Guter Cop, Böser Cop

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Unsere Schritte hallten gespenstisch durch den leeren Gang, und das, obwohl ich wusste, dass die Realschule alles andere als verlassen war. Es war ein ganz normaler spätherbstlicher Vormittag in der Stadt, die unter einer dichten Nebeldecke lag und mein Wintermantel hatte mich kaum vor dem eiskalten Meerwind geschützt. Hier drinnen war es wenigstens warm, dachte ich, während mein Blick durch die alte Fensterfront mit den grünen Holzrahmen auf den schäbigen Hof wanderte. Ich konnte hören, dass Fernando den Schulleiter etwas fragte, bekam jedoch nicht wirklich mit, was es war, ich hatte gerade einen meiner Momente der Abwesenheit.
Jedes Mal, wenn ich wieder in einer Schule war, wurde mir bewusst, dass ich keine Familie hatte. Vielleicht etwas egoistisch, in Anbetracht des Anlasses, doch das war nun mal, was mir durch den Kopf ging. Eigentlich war ich nicht besonders traurig darüber und ich zweifelte stark daran, dass ich eine gute Mutter abgegeben hätte, doch jeder hatte das Recht auf einen schwachen Augenblick hier und da. Immerhin hatte mein Freundeskreis damit aufgehört, mich überzeugen zu wollen, selbst Kinder zu kriegen, als ich die Abteilung gewechselt hatte. Seitdem sagten sie nur, teils schaudernd und teils bewundernd, dass es wirklich einen besonderen Menschenschlag brauchte, um meinen Job zu machen. Ich wusste nicht, ob das stimmen mochte, habe mich nie sonderlich darum gekümmert. Wenn ich ehrlich sein sollte, gefiel mir meine Arbeit.
„Detective Reed?“, riss mich Fernando aus meinen Grübeleien. Mein Partner war der Neuling in der Einheit und er wandte sich immer an mich, wenn es um das weitere Vorgehen ging. „Hm?“, machte ich, für meine Verhältnisse ungewohnt unprofessionell, bevor ich mich eines Besseren besah und hinzufügte: „Ja, Detective Gomez?“ Rasch wandte ich meinen Blick peinlich berührt vom Schulleiter ab, denn auch wenn ich mich mit Fernando sonst kaum so formell unterhielt, wenn Zivilisten anwesend waren, gehörte es zum guten Ton.
„Es ist ein Mädchen, wollen Sie erst alleine mit ihr sprechen?“, fragte mein Partner und ich überlegte kurz, bevor ich nickte und hinzufügte: „Wenn sie mag, sonst warten wir, bis die Eltern da sind.“
Der Schulleiter deutete auf eine Tür und ich trat vorsichtig ein, denn ich wollte die Kleine nicht unnötig erschrecken. Ich konnte sie gleich entdecken, sie saß auf einem knallgelben Stuhl und sah mit großen Augen zu mir. Ich kniete mich behutsam vor sie hin und lächelte, bevor ich mit einer hoffentlich einfühlsam genug klingenden Stimme begann: „Hey Kleine, ich heiße Kate und bin eine Polizistin …“

