Nummer Einundsechzig

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Wir alle wissen, wie Geschichten enden, bei denen ein verwahrloster Kerl mit Reiserucksack und einem Messer in der Hand auf ein Grundstück einbricht: Früher oder später gibt es keine Fortsetzung, außer im Stil einer „Law & Order“ oder Real-Crime-Doku. Nun, meine Story endet nicht ganz so, wie ihr erwarten würdet. Obwohl icheingebrochen bin, habe ich weder den Mann gefoltert noch die Frau vergewaltigt, denn ich bin wohl der netteste Einbrecher des Landes: Ich habe lediglich im Gartenhäuschen übernachtet und mit meinem Messer einen Apfel geschält (wieso sollte ich sonst ein Messer zur Hand nehmen?) und wurde nicht einmal von einem übereifrigen Cop erschossen. Wie auch immer, beginnen wir von vorn …

Erschöpft breitete Thomas seinen Schlafsack auf dem hölzernen Boden aus, welcher in einem teuren Anwesen im schicksten Vorort der Stadt lag. Seit Jahren lebte der Streuner ohne Zuhause und hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, wenn er gerade nicht per Autostopp durchs Land tingelte. Das Schweizer Armeemesser, ein Werbegeschenk eines früheren Arbeitgebers, mit dem er seinen Nachtmahl-Apfel geschält hatte, steckte er weg, ehe er seine abgetragenen, robusten Schuhe auszog und in den Schlafsack schlüpfte. Der Herbstwind rüttelte an dem kleinen Gartenhäuschen und der Streuner hätte alles gegeben, um sich an ein warmes Heizungsrohr zu kuscheln, aber wenigstens war er hier drinnen von der kalten Biese geschützt und höchstwahrscheinlich ebenso vor den Blicken der Villenbewohner, auf deren Grundstück er es sich unerlaubterweise gemütlich gemacht hatte – wer spazierte bei dem Wetter schon durch das dünne Wäldchen bis hin zur Außenmauer? Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen freute sich Thomas, das perfekte Nachtlager gefunden zu haben und döste dann ein.

Der Mitdreißiger hatte keine Ahnung, wieso er aufgewacht war. Verwirrt schüttelte er den Kopf und sah auf seine Uhr, nur um sich zu erinnern: Die Batterien waren seit mehreren Wochen tot. Mittlerweile prasselten schwere Regentropfen auf das Dach und vor dem Fenster herrschte komplette Dunkelheit. Es musste mitten in der Nacht sein. Entnervt grunzend erhob sich Thomas und trat ans Fenster, um sicherzugehen, dass ihn tatsächlich das Gewitter und kein vorbeikommender Bewohner aufgeweckt hatte. Auf einen Aufenthalt in der nächstbesten Arrestzelle hatte er nicht die geringste Lust. Durch die Finsternis konnte er kaum etwas erkennen und so entschied er sich, zu weiterzuschlafen. Was er auch gehört hatte, es war offenbar kein Mensch gewesen. Vielleicht ein Käuzchen, vielleicht der Sturm, oder … Der Schlag traf Thomas unvorbereitet und hart auf den Hinterkopf, er verlor sofort das Bewusstsein.

