Die Weberin

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Der Wecker erinnerte sie daran, vom Webstuhl aufzustehen, Tee aufzusetzen und den Hund zu füttern. Saoirse verlor sich oft in ihrer Arbeit, sie mochte die Monotonie des Webens, das gleichförmige Kata-katscha, Kata-katscha und die stets selbe Tretbewegung. Sie war in Irland aufgewachsen, hatte bereits ihrer Großmutter beim Herstellen von Tweed zugesehen, dennoch nie damit gerechnet, dass sich ihre Tage irgendwann ebenfalls um den Stoff drehen. Irvin, der alte Wolfshund, trottete ihr hinterher und wartete geduldig vor der Küche, während sie seinen Napf mit Dosenfleisch füllte.
„Ist was Feines“, meinte sie ihren schlingenden Freund beobachtend. „Ay, bremse dich. Vor dem Frühling kommt Olaf nicht wieder.“ Als Mädchen hatte sich Saoirse vorgestellt, zur waschechten Städterin heranzuwachsen und tatsächlich war sie direkt nach ihrem Schulabschluss in eine Metropole gezogen. Überhaupt war es ihr gelungen, all ihre Teenagerträumereien in die Tat umzusetzen, entgegen dem, was ihre Eltern und Lehrer ihr zugetraut hatten. Aber, wie es mit jugendlichen Fantasien ist, musste sie mit Enttäuschung feststellen, wie stark sich die Wahrheit von ihren Schwärmereien vom Stadtleben unterschied. „Na, komm.“ Lächelnd stellte sie Irvins Mittagessen auf die Fliesen, strich sich ein Butterbrot und setzte sich damit vor dem Schwedenofen auf die Couch. Einige wandern der Liebe wegen aus, oder es ist die Lust auf ein Abenteuer, die sie in die Ferne lockt. Für viele wiederum ist ein Umzug ins Ungewisse die einzige Chance, aus einer unmöglichen Situation zu entkommen. Gute Gründe, die Heimat zu verlassen und sein Glück an einem fremden Flecken Erde zu versuchen. Saoirses Motivation, ihre Siebensachen in den alten Volvo zu packen und alles hinter sich zu lassen, war und blieb eine andere: Sie hatte schlicht und ergreifend die Schnauze voll von Menschen. Der Winter schaute zum Fenster rein, eine dicke Schneeschicht, verweht von einer bissigen Böe, zeichnete Muster auf die Landschaft. Filigrane Streifen reichten bis zum Klippenrand. Vor einigen Jahren war sie hierhin gekommen und hatte sich im hohen Norden neben dem ausgemusterten Leuchtturm eine Blockhütte bauen lassen. Ihr Heim war einfach, geradezu winzig, doch entsprach es der Realität, die zu ihr passte. Zwanzig Minuten Fußmarsch lagen zwischen Saoirse und ihren Nachbarn, gute vierzig bis in die nächste Ortschaft, über drei Kilometer zwischen ihr und diesen hirnverbrannten Primaten, die die Welt zu Grunde richteten. Lediglich Olaf besuchte sie in den Sommermonaten, um ihr Lebensmittel und Garn zu bringen, die fertigen Stoffrollen mitzunehmen und ihr bei einem Schluck Tee die Laune zu verderben. Nun hatte sie ihre Ruhe, die Straße war seit zwei Wochen zugeschneit und bei diesem Wetter flog nicht mal ein Hubschrauber hoch. Die Vorratskammer war zum Bersten gefüllt, sodass die die übrigen Lebensmittel im Schlaf- und Wohnzimmer lagern musste. Zu lange hatte es gedauert, bis sie von ihrer Vorstellung, eine gesellige Karrierefrau sein zu wollen, Abschied nehmen konnte, um heute noch an ihrer Einsamkeit zu zweifeln. Dieses Häuschen an der Kante zum Arktischen Ozean gab ihr alles, was sie begehrte.

