Täglich grüßt der Schmetterling

„Die Eindimensionalität unserer Existenz hätte dir längst bewusst werden sollen, bereits bevor jemand Karten gemischt hat, deren einziger Zweck es ist, unser Schicksal zu bestimmen.“ Die Rote wirkte nicht besonders glücklich während ihrer Abhandlung, was jedoch den Grünen nicht davon abhielt, ihr sogleich zu widersprechen: „Wie kannst du so etwas sagen? Du siehst hier weit über die Oberfläche, die Kante der Pappmaché in den unerträglichen Abgrund am Rande des Wohnzimmertischs?“
„Und trotzdem ist unsere Existenz zweifelsfrei an diese eine Dimension gekoppelt, auf der sich alles abspielt, ein Pfad, nicht mehr.“
„Selbst mit dieser Prämisse hättest du zwei Dimensionen, und du hättest noch nicht einmal begonnen, mit der Fonduegabel an der Oberfläche der Realität zu kratzen“, mischte sich die Blaue in das Geplänkel ein und konnte die Essensreferenz nicht unterdrücken, da sie bereits den geschmolzenen Käse und den Knoblauch roch.
„Realität?“, ereiferte sich die Rote sogleich. „Unsere Realität ist nichts weiter als eine Pastiche, bestenfalls eine Persiflage und die Eindimensionalität ist die passende Metapher dafür. Wir befinden uns in einer Flatland-Analogie, vielleicht nicht physisch, doch geistig.“
Der Gelbe, der bisher geschwiegen hatte, schien ihr Argument nun endlich zu verstehen. „Du hast das Buch zwar ziemlich sicher nicht gelesen, dass du auf diese Idee kommst, aber ich denke, du willst sagen, aufgrund von prädisponierten Vorgaben einem unveränderlichen Pfad zu folgen sei eine metaphorische Form der Eindimensionalität?“
„Ihr postmodernen Theoretiker müsst aber auch jedes Wort in eurer Philosophie umdefinieren, was?“, lachte die Blaue amüsiert und mehr als nur ein bisschen von dem Gedanken an das Fondue abgelenkt. Nichtsdestotrotz konnte sie es sich nicht nehmen lassen, in einem nicht sonderlich ernsten Ton hinzuzufügen: „Wieso könnt ihr nicht einfach akzeptieren, dass Schicksal eine bedeutungslose Kausalverkettung von Zufällen ist, die wiederum ein Schicksalsprodukt mit einer inhärenten Zufallskette sind?“
„Und täglich grüßt der Schmetterling“, kommentierte der Grüne trocken. Aus Rücksicht darauf, dass einer seiner mehr oder minder gebildeten Kameraden seine Anspielung nichtsdestotrotz nicht verstehen würde, gab er ihnen etwas mehr: „Ihr wisst schon, der Flügelschlag eines …“
„Jaja, wir alle kennen das Gebiet der Chaostheorie“, unterbrach ihn die Rote, die schon seit einer geschlagenen Minute so ausgesehen hatte, als würde sie gleich vor lauter Mitteilungsbedürfnis platzen. „Die Eindimensionalität kann hier appliziert werden, sofern die Metapher dekonstruiert wird – macht doch Sinn! Es funktioniert sehr wohl, aber wie immer nur, wenn man es dekonstruiert.“
„Und hast du nicht die Diskursanalyse einzubauen vergessen?“, feixte die Blaue.
„Nein, das Kartenmischen ist ein Zufallsgenerator, dem Schicksal wird also eine weitere Dimension hinzugefügt“, widersprach der Gelbe zugleich. „Wenn wir also bei dieser dummen PoMo-Metapher bleiben, können wir sogar den Zufall im Schicksal behaupten, das muss mindestens eine Dimension wert sein, Leute!“
„Wir können ohne zugrundeliegendes naturwissenschaftliches Theorem nur so viele Dimensionen beschreiben, wie wir wahrnehmen, weniger sind Abstraktion und mehr Spekulation. Versuch mal ein fünf-, oder sechsdimensionales kartesisches Koordinatensystem dazustellen, du stößt sehr schnell an Grenzen.“
Nun war es für den Gelben an der Zeit, sich für eine Überzeugungen einzusetzen. „Weil du das falsche Modell verwendest! In der Programmierung sind n-dimensionale Arrays längst leicht umzusetzen: Du steckst so lange Reihen aus Variablen in andere Reihen aus Variablen, bis du beispielsweise ein siebendimensionales Gebilde hast. Null Problemo!“
„Okay, so langsam aber sicher verliere ich den Faden“, beschwerte sich der Grüne. „Was hat dein Modell aus der IT damit zu tun, ob unsere Existenz im Candyland flach und bedeutungslos ist?“
