Weihnachts-Special | Die dunklen Machenschaften des Mr. Spekulatius

„Guten Tag, Mr. Spekulatius, was darf es denn heute sein?“ Und da stand sie wieder, so wie am Tag zuvor und am Tag davor und vermutlich wird sie auch noch morgen und übermorgen und in zwanzig Jahren hier stehen. Versteht mich nicht falsch, ich mochte die Frau, deren Namen ich schon tausendmal gehört habe und mir doch nicht merken kann, weil er mir in etwa so wichtig ist, wie die Lage im Libanon, im Prinzip wirklich sehr gerne. Oder besser gesagt, ich mochte es, sie wie die vielen anderen Konstanten in meinem Leben als allmorgendlichen Orientierungspunkt zu benutzen. Aber, und dieses eine „aber“ kann ich nicht genug betonen, die gute Dame war dermaßen unterbelichtet, dass man meinen könnte, irgendein verrückter Professor aus einem drittklassigen Horrorroman für sterbensunglückliche, egomanische Teenager hätte an ihr eine Lobotomie durchgeführt.
„Guten Tag auch an Sie, ich wollte die Torte abholen, die ich …“
„Aaaah“, fiel sie mir ins Wort und versuchte sich an einem wissenden Gesichtsausdruck, der vielversprechend unter ihrem Haarnetz hervorgekrochen kam, es aber leider nicht bis über ihre Stirn hinaus schaffte und dann auf ihren Augen als affenartiges Starren verendete. „Natürlich, ich hole sie Ihnen gleich.“ Wie ein antikes Schlachtschiff, das nur knapp an einer Sandbank vorbeischrammt, drehte sie sich um und verschwand durch die Tür zur Bäckerstube.
Je länger ich warten musste, desto stärker wurde der Drang in mir, jedes einzelne meiner Schamhaare vom Körper zu pflücken, um mich von der ekelhaft fröhlichen Musik abzulenken, die zuverlässig zur Weihnachtszeit aus jedem Radio plärrte. Manchmal fragte ich mich, ob die Verantwortlichen für das Musikprogramm in Radiostationen damit bedroht wurden, dass man sie mit den vom Sender bezahlten Croissants so lange anal missbrauchen würde, bis die winzigen Krümel zu monsterhaften Fisteln mutierten, wenn sie sich weigerten, die Zuhörer mit diesem scheußlichen Gedudel zu foltern. Aber ich schweife ab.
„So, Mr. Spekulatius, da ist sie.“ Die Frau, die von meiner Gedankenstimme nur „Dumbo das Dummtier“ genannt wurde, wuchtete einen lächerlich großen Karton auf die Theke und schmunzelte mich stolz an, nachdem sie den Deckel gehoben hatte. Leute, vergesst den Nobelpreis, hier haben wir eine wahre Heldin!
„Oh, die sieht aber toll aus“, sagte ich bewundernd, während ich auf die Maßen aus Fett und Zucker starrte, die mich an Onkel Karl denken ließ, dessen Arterien wahrscheinlich so verstopft waren wie eine öffentliche Toilette bei einem feierlichen Ausflug einer Cholera-Pflegestation. „Auf sie ist immer Verlass“, merkte ich mit einer Ernsthaftigkeit in meiner Stimme an, über deren Ursprung ich nur mutmaßen konnte und mein Herz hüpfte kurz aufgeregt, weil ich mir mein überzeugendes Schauspiel bloß mit einem geplatzten Aneurysma erklären konnte. Aber dann, zum Glück, schossen sofort wieder bissige Gedanken durch meinen Kopf und ich beruhigte mich wieder.