Heftiges Klopfen übertönte das Kata-katscha des Webstuhls und Saoirse hielt erschrocken inne. „Einen Moment“, murrte sie, stieg von den Pedalen, schwang die Beine über die Sitzbank und erhob sich. Eine Weile stand sie unschlüssig im Webzimmer und lauschte dem Hämmern. „Einen Moment“, wiederholte sie und strich sich die Wollflusen von den Kleidern, bevor sie zur Hintertür schritt. Nur eine Wolke zog über den Himmel, trotzdem leuchtete der Nachmittag in grauer Tristesse. „Olaf, bist du das?“, rief sie in den heranziehenden Sturm hinaus.
„Hjelp, Hjelp, vær så snill, Hjelp“, krächzte jemand auf der anderen Seite des Hauses in gebrochenem Norwegisch. „Hjelp.“
Saoirse legte ihre Schürze ab, trat hinaus und schlurfte leise fluchend auf die Stimme zu.
„Hjelp“, plärrte das Häufchen Elend, das auf ihrer Veranda auf die Knie gefallen war. Er trug eine zerfetzte Daunenjacke und hatte sich einen Schlafsack um die Schultern gelegt. „Hjelp!“
„Ja, ja, schon gut. Jetzt mach nicht so einen Lärm“, beschwerte sie sich und seufzte tief, als der Unbekannte den Kopf hob und sie erst verwirrt, dann freudestrahlend ansah. „Oh Gott, oh Gott, danke! Hier ist jemand, Sie sind hier.“ Sein Gesicht war verbrannt, einzig um die Augenpartie war in einem Sonnenbrillenmuster seine eigentliche Hautfarbe zu erkennen. Auf allen Vieren kroch er bis zur Treppe, rappelte sich auf und fiel ihr weinend in die Arme. Er wog weniger als ihr Wolfshund, zitterte unkontrolliert und nuschelte Unverständliches zwischen den Schluchzern. Schmutzig war er, roch wie ein Pissoir und ging ihr augenblicklich auf die Nerven.
„Okay, okay“, klönte sie den dürren Mann von sich schiebend. „Ist ja okay.“ Irvin linste angespannt aus dem Küchenfenster, dazu bereit, sein Frauchen zu verteidigen. „Ist ja okay“, sagte sie abermals und bugsierte den anderen zurück auf die Veranda. „Hast du dich verlaufen?“
„Ich … Ja, ich … Mein Navigationsgerät ist … Es ist … Ich dachte, ich würde da draußen sterben“, heulte er auf und versuchte erneut, sie zu umarmen. Dieses Mal war Saoirse schneller, wich ihm aus und bedeutete ihm, sich auf die Bank zu setzen.
„Okay, ist ja okay“, beschwichtigte sie den Fremdling demotiviert. „Ich lass dich gleich rein, dann kannst du dich erstmal aufwärmen und was anständiges essen.“ Da bellte Irvin wie aufs Kommando. „Warte hier, ich sperre den Hund weg, sonst frisst er dich.“
„Ja … ja“, machte der Mann und sank in sich zusammen. „Ja. Danke, oh, danke, danke, danke.“
„Ist ja gut, beruhige dich.“ Ächzend ging sie hinein und stakste an Irvin vorbei ins Wohnzimmer. Es bereitete ihr Kopfzerbrechen, wie es diesen dummen Wandertouristen immer wieder passieren konnte, verlorenzugehen. „Wie schwierig ist es, in Richtung Süden zu marschieren?“, brummte sie verärgert und packte ihre Flinte, die sie sich zur Verteidigung gegen Wildtiere zugelegt hatte. Er kam sechzehn Tage zu spät, Olaf hätte ihn ihr bestimmt gerne abgenommen. „Na, Irvin, sieht so aus, als gäbe es Frischfleisch zum Abendessen.“

Autorin: Rahel
Setting: Im hohen Norden
Clues: Schwedenofen, Wolke, Pissoir, Kopfzerbrechen, Siebensachen
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