eine gute Idee?” Kathrins Augen springen immer wieder von Mika und Anton zu mir. Sie denkt wohl, ich könne sie über das fröhliche Gemurmel der umstehenden Leute nicht hören. Sie irrt sich, schließlich ist ihre Stimme dermaßen gellend hell, sodass man sie selbst durch einen Hurrikane ausmachen könnte. Über mich selbst verwundert, schüttle ich den Kopf. Seit wann bin ich so garstig? Das ist mir letztens bereits aufgefallen, als ich gemeinsam mit Mika auf der Terrasse saß und mir eine gemeine Bemerkung über eine vorbeispazierenden Nachbarin erlaubte. Mein bester Kumpel irritierte das vermutlich gleichermaßen, zumindest schielte er argwöhnisch hinüber und nippte verdächtig langsam an seiner Cola, um bloß keinen Kommentar abgeben zu müssen. „Es ist noch zu früh“, wendet Kathrin ein. Erneut schnellt ihr Blick zu mir und zurück. Ich seufze, breche meinen Versuch, bei der anderen Kasse schneller an Tickets zu kommen, ab und wende mich meinen drei Freunden zu.
„Danke, aber es ist in Ordnung. Heute will ich feiern!“ Skeptische Gesichter stehen mir gegenüber, beäugen mich, ehe Anton breit grinst. Ein wenig zu fest auf meine Schultern klopfend bellt er gegen den nassgrauen Himmel: „Paaaarty!“ Ich will über die unangebrachte Lautstärke lachen, vor allem, weil Anton bislang keinen Tropfen Alkohol getrunken hat. Ich will, ehrlich. Trotzdem bringe ich lediglich ein heiseres Hüsteln zustande. Für einige flüchtige Sekunden frage ich mich, wann ich zum letzten Mal so richtig loslachen konnte, schüttle dann neuerlich den Kopf. Das Ziel dieses Abends war eigentlich, ebensolche Gedanken für eine Weile in den Hintergrund zu drängen, ich sollte mich also an meine eigenes Vorhaben halten, statt es schon in der Warteschlange scheitern zu lassen. Zudem kenne ich die Antwort – sobald etwas wirklich witziges passiert, werde ich bestimmt lachen.
„Scheiße“, motzt Mika leise. Von der ungewohnten Wortwahl seines Kammeraden animiert, dreht sich Anton auf den Hacken um und glotzt den Größeren belustigt an.
„Ja, habe ich mich da verhört? Was hat der werte Herr Überhöflich da gesagt?“ Mika knurrt, deutet auf die allmählich schrumpfenden Schlange, bevor er erläutert: „Jedes Jahr dauert es länger, bis wir ins ‚The Clue‘ reinkommen.“
„Wir müssen im nächsten Sommer einfach früher da sein“, schlage ich schulterzuckend vor, werde allerdings sogleich überbrüllt.
„Es kann losgehen!“ Anton und Kathrin kreischen unisono, bewerkstelligen es irgendwie, dem Kassier Kleingeld entgegenzuwerfen und hüpfen in Richtung der gelben Eingangstür davon. Ich schaue zu Mika, welcher mit der ausgestreckten Hand perplex vor dem Kassenfenster eingefroren ist. Ein Schmunzeln schleicht sich auf meine Lippen. Einmal mehr begeistert mich Mikas Unfähigkeit, die energische Persönlichkeit der anderen beiden zu verstehen.

„Bier oder lieber was Härteres?“ Eine Reaktion meinerseits ist nicht vonnöten, denn Kathrin schiebt Antons Bier beiseite und drängt mir ein kleines Glas mit einer durchsichtigen Flüssigkeit in die Finger.
„Pah, Bier. Das wird der Abend des Tequilas!“, verkündet sie über die schrammende Gitarrenmusik hinweg. Ich hasse dieses widerliche Gesöff und sie wüsste das, dennoch nehme ich es ihr keineswegs übel, sondern freue mich. Das ätzende Getränk ist ihre Art, sich meiner Trauer zu widmen, mich wissenzulassen, dass sie mich glücklich – sowie betrunken – sehen möchte.
„Danke“, lächle ich unbeholfen, hebe das Schnapsglas und kippe mir das brennende Zeug in den Rachen – scheußlich.
„Die haben echt Gas gegeben“, stellt Kathrin fest. „Haben die da eine Wand eingerissen?“
„Ja, wahrscheinlich. Vorher war die Halle kleiner, die Bar kürzer und … Gab es die Sitznische letztes Jahr auch?“ Anton legt grüblerisch die Stirn in Falten. Mika hingegen schießt von seinem Barhocker auf, wirbelt herum und wirkt gar enthusiastisch für jemanden, der eben einen horrenden Preis für einen bunten Drink bezahlt hat.
„Wo?“, will er wissen.
„Na, da hinten“, erwidert Anton und wird von Mika beinahe vom Hocker gerissen, als dieser schnurstracks zur Tanzfläche losrennt. „Was ist in den gefahren?“
„Du hast eine ‚Sitznische‘ erwähnt“, erkläre ich, merke jedoch, dass Anton und Kathrin deutlichere Informationen brauchen, um Mikas Verhalten zu verstehen. „Er trainiert noch für diesen Marathon und hat fürchterlichen Muskelkater.“ Einen Moment bleiben die beiden still, dann brechen sie in gellendes Gelächter aus.
„Okay“, gluckst Anton außer Atem, „leisten wir dem Kater Gesellschaft.“