Eine alte Öfunzel baumelte von der Decke und tauchte alles in ein gelblich schwaches Licht und der Erwachende brauchte lange, um sich zurechtzufinden. Schleppend kehrte seine Erinnerung zurück, Fitzelchen für Fitzelchen. Erst fiel ihm ein, wie er es sich im Gartenhäuschen eines fremden Anwesens gemütlich gemacht hatte, danach, wie er ohnmächtig geworden war. „Was zur Hölle?“, lallte er, gegen pochende Schmerzen ankämpfend, die seinen Schädel zu sprengen drohten, und versuchte, sich aus der halb sitzenden, an die Wand gelehnten Position aufzurichten. Jedoch hielt ihn eine unsichtbare Kraft fest. Selbst seine Hände verharrten unbeweglich, sie waren hinter dem Rücken arretiert – gefesselt?
„Hallo?“ Thomas‘ Stimme klang rau, so als müsste er das Sprechen neu lernen. „Ist da jemand?“
„Hallo“, erwiderte der Mann fröhlich, der nun in sein Sichtfeld schritt, einen Stuhl heranzog und sich vor dem Gefangenen niederließ. Er hatte in etwa Thomas‘ Alter und Statur, war ebenfalls ein Weißer. „Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen.“
„Was soll die Scheiße?“, fuhr der Herumtreiber ihn an. „Rufen Sie die Polizei, wenn Sie wollen, Sie haben trotzdem kein gottverdammtes Recht, mich hier festzuhalten!“
Sogleich wurde der Ausdruck des anderen ernst. „Ich bin nicht der Hausbesitzer – ich habe eine schlechte und eine gute Nachricht für dich.“ Er pausierte dramatische, mit viel zu viel Pathos, bevor er fortfuhr: „Die schlechte: Du hast dein Leben verwirkt, bist ihm mit deiner Lebensführung nicht gerecht geworden und wirst sterben. Die gute: Es ist erst in ein paar Monaten so weit, nämlich dann, wenn du deine Fehler wiedergutgemacht hast und ein richtig wertvolles Mitglied der Gesellschaft geworden bist. Eine Galgenfrist, sozusagen.“
Thomas‘ Augen weiteten sich, in seinen Eingeweiden breitete sich Panik aus. „Sind Sie wahnsinnig?“
„Ich persönlich bin nicht der Ansicht, wenngleich viele Leute das wohl behaupten“, entgegnete der Fremde schulterzuckend. „Was wissen die schon? Die glauben ja auch, ich ließe den Körper am Leben, als ob es dafür einen Grund gäbe.“ Er schnaubte verächtlich. „Wieso sollte ich? Am Ende habe ich alles, was ich brauche.“
„Was soll jetzt das wieder heißen, du Scheiß-Psycho?!“, wetterte Thomas ängstlich los. „Lass mich frei!“
„Selbstverständlich, das werde ich doch.“ Der Fremde lächelte, während er eine rostige Säge aus einer Sporttasche kramte. „Ich befreie dein Leben von der größten Last, unter der es leiden kann: Dir. Und du, tja, wusstest du, ein Großteil der Asche eines kremierten Menschen passt in einen Staubsaugersack. Wusstest du übrigens, dass Cops Haushaltsgeräte nicht durchsuchen?“
Ohne sich weiter um die wilden Schreie des Gefangenen zu kümmern, setzte der Killer die Säge an dessen Knie an. „Auch wenn du einem höheren Zweck geopfert wirst, kann ich dabei etwas Spaß haben.“ Er machte eine Armbewegung und riss die Säge einmal hin und zurück, dumpfe Zacken fraßen sich in die leicht gerötete Haut des Knies, begleitet von gepeinigtem Winseln des Todgeweihten.

Jetzt, liebe Freunde, fragt ihr euch sicher, wie zum Teufel ich euch die Geschichte meines Todes erzählen kann, schließlich seid ihr keine Engelchen, Dämonen oder sonst irgendein mythisches Wesen, sondern echte Menschen. Zugegeben, ich habe etwas künstlerische Freiheit walten lassen, denn ich bin der neue, ja, der bessere Thomas. All die Dinge, welche dieser Versager in seinem Leben hat schleifen lassen, werde ich richtig machen, habe ich besser getan – als hätte ich seine Haut abgezogen und mich darin gekleidet, übernahm ich den Namen, die Identität sowie jeden äußerlichen Aspekt dieses widerlichen Kerls. Nach wenigen Monaten bin ich ein Angestellter des mittleren Kaders (nun gut, nur dank des einen oder anderen Betrugs), der Designeranzüge trägt und regelmäßig ins Nagelstudio geht. Ich denke, ihr werdet mir zustimmen, dass ich der einzige bin, der etwas aus Thomas‘ Leben gemacht, sich ihm würdig erwiesen hat. Bis zur nächsten Beförderung, zumindest, dann ist Thomas‘ Ehre wiederhergestellt und ich kann weiterziehen, jemand anderes werden.

P.S.: Ich wünschte, ich könnte meine Lebensgeschichte veröffentlichen, aber ich glaube, ihr habt Verständnis, dass ich meine Tagebucheinträge vorerst privat halten muss, es könnte rechtliche Komplikationen geben. Sollte ich je gefasst werden, sieht die Sache natürlich ganz anders aus – bis dahin suche ich mir weiterhin Leute, deren Leben es verdient hat, richtig gelebt zu werden. Im Moment habe ich ein Auge auf den Obdachlosen an der Straßenkreuzung zwei Blocks westlich vom Büro geworfen, vermutlich wird er meine Nummer Zweiundsechzig.

Autorin: Sarah
Setting: Gartenhäuschen
Clues: Fortsetzung, Heizungsrohr, Werbegeschenk, Nagelstudio, Staubsaugersack
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