Gaststory | Stilles Fest

Sie stand ganz still an einem Fenster des Salons. Feiner Schnee fiel dicht, bilderbuchgleich, in der weiten Landschaft vor dem Haus. Ihre Arme um ihren schlanken Körper geschlungen, stand sie ganz still, den Kopf leicht erhoben. Er war die Treppe heruntergekommen, noch voller Vorfreude auf die kommenden ruhigen Tage. Ihre Stille hielt ihn auf, nahm ihm den Schwung. Wie sie so dastand, die Augen nach oben gerichtet, die Arme schützend um sich gelegt, wirkte sie nachdenklich. Gefangen in Fragen, deren Antworten vielleicht in dem unschuldig fallenden Schnee zu finden wären.
Er klopfte sacht, fast übervorsichtig an die offen stehende Tür des Salons. Sie gab keine Antwort, war immer noch in Fragen gebunden, die scheinbar wie der Schnee durch ihre Gedanken schwebten. Charles trat ein, ruhig und achtsam. Wie er ihre Stimmung erkannte, hätte er nicht sagen vermocht. Zu groß war die Distanz zwischen dem festlich geschmückten Salon und seiner Frau. Es war kein Wissen, das oft genug nur Glaube war. Es war Fühlen. So stark, dass sich sein Herz verkrampfte.
„Schlechte Nachrichten?“
Ihr Kummer hatte glitzernd feuchte Spuren auf ihren Wangen hinterlassen. Sie wandte sich ihm zu und er machte zwei weitere langsame Schritte. Vicky hielt ihm die Papiere hin und eine neue Welle Traurigkeit rann ihr Gesicht entlang.
„Sie kommen nicht. Beide haben abgesagt.“
Er nahm die Papiere. Zwei Telegrammformulare, aus zwei Himmelsrichtungen abgeschickt und offenbar immer noch aus zwei unversöhnlichen Universen. Charles Norcott setzte sich an den Tisch, an dem sie alle hatten essen sollen und legte die Telegramme vor sich. „Ralf schreibt, er bekommt keinen Flug. Und Lucien … Angegriffene Gesundheit.“ Es brauchte nicht den Blick seiner Frau. Er spürte selbst, wie schal die Gründe klangen. Eine ganze Weile standen sie so da, spürten, mitten im weihnachtlich geschmückten Salon, mit seinem prasselnden Kamin, die Kälte der Telegramme.
„Es ist wohl noch zu früh.“ Er strich sich seiner typischen Geste über das Haar. „Die Wunden noch zu frisch. Nur vier Jahre nach …“
„Ach Charles“, fiel sie ihm ins Wort. „Wir haben unsere Freunde eingeladen! Keine Diplomaten. Zählt das gar nicht? Unsere Freundschaft?“ Sie trat näher an den Tisch, so dass er sie an sich ziehen und ihre Hüfte umarmen konnte. Zärtlich strich sie ihm über den Kopf und beide blieb still. Sie versanken in Erinnerungen an einen Krieg, der keine Freundschaften zugelassen hatte. Diesem Krieg, dem es nicht genug gewesen war, Millionen von Menschen zu verschlingen, sondern sie vergiftete mit Hass und Verbitterung. Dem Hass der Vergangenheit, der die Verbitterung der Zukunft gebar. In einem scheinbar unversöhnlichen Kreislauf.
Sie löste sich sanft aus der Umarmung ihres Mannes. „Genug Tränen für heute. Wir erwarten zu Weihnachten noch andere Gäste. Vielleicht schaffen wir es nächstes Jahr. 1950 ist ein neues Jahrzehnt. Vielleicht …“ Sie blickte einen Moment wieder versonnen auf die fallenden Schneeflocken den Fenstern. So als hoffte und wünschte sie, der fallende, reine Schnee möge all den Hass einfach zudecken.