Ich hatte den Heimweg so sehr in die Länge gezogen, wie es nur menschenmöglich war, doch irgendwann hatte ich alle Seitengassen so oft abgefahren, als wäre ich ein fünfzigjähriger Sozialhilfeempfänger auf der Suche nach einer bezahlbaren Prosituierten, bei der man mit etwas Fantasie und einer Papiertüte auf dem Kopf den Brechreiz wenigstens halbwegs unterdrücken konnte. Es blieb mir keine andere Wahl, ich musste meinen Wagen parken und mich geschlagen geben.
„Cornelius!“, flötete meine Mutter durch den Hausflur des Mehrparteienhauses. Ihr freudiger Ausdruck vormochte mich nicht darüber hinwegzutäuschen, dass sie von der schieren Panik beherrscht wurde, ich würde heute Abend meinen Mund aufmachen.
„Hey Mum, schön dich zu sehen.“ Das stimmte zwar, aber noch schöner wäre es gewesen, wenn ich sie tatsächlich nur sehen und nicht hätte hören und riechen müssen. Aber nun gut, selbst ich verstand, dass die alte Dame es sich verdient hatte, all ihre Sprösslinge zweimal im Jahr mit trockenem Truthahn zu füttern, immerhin veranlasste sie das ausnahmsweise dazu, ihre versiffte Wohnung aufzuräumen, die normalerweise an den Boden eines Pornokinos erinnerte. Der Fachmann sagte dazu „Klinische Depressionen“, doch jedem, dessen IQ höher war als das Saldo auf dem Kontoauszug meines jüngsten Bruders, war klar, dass unsere Mutter lediglich unter chronischer Faulheit litt, zumindest wenn es darum ging, ihren mit Leberflecken übersäten Arsch von der alten Couch zu heben. Praktischerweise war diese Art von Bewegung kein Kriterium für ihre Lieblingsbeschäftigung, denn sie konnte sich wunderbar auch auf ihrem klebrigen Sofakissen von ihrem Mann begatten lassen, der sie inzwischen nicht einmal mehr anschrie.
„Hast du an die Torte gedacht?“, wollte sie erfahren, wohl weil sich in der gigantischen Kiste, die ich im Flur beinahe fallengelassen hätte, ebenso gut eine Atombombe hätte befinden können. Man konnte über den Haufen Elend behaupten, was man wollte, aber meine Mutter kannte ihre Kinder noch besser als ihren prallgefüllten Medikamentenschrank und eine solche Vermutung wäre gar nicht so abwegig. Obwohl ich selbstverständlich nie mit einer Nuklearwaffe zum Weihnachtsessen auftauchen würde, hatte ich doch schon immer mehr ein Faible für biologische Kampfführung gehabt.
„Klar habe ich das. Soll ich ihn gleich in die Küche bringen?“ Ein Blick den Flur runter verriet mir, dass mein Vater mit seiner obligaten Bierdose in der Hand auf dem Lesesessel saß, wenn man das Ding denn so bezeichnen konnte, denn vermutlich hatte das Möbel noch nie ein Buch aus der Nähe gesehen. Onkel Karl saß auf dem zervögelten Sofa und fraß Spekulatius-Kekse, die in der Familie Spekulatius regelmäßig für dermaßen dümmliche Witze sorgten, dass man sich nur mit größtem Aufwand dazu bringen konnte, darüber zu gähnen.
„Das wäre toll, vielen Dank, Häschen.“ Jedes ihrer Kinder hatte denselben Kosenamen, jedes außer Frank dem Bärchen. Aber die Gute hatte in den letzten vierzig Jahren so viele Kinder geworfen, dass Sex mit ihr wohl so war, als würde man eine Salami in den Vorgarten werfen, die eintönige Namensvergabe diente also vermutlich dazu, Verwechslungen zu vertuschen.