„Heilige Scheiße, das war vielleicht heftig“, murmelte Fernando, als wir zurück in Richtung des Ausgangs schritten. Mein Blick fiel auf eine dieser Evolutions-Grafiken, bei der ein Kind dem Australopithecus eine Plastiktüte von Seven-Eleven in die Hand gekritzelt hatte und mich musste unwillkürlich ein Glucksen unterdrücken. Ich war zu abgestumpft, schoss es mir durch den Kopf, doch ich schüttelte den Gedanken ab und antwortete stattdessen: „Glaub mir, nach zehn Jahren auf dem Job kann ich dir versichern: Das ist noch nicht das Schlimmste.“
Fernando wandte sich um und sah in den leeren Flur zurück als er fragte: „Wie verdammt nochmal kann das nicht das Schlimmste sein?“
„Warts ab“, gab ich lakonisch und vermutlich etwas zu kühl zurück. „In ein paar Jahren bei uns wirst du alle Illusionen verloren haben. Außer die, dass Whisky glücklich und Donuts nicht fett machen.“
Er wandte sich mir zu, ohne langsamer zu werden. „Wie gehst du damit um?“
„Keine Ahnung“, entgegnete ich schulterzuckend. Offen gestanden fiel mir keine besonders hilfreiche Antwort ein, außer dass ich mich etwas zu oft ziemlich betrunken mit einer Wärmeflasche unter meine Bettdecke kuschelte und mit meiner ungeladenen Dienstwaffe herumspielte, bevor ich am nächsten Morgen im Spiegel meine Falten zählte. „Ich habe mal einen Kaligraphie-Kurs besucht.“
„Und?“, wollte Fernando wissen. „Hat es was gebracht?“
„Hm“, machte ich und wartete schon darauf, dass mich mein Partner bei den Schultern packen und durchschütteln würde, weil ich ständig nur vor mich hin brummte. Ich musste echt eine unerträgliche Gesellschaft sein. „Na ja, ich habe jetzt überall in meiner Wohnung Kaligraphien hängen.“
Ich hatte es tatsächlich geschafft, Fernando grinste leicht. Immerhin hatte er trotz der Geschichte, die er gerade mitangehört hatte, nicht seinen ganzen Humor verloren. „Und du?“, wollte ich wissen.
„Ich interessiere mich für Astronomie“, meinte er und fügte dann schon fast begeistert hinzu: „Wusstest du, dass gestern ein neuer Exoplanet entdeckt wurde?“
Nun war es an mir, amüsiert zu sein. „Okay, das ist nicht gerade eine typische Freizeitbeschäftigung für einen Cop.“
Als wir aus dem Schulgebäude traten, blies mir sofort der eiskalte Wind ins Gesicht und ich schlug den Mantelkragen hoch. „Okay, holen wir uns den Kerl“, meinte Fernando fast schon verbissen und kramte den Autoschlüssel aus seiner Jackentasche.

Wie in Trance ging ich die Stufen vom Gericht hinunter, einen Schritt nach dem anderen und ich achtete auf meine Füße, die ich mechanisch voreinander setzte statt auf die frische Frühlingsluft, die mir ums Gesicht wehte. Fernando schritt schweigend neben mir her, seine Laune schien nicht besser zu sein als meine. In diesem Moment war ich wirklich froh, dass ich ihn als Partner hatte, dass er es tatsächlich mehr als ein halbes Jahr ausgehalten hatte, mit mir zusammenzuarbeiten. Er war ruhig und auch wenn ich wusste, dass es in seinem Inneren nicht anders aussehen musste als bei mir, so fand ich es doch sehr hilfreich, einen halbwegs kühlen Kopf neben mir zu haben.
Es dauerte nicht lange, bis wir bei unserem Dienstwagen anlangten, den wir einen halben Block entfernt geparkt hatten. Stillschweigend stiegen wir ein, doch sobald ich die Tür zugeschlagen und mich angeschnallt hatte, konnte ich nicht anders. Ich schlug mit meinen geballten Fäusten aufs Lenkrad und schrie so laut ich konnte: „Fuck!“
Fernando war sichtlich zusammengefahren, doch immerhin kannte er mich mittlerweile gut genug, als dass er eigentlich mit meinem Wutausbruch hätte rechnen müssen. Er schwieg kurz, bevor er vorsichtig fragte: „Alles okay, Kate?“
„Nein“, gab ich gereizt zurück, „nichts ist okay!“ Ich nahm einen tiefen Atemzug, um mich zu beruhigen, die einzige Technik, die zumindest manchmal etwas brachte. Rasch drehte ich den Zündschlüssel und fuhr mit dem Wagen aus der Parklücke, ich musste mich auf etwas konzentrieren, auch wenn es nur die Fahrt durch den dichten Verkehr war. „Der Scheißkerl hat sich an über zehn Kindern vergangen und ist wegen einem Formfehler freigekommen – was ist das für ein Rechtssystem?“, schnaubte ich und zündete mir, entgegen aller Vorschriften und ohne Rücksicht auf meinen Partner eine Kippe an. „Jeder in diesem Gerichtssaal hat gewusst, dass er schuldig ist, sogar sein Verteidiger. Und er kriegt einen Serientäter wegen einem verfluchten Formfehler frei?“
Fernando gab nicht auf und versuchte mit einer möglichst überzeugenden Stimme auf mich einzureden. „Das ist aber sicher nicht das erste Desaster vor Gericht, das du in deiner Zeit bei der Sondereinheit erlebt hast.“
„Ja, aber noch nie in dieser Grössenordnung, der Kerl kann sogar weiter an der Schule arbeiten! Ich muss nachher unbedingt mit dem Schulleiter sprechen.“