„So lässt es sich aushalten“, verkündet meine Freundin zum wiederholten Male, räkelt sich und lehnt sich schlussendlich gefährlich nahe neben Anton in die gelben Kissen. Weder sie noch ihr Freund haben sich offiziell zu ihrer – längst überfälligen – Beziehung geäußert, obwohl alle Bescheid wissen, wollen sie daraus vorerst ein Geheimnis machen. Vielleicht ist das ebenfalls eine lieb gemeinte Geste. Dabei wären positive Neuigkeiten genau das, was ich jetzt brauche – keine Rücksichtnahme, sondern das normale Leben. Naja, im Prinzip bin ich unsicher, was ich brauche, aber der Tequila scheint ein guter Anfang zu sein. Während die Sitzpolster stets weicher werden und die mit Bleistiftsymbolen verzierte Decke sich in meinem Alkoholrausch dreht, werden die Erinnerungen an die vergangenen Tage vom Kummer reingewaschen. Nie zuvor war ich an einer Beerdigung gewesen, schon verrückt. Ein Teil von mir weigert sich hartnäckig zu akzeptieren, dass meine erste ausgerechnet die meiner Mutter sein musste.
„Alles klar bei dir?“ Mika legt seinen Arm um mich, etwas, das er nur tut, wenn er sich Sorgen macht oder sturzbetrunken ist – für Letzteres spricht er eindeutig zu verständlich.
„Ach, Mika. Was soll ich sagen?“ Wäre es jemand anderes, gäbe ich mir Mühe, mich tapfer für die Anteilnahme zu bedanken und meinem Gegenüber ein wohlwollendes Nicken zu schenken. Bloß ist es Mika, mein bester Freund, also bin ich aufrichtig: „Beschissen. Total beschissen, Mika. Meine Mama ist …“ Weiter komme ich nicht, das Schluchzen bleibt mir in der Kehle stecken und bevor ich losheule, werde ich fest umarmt.

„Das war wieder toll.“ Anton und Kathrin, die wenige Schritte vor uns herwanken, palavern heiter miteinander. Mit einer ungelenken Gebärde bedeutet Anton, er wolle unsere Jacken abholen und zieht seine Freundin am Handgelenk mit – mir schwant, es geht ihm darum, sie als Stütze verwenden zu können. „Wartet ruhig.“
Kaum tauchen die Turteltäubchen in die Maße vor der Garderobe ab, erkundigt sich Mika: „Möchtest du heute bei mir schlafen?“ Ohne Zögern nehme ich sein Angebot an. Es graut mir davor, in das leere Haus zurückzukehren, dorthin, wo alles nach Mama roch.
„Danke“, flüstere ich gerade, als das Unfassbare geschieht. Kathrin hechtet scheinbar, von Anton an den Füßen gepackt, längs über den Tresen der Garderobe, reißt dabei einige Kleidungsstücke mit sich und ergreift die Garderobendame am Kragen. „Was zum …“, stammele ich verdattert und eile zu den beiden. Dort angekommen, bugsiere ich Anton zur Seite, wo Mika ihn festhält und zerre anschließend meine Freundin von der Theke. Ich will sie anschreien, was in sie gefahren ist, da entdecke ich den beschwichtigenden Ausdruck der Club-Angestellten.
„Sie ist gefallen“, klärt sie mich hektisch fuchtelnd auf. Sie muss die Verwirrung aus meiner ungläubigen Miene ablesen können, denn sie fügt sofort hinzu: „Sie wollte zu mir klettern, ist ausgerutscht und … Tja, alles halb so schlimm, sie hat wohl ein bisschen zu viel getrunken.“ Just als das freundliche Mädchen ihren Satz beendet, kotzt Kathrin auf Antons Schuhe. Um uns herum wird alles still, außer dem gedämpften Bass aus dem Partyraum des „The Clue“, hört man keinen Laut.
„Oh“, nuschelt Kathrin erstaunt. „Das sind nicht meine Schuhe.“ Keineswegs so wie ich mir das gedacht habe, aber endlich, ja, endlich ist es soweit. Etwas dermaßen absurd Lustiges ist passiert, dass ich in schallendes Lachen ausbreche.

Autorin: Rahel
Setting: Nachtclub „The Clue“
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