Nach und nach waren alle eingetrudelt, hatten ihre Versandhausmäntel an den Garderobenständer gehängt und sich mit quietschfidelen roten Bäckchen um den ausziehbaren Esstisch versammelt. Melanie und Ralf hatten ihre besseren Hälften dabei, wobei man sagen musste, dass es keine Kunst war, die besser Hälfte zu sein, wenn die andere kaum in der Lage dazu war, gleichzeitig zu gehen und Kaugummi zu kauen. Kinder gab es natürlich auch zur Genüge, eines hässlicher als das andere und, der Tradition ihres inzestuösen Genpools folgend, strohdumm.
„Cornelius?“ Mist, dachte ich mir verärgert und überlegte fieberhaft, wie ich nun so tun könnte, als hätte ich zugehört, doch dann fiel mir ein, dass mich das alles ohnehin einen Dreck kümmerte und sagte: „Wie?“
Ingrid lachte passend zu ihrem Pferdegesicht wie ein wieherndes Ungetier, dem man schon vor Jahren den Gnadenschuss hätte geben müssen, um es von seinem syphilitischen Leid zu erlösen.
„Ich wollte wissen, ob du auch etwas Torte möchtest.“ Oh, siehe da, die zerfallende Märe konnte mehr als drei Worte hintereinander reihen, sie wurde immer besser darin, sich als menschliches Wesen auszugeben. Ich schüttelte den Kopf und grinste, wohlwissend, dass ein begabter Beobachter die Schadenfreude in meinen Augen entdecken könnte. Aber ja, zumindest davor brauchte ich hier keine Angst zu haben und grinste gleich noch ein wenig breiter. Jetzt war es gleich soweit, bald würde mein kleiner Streich blankes Entsetzen in die von jeglicher Intelligenz und Anmut verschonten Minen meiner verhassten Familie Einzug halten, bald würden sie an ihren eigenen, verfetteten Leibern zu spüren bekommen, wie es sich anfühlte, in ihre Gesellschaft gezwungen zu werden. Ja, bald …
Einer nach dem anderen in der trübsinnigen Gruppe griff nach den rostzerfressenen Kuchengabeln und plötzlich, so schien es mir, lief alles wie in Zeitlupe ab. Einer von Melanies Zöglingen, nebenbeigesagt wohl der einzige Grund, weshalb ihr Mann ihre Gegenwart noch immer tolerierte und ihren Kopf bloß sporadisch mit seiner schwieligen Faust malträtierte, spuckte die Serviette aus, auf der er eifrig herumgekaut hatte, als wäre sie aus Ritalin gewoben. Onkel Karl rieb sich die Wurstfinger, Ingrid, Martin und Frank gafften mit offenen Mündern gierig auf die Tortenstücke, die auf ihren Tellern nur darauf warteten, von ihren kariesbefallenen Zahnstumpen zermalmt zu werden und mein Vater, oh Wunder, stellte seine mit einer grell-roten Schleife verzierte Bierdose ab.
„Guten Appetit!“, bellte ich voller Erwartung und lehnte mich auf dem knarzigen Küchenstuhl nach vorne, damit ich den Moment meines Triumphs auskosten und in meine düsteren Gedanken brennen könnte. Eine Torte wollten sie, eine leckere Kirschtorte, von mir. Aber da hatte sich die Familie Spekulatius gewaltig verspekuliert!
„Igitt! Da ist ja Apfelschnaps drin!“

Autorin: Rahel
Titelvorgabe: Die dunklen Machenschaften des Mr. Spekulatius
Für die Titelvorgabe zu dieser Story bedanken wir uns bei Red Bug Books. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

6 Gedanken zu „Weihnachts-Special | Die dunklen Machenschaften des Mr. Spekulatius“

    1. Hallo werte Elfe,
      und vielen Dank für deine Worte :)
      Es freut mich, dass seine verschachtelt-verwurstelten Gedankengänge einigermassen entwirrbar waren ^^

      Mit lieben Grüssen und den besten Wünschen
      Rahel

    1. Hallo werter Herr von und zu Käfer.

      Jaja, der Gute hat in der Tat eine etwas vorverdaute Persönlichkeit – Aber ich dachte mir, die Feiertage würden ein wenig Schalk und Bösartigkeit aushalten können ;)

      Mit lieben Grüssen und verkäferten Grüssen
      Rahel

    1. Werter Metalhead,
      auf der Dunklen Seite gibt es (neben den obligatorischen Keksen) die ausdrückliche Erlaubnis, über Fieses und Mieses nach Herzenslust zu grinsen ;)

      Mit vom Headbangen und Moshpit-Hüpfen duseligen Grüssen
      Rahel

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