Ich brachte den Wagen abrupt zum Stehen und stieg aus. Das Gebäude der Realschule wirkte in der Abenddämmerung noch trister, als ich es von dem nebligen Herbsttag des letzten Jahres in Erinnerung hatte, an der dieser elende Fall seinen Anfang genommen hatte. Meine Gedanken drehten sich seit heute Nachmittag im Kreis, dies war einer der Fälle, in denen das Rechtssystem nicht scheitern konnte, nicht scheitern durfte.
So viele Menschen waren da draußen, so viele Dinge geschahen, so viel Schmutz in den Straßen … Egal, was ich tat, es war wie mit der Hydra: Man konnte einen Kopf anschlagen, zehn neue wuchsen nach. Sogar Kräuterheilkunde war noch wirksamer als das, was ich tat.
Alles, was noch in meiner Macht stand, war, den Schulleiter zu überzeugen, seinen pädophilen Lehrer nicht wieder einzustellen, doch da er nicht mehr für seine Verbrechen angeklagt werden konnte, wäre selbst das schwierig, immerhin hatte er angedroht, Zivilklage gegen die Schule einzureichen.
Gedankenverloren ging ich durch den langen, nach Schulschluss ausgestorbenen Gang und blieb vor der Tür zum Lehrerzimmer stehen. Langsam, ganz so als würde diesmal alles sehr endgültig sein und meine Verantwortung viel zu viel wiegen, griff ich nach dem Türknauf und stieß die alte Holztür auf. Es dauerte einen Augenblick, bevor ich begriff, dass nicht der Schulleiter, sondern mein Täter in dem Raum war.

„Zehn-dreizehn, zehn-dreizehn, Officer braucht Verstärkung!“, rief ich aufgebracht in mein Funkgerät. Schwer atmend zählte ich auf fünf, bevor ich hinzufügte: „Schüsse abgefeuert. Ich brauche einen Krankenwagen an meiner Position.“
Nein, es war zu spät dafür und das wusste ich, ich war eine zu gute Schützin. Ich ging neben dem leblosen Körper in die Hocke und musterte sein Gesicht, das von einem kreisrunden Loch auf seiner Stirn verunstaltet war. Ich hatte es nicht geplant, hatte es nicht vorgehabt, es war einfach so geschehen und jetzt musste ich mir etwas einfallen lassen, bevor jemand in den Raum trat. Vorsichtig hob ich mit meinem Taschentuch den Brieföffner vom Schreibtisch und legte ihn dem Toten in die Hand, die ich kurz zudrückte – das reichte. Ich musste so wenig wie möglich vom wahren Geschehen abweichen, forensische Beweise logen nicht. Doch es wäre genug, dass ich entlastet werden müsste.
Jeder würde wissen, oder zu wissen glauben, was ich getan hatte und trotzdem war ich mir sicher, dass ich schon bald wieder an meinem Schreibtisch sitzen könnte. Mit den skeptischen Blicken konnte ich leben, auch mit den Kollegen, die mir in einer düsteren Ecke des Präsidiums zuflüstern würden, dass ich das Richtige getan habe. Natürlich werde ich antworten: „Was getan? Das war eine saubere Schießerei.“ Recht und Ordnung basierten nicht darauf, was wirklich geschehen war, sondern darauf, wer die besten Tricks kannte.

Autorin: Sarah
Setting: Realschule
Clues: Wärmeflasche, Kaligraphie, Exoplanet, Kräuterheilkunde, Australopithecus
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2 Gedanken zu „Guter Cop, Böser Cop“

    1. Hallo Ann-Bettina,
      Vielen Dank :) Die ganzen Polizei-Dramas gehen mir ziemlich leicht von der Hand (was noch nicht heisst, dass sie auch alle gut werden). Dieses scheint aber tatsächlich eines von den besseren zu sein, wenn du regelrecht mitfühlen konntest :)

      Liebe Grüsse,
      Sarah

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