„Ich schäme mich für euch“, seufzte die Blaue. „Wir haben einen Weg, ein Ziel und nur eine Möglichkeit, wie alles ablaufen kann. Der Crux ist doch, dass man den Spaß daraus zieht, nicht zu wissen, wie der Zufall entscheidet. Was regt ihr euch darüber auf, ausnahmsweise mal keine Verantwortung zu haben, euch einfach bloß zurückzulehnen und den Ausflug zu genießen? Das nennt man Hingabe.“
Die Rote gab ein Schnauben von sich. „Wenn du so weitermachst, können wir gleich epistemologisch diskutieren, immer eine Ebene tiefer gehen …“
„… bis wir erkennen, dass es keine Erkenntnis gibt“, unterbrach sie der Grüne grinsend und sie begann sogleich sichtlich zu schmollen. Der Gelbe lenkte sie zum Glück ab, indem er konstatierte: „Wir kommen nicht weiter, weil wir mal wieder in einer von unseren aussichtslosen Debatten gelandet sind.“
„Könnte vielleicht am Schnaps liegen“, bemerkte die Blaue nachdenklich. „Soweit ich mich entsinne, hätten wir den eigentlich nach dem Fondue trinken sollen und nicht vorher. Es würde auch erklären, wieso die Hälfte von dem, was wir sagen, keinen Sinn ergibt.“
„Leute, Leute, echt jetzt – Homer würde sich im Grab umdrehen, so wie wir hier pseudo-theoretisieren“, beendete der Gelbe die Debatte.
Unmittelbar, so schnell wie nur möglich, flüsterte die Rote: „Falls er denn überhaupt existiert hat.“
Die Blaue schlug so heftig auf den Tisch, dass sie alle in die Höhe sprangen und umkippten. „Und ich habe verdammt nochmal Hunger, können wir also bitte endlich das Fondue essen und das dämliche Spiel wegpacken?“
„Reg dich ab, blaue Birgit“, gluckste der gelbe Gabriel, hob seine umgekippte Spielfigur hoch und verstaute sie.
Der grüne Georg und die rote Rita taten es ihm gleich, legten das Spielbrett beiseite und Birgit schloss die Schachtel. „So, endlich essen!“
„Die blaue Birgit ist wirklich ein verfressenes Wesen“, kommentierte Gabriel amüsiert, wurde jedoch sogleich von Georg zurechtgewiesen: „Du kennst die Regeln, Mann: Keine Farben, wenn die Figuren in der Box sind!“
„Ups, stimmt – sorry“, kicherte er und schnappte sich seine Fonduegabel. „Wir sind ja wieder Menschen.“
Rita stellte eben eine Glasflasche auf den Tisch. „Und das ist gut so, ihr Banausen. Eines Tages werde ich euch den Hintern weg-dekonstruieren, versprochen!“
„Wieso nehmen wir nur eine Soziologin mit in unsere interdisziplinären Skiferien?“, beschwerte sich Gabriel mit gespielter Verzweiflung. Rita grinste ihn frech an und gab ihm einen Kuss auf die Wange, bevor sie sich auf den Stuhl neben ihm fallen ließ. „Weil wir verlobt sind?“
Georg zuckte mit den Schultern. „Dass ihr euch bei eines unserer Candyland-Philosophierunden überhaupt erst getroffen habt, müsste man noch hinzufügen. Dabei ginge es doch bei der Sache darum, sich gegenseitig den Kopf abzureißen und nicht, Nachwuchs zu produzieren.“
„Mir reicht’s, ich esse jetzt!“, erklärte Birgit überzeugt, spießte sich ein Stückchen Brot auf und tunkte es in den geschmolzenen Käse. Das Streitgespräch war noch lange beendet, aber so lange das Spielbrett nicht auf dem Tisch stand und sich die Figuren nicht bewegten, sondern in ihren Katakomben aus Karton ruhten, herrschte Frieden. Tradition musste sein.

Autorin: Sarah
Setting: Candyland
Clues: Eindimensionalität, Fonduegabel, Zufallsgenerator, Glasflasche, Homer
Für Setting und einige der Clues zu dieser Story bedanken wir uns bei chunkie und Nicole. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

2 Gedanken zu „Täglich grüßt der Schmetterling“

  1. oh, ich habe gedacht, dass ich hier gerade eine hoch wissenschaftliche Abhandlung gelesen habe, aber irgendwie fasziniert mich das hier gerade sehr. Mal eine ganz andere Art zu schreiben. Ich lass mich gern mal von anderen Autoren überraschen. lg ~Dark Raven

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