Im Schädel des Hauses

Thomas kroch hektisch über den Teppich, drängte sich in die Nische hinter dem Dachbalken, wo er sich als Kind oft versteckt hatte, und zog die Knie unters Kinn. Es fiel ihm schwer sich zu kontrollieren, er schnaufte gepresst, kalter Schweiß rann über seine Stirn, verfing sich in seinen Brauen. Die Panik hatte von ihm Besitz ergriffen, ihm war, als müsste er ertrinken. Was er eben erlebt hatte, spottete jeder Beschreibung. Er war in einen dieser Alpträume geraten, in denen sich seine Schreie in einen Strick verwandelten, seine Kehle zuschnüren. Doch er schlief nicht, unmöglich könnte er sich diesen Terror einbilden. Was da in die Wohnung eingedrungen war, das Ding, das sich wie eine Decke aus purer Schwärze über seine Mutter geworfen und sie verschlungen hatte, konnte niemals in seinem Geist existieren. Unmenschliches ging vor sich, machte seinem Verstand einen Strich durch die Rechnung. Stoßartig quetschte er die Luft aus seinen Lungen, hielt inne und horchte. In den Heizungsrohren gurgelte es, eine Furnierplatte knackte leise, irgendwo klickte ein Gerät – im Estrich hörte man das Haus atmen. Zitternd hielt er sich die Hände vors Gesicht, unterdrückte ein Schluchzen.
Vor einem halben Jahr hatten sie den Dachboden geräumt, Großvaters Sachen gespendet und jetzt lebten sie ihr Leben ohne ihn weiter. Einfach so. An seinem linken Zeigefinger klebte verkrusteter Mostrich vom Abendessen, weder Mama noch er hatten Lust zum Kochen gehabt, also gab es Brot, Aufstrich und Fleischwurst. Ihre letzte Mahlzeit, die letzten gemeinsam verbrachten Momente, bevor das Unaussprechliche geschehen war, und er hatte sie mit einer Kabbelei um das Fernsehprogramm verschwendet. Nicht einmal verabschieden konnte er sich, ein weiterer Abstrich, den ihm das Schicksal bescherte.
Er kratzte sich mit den kurzgeknabberten Fingernägeln über die Augenlider und schluckte, bemühte sich die Angst, die durch seinen Körper raste, zu bekämpfen. Thomas hatte keine Ahnung, ob er hier oben in Sicherheit war, ob es so etwas überhaupt noch gab, jemals wieder geben könnte. Die Biester waren aus dem Nichts aufgetaucht, hatten die Realität entzweigeschnitten und sie sich einverleibt.
Da polterten Schritte unter ihm, was auch immer es war, es schien zu humpeln. Er zuckte zusammen, drückte sich noch weiter in die Ecke hinein und schloss die Augen. Wenn es ihn fände, ihn holte, wollte er es nicht kommen sehen, viel lieber blind in den geifernden Schlund verschwinden, der seine Mutter in Fetzen gerissen hatte. Es gab keinen Ausweg, Thomas war im schmerzlich leeren Dachgeschoss eingesperrt, dem Spürsinn der Bestien ausgeliefert. Sämtliche Möbel, Kisten und Kinkerlitzchen waren abtransportiert worden und es blieb ihm nichts, um den Durchgang zu verbarrikadieren. Außer ihm trauerte niemand Opas Schätzen hinterher, zu schnell geriet der Held seiner Jugend in Vergessenheit.
Sein Herz setzte einen Schlag aus, dann einen zweiten, ehe es seinen rasenden Takt wiederaufnahm und ihm schwindlig wurde. Die Krankheit überrollte ihn, ihm wurde übel, seine Dämonen tanzten durch die Dunkelheit, sangen ihr Lied im Chor, und ein heftiger Stich bohrte sich in seine Schläfe. Verkrampft schlang er die Arme eng um seinen Körper, wippte sachte vor und zurück, als jemand seinen Namen rief. „Tom. Tom, bist du da oben?“ Es imitierte sie und er begann zu weinen. Die Monster wollten ihn glauben machen, sie wäre noch da, aber er erkannte den Unterschied, würde sich nicht einlullen lassen. „Thommy?“ Ein ekelhaftes Surren klang mit, ein unmenschliches Grollen übertönte die Erinnerung an seine Mutter. „Tom!“ Es hämmerte an die Wand unter der Stiege und verlangte: „Tom, komm sofort runter!“ Plötzlich sickerte eine zähflüssige Masse durch die Ritzen, schwappte zwischen den Holzbalken hindurch. Schwarzer Honig, der süßliche Geruch vereinnahmte seine Sinne. Er übergab sich, kauerte würgend im hintersten Winkel des Estrichs und klammerte sich an die wenigen Anhaltspunkte, die ihm versicherten, nicht in der bösen Fantasie eines fremden Gottes gefangen zu sein. „Tom, bitte rede mit mir“, klagten die Viecher, lockten ihn im mütterlichen Tonfall. „Bitte, Thommy. Bitte komm raus.“ Die gallertartige Substanz breitete sich über den Boden, die Wände aus, kletterte bis in den Dachgiebel, bloß ihn erreichte sie nicht, formte stattdessen einen Kreis um ihn herum, kesselte ihn auf dem winzigen Flecken der Erde ein, an den er geflüchtet war. „Thommy, ich …“ Mutters gestohlene Stimme brach, er hörte ein Krachen, ein wütendes Fauchen. „Thommy, bitte, ich flehe dich an, komm raus!“, bettelten die Teufel, schimpften ihn zugleich aus. „Thommy, ich weiß nicht, wie ich dir helfen kann!“ Er hielt sich die Ohren zu und begann ein Lied zu summen, versuchte die Worte zu dämpfen, sie aus seinen Gedanken zu stoßen. So wie einst Großvater, der Irre, vor dem sich alle fürchteten, den keiner vermisste. Seine Seuche war auf ihn übergesprungen, nun war er die lose Kugel, die im Schädel des Hauses herumrollte.

Autorin: Rahel
Setting: Estrich
Clues: Mostrich, Aufstrich, Abstrich, Strich, Stich
Für Setting und Clues zu dieser Story bedanken wir uns bei Henry W. Lamington. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Steady oder Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

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