Die stille Nachdenklichkeit, die den weiteren Nachmittag begleitet hatte, schwand mit dem Licht des Tages. Und die Nacht, die mehr ist als die Zeit bis zum Morgen, hre eigenen Gesetze hat, ahm einen Teil der Traurigkeit mit sich. In den folgenden zwei Tagen bis zur Weihnachtsfeier trafen die anderen Gäste ein. Eine für Außenstehende vielleicht skurril wirkende Mischung, die Karikatur einer feinen Weihnachtsgesellschaft. Ein Galerist saß neben der Leiterin eines Mastbetriebes, ein Systemadministrator – von dem niemand wusste was er tat – neben einem Fluglehrer. Alle waren sie allein gekommen. Menschen, denen der Krieg den Partner oder die Fähigkeit zu lieben genommen hatte. Menschen, die sich nach Stille und Abgeschiedenheit sehnten. Der alte Landsitz aus der Tudor-Periode halb Wohnhaus, halb Wehrplatz, wirkte robust genug, alle falsche Weihnachtsseligkeit auszuschließen. Die atemberaubende Landschaft hier an der Grenze zwischen Wales und England, am Lauf des Severn und im Schatten der Malvern Hills gab Halt. Sie versicherte den Betrachter, dass Schönheit Bestand haben konnte, unbeeindruckt von ein paar Menschengenerationen. Hier, auf dem ältesten Fels Großbritanniens, schien sich die Zeit auf magische Weise in Kurven und Kreise zu legen und vermeintlich endloses Nachdenken zu erlauben. Doch natürlich brach auch in dieser zeitlosen Ruhe der Weihnachtstag an. Es war Sonntag, der 25. Dezember 1949. Nach ausgiebigen Spaziergängen, die von nur wenigen Gesprächen, dafür umso mehr gemeinsamen Erleben und Staunen bestimmt wurden, brach der Abend herein.
Vicky und Charles hatten bis zum Nachmittag der Köchin assistiert. Nun fuhr er die ältere Dame nach Hause, zur Weihnachtsfeier ihrer eigenen Familie. Vicky kleidete sich, wie die anderen Gäste, zum traditionellen Weihnachtsessen um. Sie steckte gerade in ihrem neuen Abendkostüm fest, genauer gesagt, im Reisverschluss des cremefarbenen Seidenkleides als die elektrische Türglocke schrillte. Sie fluchte. Über die viel zu laute Klingel, die ihr Mann partout hatte einbauen wollen und über den festsitzenden Reißverschluss. Dieser hinderte sie daran, sowohl das Kleid zu schließen, als auch es wieder zu öffnen und etwas anderes anzuziehen. „Verdammt, verdammt …“ Sie sah auf den Wecker, der auf ihrem Nachttisch stand. Das konnte unmöglich Charles sein. „Wer zum Teufel …?“ Ihr Fluchen wurde von einem weiteren Schrillen der Glocke unterbrochen. Und natürlich fühlte sich keiner der anderen Gäste, die höchstwahrscheinlich ebenfalls alle halb in Kleidern und Smoking steckten, bemüßigt, die verdammte Tür zu öffnen. Beim dritten Klingeln ging Vicky los, schnappte noch ihre Hausschuhe und lief den Flur entlang, die Treppe hinunter. Sie fluchte wieder. Welcher Idiot hatte denn dieses riesige Haus ausgesucht, in dem jeder Gang einem Ausdauerlauf gleichkam. Mit dem Gedanken, dass sie dies selbst gewesen war und dem vierten Klingeln erreichte sie die Tür, riss sie auf und war sprachlos. Lucien Grignard, Lieutenant-Colonel der Gendarmerie Nationale, stand in mit seinem typisch spitzbübischen Lächeln vor der Tür, gestützt, auf seinen Stock.
„Entschuldige bitte die aufdringliche Klingelei, Vicky. Der Taxifahrer wollte verständlicherweise nicht warten und es wird kühl.“ Er griff nach ihrer Hand und beugte sich formvollendet darüber. „Darf ich sagen, dass du, wie immer, phantastisch aussiehst? Wenngleich ungewöhnlich …“
Sie war immer noch sprachlos.
„Darf ich, trotz meiner Absage und des kurzfristigen Auftritts, eintreten?“ Sein fragender Blick löste für einen Moment ihre Verwirrung, ihre Sprach- und Bewegungslosigkeit und sie umarmte den Freund nur von einem „Ach Lucien …“ begleitet. Er ließ es gesehen und gab ihr einen Moment, bevor er sich sanft von ihr löste. „Gehen wir doch hinein, meine Liebe, du bist wirklich nicht winterlich genug gekleidet.“
Vicky schluckte die erste Antwort, die ihr in den Sinn kam herunter. „Lucien, mein lieber, lieber, unerwarteter Lucien, du wirst mir bitte mit diesem Reißverschluss helfen, damit ich nicht länger wie eine Idiotin dastehe und du darfst natürlich bleiben.“
Er erledigte das Missgeschick mit zu erwartender französischer Eleganz und entledigte sich dann des dicken Mantels und der anderen winterlichen Schutzkleidung.
„Aber was hat sich umgestimmt? Geht es dir besser? Fühlst du dich wieder wohl?“ Nachdem die erste Überraschung verflogen war, schoss Vicky Norcott einige der Fragen ab, die durch ihren Kopf strudelten. Die Antwort des Franzosen ging im neuerlichen Schellen der überlauten Türglocke unter.
„Das wird Charles sein, er hat nur die Köchin nach Haus gebracht“, sprudelte Vicky hervor und riss fast die Tür auf. Der Satz: „Schau einmal, wer gekommen ist!“ blieb ihr allerdings in der Kehle stecken.
„Guten Abend, Vicky.“ Der Mann in der Tür verbeugte sich in militärischer Manier und wurde schon im selben Moment ins Innere des Hauses geschoben. Charles Norcott, der hinter ihm stand, hatte ein Lächeln auf den Lippen, genoss die Überraschung seiner Frau. Allerdings nur für einen Moment. Denn nun bemerkte er seinerseits den anderen Besucher.
„Lucien! Wann …? Wie bist du …?“ Die Fragen Norcotts blieben in der Stille stecken, die nun zwischen den beiden Besuchern entstand, welche beinahe wie ein Eishauch der Winternacht zu spüren war und alle frösteln ließ. Beide Männer musterten sich, sahen sich zum ersten Mal seit fünf Jahren Leise schloss Norcott die Haustür, bedacht darauf, diesen Moment des Wiedertreffens nicht zu stören. Ralf Breckow, der ehemalige Hauptmann der Wehrmacht, fand als erster die Sprache wieder.
„Guten Abend, Lucien.“ sagte er in einem leisen Französisch. Und wieder trat Stille ein.
Die vier Menschen, die sich hier im Flureines Hauses in Herefordshire schweigend gegenüber standen, hatten sich zuletzt 1944 gesehen. In einer Situation, die alles von ihnen verlangt hatte und alle vier hätte zerbrechen können.
„Guten Abend, mein Freund.“ Auch der Franzose hatte leise und langsam gesprochen. Und er hatte deutsch gesprochen.
„Bitte …“ Vicky Norcott streckte ihre Hände nach den beiden Männern aus und zog sie mit sanfter Gewalt in den Salon. Als die Stille dort, schon nach wenigen Schritten, die Oberhand zu gewinnen schien, drehte sich Grignard dem Deutschen zu. Er stützte sich auf seinen Stock.
„Ich hatte so viel Hass in mir.“ Die Worte bereiteten ihm Mühe und die drei anderen schwiegen, spürten von neuem den Eishauch. Der Franzose atmete tief ein, setzte neu an: „Ich habe es gehasst. Dich hassen zu müssen. Ich habe gehasst, was der Krieg versuchte, aus uns zu machen.“ Er sog mit einem leisen Pfeifen die Luft ein. „Monster, die für nichts anderes mehr leben können, als blinde Vergeltung.“
Der Deutsche rang mit den Worten, stützte sich selbst an einer Stuhllehne. „Dann lass es uns beenden. Jetzt und hier. Lass es wenigstens uns beenden. Bitte.“
Wieder war es der Franzose, der den ersten Schritt tat. Noch einen langsamen Schritt, endlich umfasste er den anderen an der Schulter. Sanft, fast zärtlich. So standen sie dort, im Salon eines Hauses, im Schatten der Malvern Hills, die selbst so viele Kriege gesehen hatten, und alle spürten, wie Wunden begannen, sich zu schließen. In der Christnacht des Jahres 1949.

Autor: Jürgen Albers
Setting: Salon
Clues: Karikatur, Verwirrung, Mastbetrieb, Systemadministrator, Kurve
Mehr über Jürgen Albers sowie alle Links zu seinen Seiten findet ihr auf seiner Gastautorenseite. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Clue Writing